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Die Einschläge kommen näher

Physik. - Existiert es nun oder existiert es nicht – das verflixte Higgs-Teilchen? Das fragen sich die Physiker nun seit zwei Jahren, seit sie am Cern in Genf den größten Beschleuniger aller Zeiten in Betrieb genommen haben. Für die Physik ist das Teilchen so wichtig, weil es letztlich erklären soll, warum es auf der Welt überhaupt Masse gibt, warum die Dinge um uns herum also etwas wiegen.

Von Frank Grotelüschen | 01.03.2012
    "Man spürt das schon unter den Physikern, dass was in der Luft liegt!"

    Arnulf Quadt, Physikprofessor in Göttingen, ist nur einer von weltweit 5000 Teilchenforschern, die in diesen Wochen ziemlich aufgeregt sind. Zwar schlummert ihr Arbeitspferd – der Riesenbeschleuniger LHC – seit Dezember im Winterschlaf. Grund ist eine routinemäßige Wartungsphase. Dennoch sind die Experten in der Zwischenzeit ein gutes Stück weitergekommen: Sie haben die enormen Datenmengen, die der LHC seit 2010 geliefert hat, fast vollständig analysiert – so wie Archäologen, die zwar keine neue Scherben gefunden, aber die vorhandenen Bruchstücke nun komplett zusammengesetzt haben. Das Ergebnis: Die Indizien des letzten Jahres haben sich erhärtet. Das Higgs – mit großer Wahrscheinlichkeit existiert es.

    "Die Wahrscheinlichkeit, dass es kein Higgs-Teilchen gibt und das nur statistische Fluktuationen sind, liegt in der Größenordnung ein Prozent."

    Die Experten können sich also zu 99 Prozent sicher sein, das Higgs-Teilchen tatsächlich aufgespürt zu haben. 99 Prozent – das klingt überzeugend, ist es aber nicht, denn, so Quadt:

    "Es ist noch nicht ausreichend signifikant, um die Sektkorken knallen zu lassen."

    Denn erst wenn sich die Physiker zu 99,99999 Prozent sicher sind, dass hinter einem Signal in den Messdaten das Higgs steckt und nicht der reine Zufall, wollen sie von einer Entdeckung sprechen. Dafür aber brauchen die Forscher schlicht mehr Messdaten. Und die sollen sie bekommen.

    "Es ist vor zehn Tagen beschlossen worden, dass der Large Hadron Collider demnächst wieder anlaufen wird mit einer etwas erhöhten Energie, mit acht statt sieben Tera-Elektronenvolt. Durch diese kleine Erhöhung kommt es bei den Kollisionen zu einer höheren Produktionswahrscheinlichkeit von Higgs-Bosonen. Und das würde dann ausreichen, wenn ein Higgs-Teilchen existiert, das im Laufe dieses Jahres zu finden. Wahrscheinlich im Frühsommer, Sommer."

    Die Energie, von der Quadt spricht, steht für die Wucht, mit der der LHC Wasserstoffkerne aufeinanderschießt. Je höher diese Wucht, umso größer die Chance, dass bei den Kollisionen ein Higgs entsteht. Nach seiner Erzeugung zerplatzt dieses Higgs gleich wieder in zahllose Bruchstücke. Nur diese Bruchstücke können die Physiker dann mit riesigen Detektoren auffangen und vermessen. Anschließend stehen sie bildlich gesprochen vor der Aufgabe, die Bruchstücke wieder zusammenzusetzen. Und genau das macht die Suche nach dem Higgs so schwierig. Was aber passiert für den unwahrscheinlichen, aber durchaus möglichen Fall, dass Quadt und seine Leute das Higgs doch nicht finden, weil es gar nicht existiert?

    "Dann müsste man ganze Teilbereiche unserer Theorie neu schreiben!"

    Klingt frustrierend, wäre für die Physiker aber hochinteressant. Dann nämlich wäre klar, dass ihr derzeitiges Theoriegebäude – das sogenannte Standardmodell – nicht etwa der Weisheit letzter Schluss ist. Stattdessen müsste es eine noch größere, noch umfassendere Theorie geben – der Traum vieler Theoretiker. Quadt:

    "Dieser Ausschluss wäre eine mindestens genauso große Entdeckung. Denn das würde bedeuten, dass wir nicht den letzten Puzzlestein im Standardmodell gefunden hätten, sondern dass wir das erste starke Anzeichen für Physik jenseits des Standardmodells gefunden hätten."

    So gesehen können die Physiker in den nächsten Monaten nur gewinnen: Entweder sie finden das Higgs, und der LHC hätte seine Mission erfüllt. Oder sie finden das Higgs nicht – und hätten dann den ersten ernsthaften Fingerzeig auf eine neue Supertheorie.