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"Die einzige Chance, die wir haben ist, dass wir auf mehr Energieeffizienz setzen"

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) hält es nach wie vor für realistisch, die Neuverschuldung des Bundes bis 2011 auf Null zurückzuführen. Über das Ausmaß einer Senkung der Arbeitslosenversicherung müsse mit dem Koalitionspartner entschieden werden; eine Entlastung bei den Energiepreisen hält Steinbrück angesichts des hochvolatilen Energiemarktes aus staatlicher Sicht dagegen nicht für machbar.

Peer Steinbrück im Gespräch mit Gerhard Irmler | 14.09.2008
    Gerhard Irmler: Herr Steinbrück, in der kommenden Woche berät der Deutsche Bundestag über den Haushalt 2009. Unterstützung für Ihren Kurs der Haushaltssanierung erhalten Sie vorzugsweise von der Kanzlerin, aber auch aus Brüssel von der EU-Kommission, nicht immer aus Ihrer eigenen Partei. Auch in der CDU ist man sich uneinig. Während die Finanz- und Haushaltspolitiker der CDU einen noch stärkeren Schuldenabbau fordern, wollen andere, dass Sie die Steuern senken. Und die CSU unterstützt ja nun in gar keiner Weise. Glauben Sie denn, dass der Haushalt so durchgeht, wie Sie ihn eingebracht haben im Bundestag?

    Peer Steinbrück: Ja, weil dieser Haushalt in der Fortsetzung dessen, was die Koalition zu Beginn dieser Legislatur beschlossen hat und zu einer Art Markenzeichen, geworden ist. Wir sind sehr erfolgreich in der Konsolidierung des Bundeshaushalts vorangeschritten, und jede Unterbrechung dieses Pfades, jede Infragestellung würde diesen Kompetenzausweis der Bundesregierung insgesamt in Frage stellen. Ich bin ganz sicher, dass niemand der maßgebenden Personen innerhalb der Bundesregierung und innerhalb der Koalitionsfraktion das will.

    Irmler: Nun gilt aber auch das 'Struck'sche Gesetz', des SPD-Fraktionsvorsitzenden, nach dem kein Gesetz aus dem Bundestag so herausgeht, wie es hineingekommen ist. Erwägen Sie die Möglichkeit nicht doch, dass man die eine oder andere Stellschrauben noch verändert, denn schließlich müssen Sie auch mit größeren Haushaltsrisiken rechnen?

    Steinbrück: Das stelle ich ja gar nicht infrage, zumal das Budgetrecht des Parlamentes ja anzuerkennen und zu respektieren ist. Und das bedeutet, dass es selbstverständlich Aufgabe und Kompetenzbefugnis des Deutschen Bundestages ist, Änderungen vorzunehmen. Aber dies wird nicht zu einer Infragestellung der Kernziffern dieses Haushaltes führen. Ich bin mir ganz sicher, dass niemand eine Strategie verfolgt, die Kreditaufnahme zum Beispiel über das auszudehnen, was die Bundesregierung vorschlägt.

    Irmler: Kennziffern des Bundeshaushaltes 2009 sind: Die Ausgaben steigen um 1,8 Prozent, die Neuverschuldung ist mit 10,5 Milliarden auf dem niedrigsten Stand seit 1989 - das betonen Sie auch immer wieder. Andererseits beträgt ja die gesamtstaatliche Verschuldung in Deutschland 1,5 Billionen. Allein der Bund ist mit über 900 Milliarden dabei. Nun gibt es Kritik, dass Sie den Haushalt nicht schnell genug sanieren. Es gibt sogar Politiker aus der Opposition, die Ihnen den Vorwurf machen, Sie hätten vielen Wünschen allzu bereitwillig nachgegeben.

    Steinbrück: Das ist das gute Recht jeder Opposition, zu sagen "das geht nicht schnell, das geht nicht weit genug". Ich habe dem immer eine andere Haushaltsstrategie des Bundes entgegen gesetzt, die da lautet: Wir müssen auf der einen Seite konsolidieren, aber das schließt nicht aus, auf der anderen Seite Impulse zu geben für Wachstum und Beschäftigung, für die Zukunftsfelder, von denen die Entwicklung dieses Landes in der langen Perspektive der nächsten Jahrzehnte abhängig ist. Das heißt, ich bin immer bereit gewesen, für Kinderbetreuung mehr Geld auszugeben oder Frau Schavan zu helfen und anderen Ressorts zu helfen, dass Forschung und Entwicklung deutlich ausgeweitet werden, oder Herrn Tiefensee mit Blick auf die Infrastruktur, oder mit Blick auf das, was man in der Bundeszuständigkeit unter Bildung subsumieren kann. Wir sind in etwa zu einem Verhältnis gekommen, dass zwei Drittel der Spielräume, die wir auch über die gute Konjunktur und die Steuereinnahmen bekommen haben, in die Konsolidierung des Haushaltes hineingehen und ein Drittel in diese Zukunftsfelder - bis hin zu einem deutlichen Ausbau der Entwicklungshilfe, um auch den internationalen Verpflichtungen Rechnung zu tragen.

    Irmler: Im Vorfeld der Haushaltsaufstellung hatten Sie angekündigt, dass die gesamten familienpolitischen Maßnahmen einer Effizienzkontrolle unterzogen werden sollen - wir reden, glaube ich, hier von 184 Milliarden Euro insgesamt.
    Was ist denn daraus geworden?

    Steinbrück: Ich gebe kritisch zu, das reicht mir nicht und richtet sich gegen die beteiligten Ressorts. Ich beziehe mein eigenes Ressort da ein. Nach wie vor gibt es sehr stark die Neigung in der Politik, allein die Höherdotierung eines Haushaltstitels als Erfolg zu sehen, und nicht die Frage zu beantworten: Was habe ich damit bewirkt? Was ist dabei herausgekommen? Oder komplizierter und technokratischer ausgedrückt: Die Politik ist dort sehr input-orientiert. Alle ziehen die Fahnen hoch, wenn sie fünf oder sechs Prozent mehr gekriegt haben für den Bereich, den sie vertreten. Aber ob denn auch fünf oder sechs oder vielleicht 15 Prozent dabei mehr herausgekommen ist für die Menschen oder für die Zwecke, die man dabei verfolgt, wird in einer Wirkungsanalyse meistens nicht beantwortet. Und das gilt auch für die Familienpolitik in Deutschland.

    Irmler: Müsste man denn im Gegenzug nicht auch den Etat des Arbeits- und Sozialministers genauer unter die Lupe nehmen und auch diesen Etat einer Effizienzkontrolle unterziehen? Es ist schließlich der größte Brocken im Bundeshaushalt. Es gibt ja Kritik aus den Reihen der CDU, dass sehr viele arbeitspolitische Maßnahmen ineffizient seien und es viel zu viele gäbe und dass viele Maßnahmen ihre Wirkung gar nicht entfalteten.

    Steinbrück: Ich schließe gar keinen Haushalt aus. Das kann ich auch gar nicht, weil ich nicht blind sein kann für jemanden, der von der Union ein Ressort zu vertreten hat oder von der SPD. Bezogen auf dieses arbeitsmarktpolitische Instrumentarium laufen allerdings bereits Maßnahmen - inwieweit diese konzentriert, auch vereinfacht werden können.

    Irmler: Halten Sie eigentlich daran fest, den Etat bis 2011 auszugleichen, die Neuverschuldung auf Null zurückzuführen?

    Steinbrück: Ja, definitiv. Das Ziel werde ich nicht aus den Augen verlieren, ich halte es für realistisch. Wir haben bisher bewiesen, dass wir auf dem Weg dort hin exakt die Zahlen eingehalten haben, die wir angekündigt haben. Wir werden 2012 auch einen strukturell ausgeglichenen Haushalt anstreben, das heißt auch unter Berücksichtigung der Einmaleffekte, also von Vermögensveräußerungen und dergleichen, die bisher ja immer mit eingerechnet werden.

    Irmler: Was erwarten Sie eigentlich von die Bahnprivatisierung? Wie viele Milliarden erwarten Sie da für die Staatskasse?

    Steinbrück: Das ist Kaffeesatzleserei. Ich glaube, dass die 24,9 Prozent der Bahn gut platziert werden können. Es wird Investoren und Interessenten geben, die an einer regelmäßigen und guten Rendite interessiert sind, die nicht übermäßig hoch ist, aber sehr risikoresistent. Nach dem Motto: Das ist eine sehr solide Anlage, von der ich weiß, dass sie langfristig stetig mir eine Rendite abwirft. Wir alle wissen, dass die damit verbundenen Einnahmen zu einem gewissen Teil für die Bahn verwendet werden sollen, zu einem gewissen Teil - ein Drittel - auch dem Bundeshaushalt zufließen sollen.

    Irmler: Und was ist mit der Mauterhöhung für LKW ? Erwarten Sie da große Summen?

    Steinbrück: Da erwarten wir ungefähr Einnahmen von knapp einer Milliarde Euro. Diese fließen vollständig, zu hundert Prozent - anders als manches Verdachtselement ausweist - dem Haushalt meines Kollegen Tiefensee zu und gehen in die Infrastrukturinvestition. Davon behalte ich nichts, über diesen Anteil saniert sich der Bundeshaushalt nicht - um diesem Gerücht entgegen zu wirken.

    Irmler: Bei der mündlichen Anhörung zur Pendlerpauschale vor dem Bundesverfassungsgericht vergangene Woche haben die Richter klar gemacht, dass es ihnen nicht um die Frage einer gerechten oder ungerechten Steuerpolitik geht, sondern darum, die Verfassungsmäßigkeit dieser Pendlerpauschale zu prüfen. Nun hat man in Deutschland manchmal den Eindruck, dass es sich aus Sicht der Betroffenen und aus Sicht vieler Bürger um eine Art Grundrecht handelt. Sie haben immer dagegen argumentiert. Sie müssen aber damit rechnen, dass das Verfassungsgericht die Entscheidung kippt, die Pendlerpauschale erst ab dem 21. Kilometer zu gewähren. Haben Sie Ihre Experten mal ausrechnen lassen, wo Sie anderswo die 2,5 Milliarden her kriegen, die Ihnen dann fehlen werden?

    Steinbrück: Es gibt überhaupt keine Indizien, mich ausschließlich auf ein Negativszenario zu kaprizieren. Für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht - mit allem Respekt ist das dann zur Kenntnis zu nehmen - zu einem anderen Ergebnis kommt, fehlen 2,6 Milliarden. Und zwar nicht nur dem Bund, sondern den Ländern und den Kommunen auch, die sind beteiligt. Das bedeutet, dass automatisch sich die Frage erstellt: Erhöhen wir dann die Staatsverschuldung wieder um 2,6 Milliarden Euro, oder ziehen wir das Geld aus anderen Zwecken ab, die wir aber für viel wichtiger halten, zum Beispiel Bildung auf der Länderebene oder Infrastruktur, Forschung und Entwicklung, Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen durch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Das muss ja beantwortet werden. Diejenigen, die heiße Plädoyers für die Wiedereinführung der Entfernungspauschale halten, beantworten diese Frage nicht und sagen: "Der Steinbrück hat doch mehr Steuereinnahmen". Die Antwort lautet: Erstens macht der Bund nach wie vor Schulden. Und zweitens: Das Aufkommen aus der Energiebesteuerung steigt nicht in Deutschland, es sinkt. Ich habe nicht mehr Spielräume.

    Irmler: Nun kann man natürlich die besten Argumente haben, Sie müssen als Finanzminister aber auch mit politischen Stimmungen rechnen. Wäre es nicht möglich, dass man die Menschen , was Energiepreise angeht, nicht etwas entlastet?

    Steinbrück: Wie soll ich das machen? Also, wir haben einen Höchstpreis gehabt beim Rohöl von 147,- US-Dollar. Da war der Erregungszustand in Deutschland auf 8000 Umdrehungen. Seit wenigen Tagen ist der Rohölpreis runtergegangen von 147 auf 100 Dollar. Nehmen wir mal an, ich hätte bei 147 angefangen, zu subventionieren und innerhalb von vier Wochen ist der Ölpreis wieder runter auf 100. Soll ich die Subvention jetzt wieder zurücknehmen. Wie soll ich denn auf hochvolatile weltweit beeinflusste Energiepreise staatlich reagieren? Wenn ich bei einem Ölpreis von 147 anfange Bonbons zu verteilen, nach dem Motto, da gebe ich euch ein bisschen was, damit es Entlastung gibt und dass ihr nicht so sauer seid auf den bösen Finanzminister, was mache ich denn, wenn der Rohöl-Preis mal bei 180 ist, bei 190 Dollar liegt? Das wird doch uferlos. Ist es da nicht sinnvoller, den Menschen offen und ehrlich zu sagen, stellt euch darauf ein, vor dem Hintergrund weltweiter Entwicklungen, im Trend werden die Energiepreise steigen. Die einzige Chance, die wir haben ist, dass wir auf mehr Energieeffizienz setzen. Nehmt die Möglichkeiten wahr, Gebäude zu sanieren. Ändert euer Verhalten. Kauft euch das nächste Mal ein Auto, gebraucht oder auch neu, wenn ihr könnt, das nicht 8,5 Liter sondern 5,5 Liter verbraucht. Investiert als Hersteller, als Dienstleister in Bereiche, die zu einer höheren Energieeffizienz führen. Wir müssen investieren in jedwede Innovation von Produkten und Prozessen, die uns unabhängiger machen von Energieimporten. Das ist die strukturell richtige Antwort.

    Irmler: Was halten Sie eigentlich von der Subventionierung von Kühlschränken, wie eine Arbeitsgruppe im Wirtschaftsministerium das vorgeschlagen hat?

    Steinbrück: Gar nichts. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, der Politik, irgendwelche Konsumartikel zu subventionieren. Die Eisschrankhersteller sollen in einen Wettbewerb gebracht werden und dem Bürger sagen, ich habe den energiefreundlichsten Eisschrank gegenüber meinen Konkurrenten. Und damit sollen sie Reklame machen, dann kaufe ich das Ding.

    Irmler: In keineswegs trockenen Tüchern, Herr Steinbrück, ist die Erbschaftssteuerreform. Es geht um sehr schwierige Fragen, Abgrenzungsfragen zwischen Privatvermögen und Betriebsvermögen. Es gibt Haltefristen, es gibt Lohnsummenprobleme, das heißt, wenn jemand einen Betrieb erbt, dann muss er ihn 15 Jahre lang so weiterführen, wie der Betrieb vorher war. Die Wirtschaft läuft dagegen Sturm. Die CSU will dieses Gesetz, diese Reform blockieren. Wo stehen Sie denn damit im Moment? Die Zeit drängt ja, wenn Sie bis jetzt Ende Herbst keine Einigung haben, dann wird es ab 1. Januar keine Erbschaftssteuer geben.

    Steinbrück: Ich glaube, dass das ein weiteres Thema ist, wo die Erregungszustände in einem Missverhältnis zu den tatsächlichen Problemen stehen. Wir hätten nicht nur nach meinem Eindruck, sondern auch nach dem Eindruck des einen oder anderen CDU-Partners, vor der Sommerpause längst eine Einigung haben können. Diese kam nicht zustande wegen des magischen Datums Landtagswahlen in Bayern. Das ist der einzige Grund, warum wir bisher nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sind. Es gibt vielleicht noch fünf, sechs Schwerpunkte, die politisch geklärt werden müssen. Ich halte sie aber alle für klärungsfähig. Und im übrigen sage ich gegenüber manchem Kritiker aus der Wirtschaft: Das, was sie mit dieser Erbschaftssteuer bekommen, ist ein Privileg, das sie vorher nie gehabt haben. 85 Prozent der Vererbung des Betriebsvermögens wird erbschaftssteuerfrei gestellt. Das hat es in Deutschland noch nie gegeben. Einen Wegfall der Erbschaftssteuer halte ich auch unter Verteilungs- und Gerechtigkeitsgesichtspunkten für nicht vertretbar.

    Irmler: Noch mal: ihre Prognose.

    Steinbrück: Es wird zu einer Einigung kommen. Alles andere, machen wir uns nichts vor, würde diese Koalition tief erschüttern. Die einschlägigen Zusagen, insbesondere der Bundeskanzlerin, auch des CDU-Fraktionsvorsitzenden, sind für die SPD eine Bank. Das wäre ein tiefer Vertrauensverlust, wenn diese mehrfach gegebenen Zusagen, auch in Koalitionsausschüssen, nicht eingelöst werden würden.

    Irmler: Mit einem Zehn-Punkte-Papier, Herr Steinbrück, will die Union die sogenannte Mitte bedienen und hat dabei den Wahltermin im nächsten Jahr fest im Auge. Es handelt sich um ein milliardenschweres Entlastungspaket, darunter eine Senkung des Arbeitslosenbeitrages von derzeit 3,3 auf 2,8 Prozent. Ich frage Sie jetzt als stellvertretender SPD-Parteivorsitzender: Was halten Sie von diesem Konzept?

    Steinbrück: Wenn man eine Einigung mit einem Partner erzielen will, dann sondiert man so etwas am besten erst einmal mit dem Partner, bevor man damit an die Öffentlichkeit geht. Dieses Vorgehen macht eine Einigung auf bestimmte Punkte nicht leichter, sondern schwerer. Im Koalitionsausschuss haben wir längst darüber geredet, dass wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag vielleicht weiter absenken. Aber wir haben nicht darüber geredet, wie weit. Wenn jetzt jemand eine Zahl in die Debatte wirft, dann muss er wissen, die ist Gegenstand von bevorstehenden Verhandlungen. Dasselbe gilt für den Bereich der Familienleistungen, also Stichwort Existenzminimumbericht für Kinder. Was heißt das für die Kinderfreibeträge, was bedeutet dies für das Kindergeld? Wir haben uns noch nicht präzise festgelegt, auf wie viel und wie das Ganze konzeptionell ausgerichtet werden soll. Die SPD hat dazu eigene Vorschläge. Jedes Kind sollte gleich viel wert sein. Die SPD wird mit einem Kindergrundfreibetrag operieren, der das Kind des Rechtsanwaltes genau so stellt wie das einer allein erziehenden Verkäuferin.

    Irmler: Die vorgeschlagene Senkung des Arbeitslosenbeitrages von 3,3 auf 2,8 müssten Sie doch begrüßen. Schließlich waren Sie es, der ein Konzept vorgelegt hat, das vorsieht, die Menschen sehr viel stärker von den Sozialbeiträgen zu entlasten, im Gegensatz zu Forderungen aus der Union und auch aus der FDP, die Steuern zu senken.

    Steinbrück: Die SPD ist maßgeblicher Treiber gewesen, dass wir vom Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 6,5 auf 3,3 heruntergekommen sind, was übrigens eine Entlastung von über 25 Milliarden Euro für Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet. Die Frage ist allerdings, wie weit kann man den Arbeitslosenversicherungsbeitrag weiter absenken, ohne die Arbeitsfähigkeit der Bundesagentur zu torpedieren. Ich will nicht wieder in die Verlegenheit kommen, dass die Bundesagentur eines Tages keine Reserven mehr hat. Ich möchte, dass sie ihre eigenen Pensionsrückstellungen vornehmen kann und ich möchte, dass sie ihr arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium dotiert bekommt, damit sie wirken kann im Sinne der Vermittlung, insbesondere von Arbeitslosen. Das sind Kriterien, die ich mit berücksichtigen möchte, wenn wir darüber reden, wie weit der Arbeitslosenversicherungsbeitrag weiter sinken soll.

    Irmler: Die neue SPD-Führung, Herr Steinbrück, hat angekündigt, die Mitte der Wählerschaft ebenfalls erobern zu wollen. Offensichtlich will die neue Führung weg von der von Kurt Beck eingeleiteten Öffnung nach links. Nun haben die Agenda-Politiker wieder die Macht in der SPD übernommen, wie die Presse schreibt. Das muss Sie doch sehr freuen.

    Steinbrück: Ich halte diese Bilder für nicht zutreffend, weder in der Entwicklungsgeschichte noch in der jetzigen Zuspitzung. Franz Müntefering weist völlig zu Recht darauf hin, Sie werden in Wahlen nicht gewählt im Rückblick, was Sie vor vier oder fünf Jahren in Gang gesetzt haben, sondern Sie werden gewählt oder nicht gewählt im Vertrauen darauf, was lösen Sie für die Zukunft. Und so muss die SPD sich aufstellen. Allen ist bewusst, dass die Orientierung oder die Auseinandersetzung zwischen den Flügeln und innerhalb der Flügel die SPD erkennbar nicht voran bringt. So tragisch und so schwierig die Ereignisse des letzten Wochenendes gewesen sind, auch was persönliche Betroffenheiten betrifft, es bleibt nichts anderes übrig, als die Frage jetzt zu beantworten, wie organisieren wir uns, wie sammeln wir uns, um die bestmöglichen Chancen zu haben, die Bundestagswahl im September 2009 zu gewinnen. Das wird der tragende Gedanke sein, auch über die Art und Weise, wie wir unsere internen Debatten führen und in welchem Grad der Geschlossenheit wir nach außen versuchen, politisch Glaubwürdigkeit und Kompetenz zu gewinnen.

    Irmler: Heißt das, die SPD braucht auch eine neue Programmatik, eine neue Wirtschaftspolitik? Die SPD wird in Umfragen immer weniger als die Partei der kleinen Leute, als die Partei wahrgenommen, die sich um soziale Gerechtigkeit kümmert.

    Steinbrück: Nein. Wir brauchen eine Wahlplattform, die sich klar auf das Thema der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erstreckt, der Beschäftigungspolitik, auf eine solidarische Gesellschaft. Man kann die Frage aufwerfen, inwieweit man den sozialen Zusammenhalt dieser Gesellschaft stärker beachtet und in Politik übersetzt. Es geht um Familie und Kinder, um Bildung und eine verlässliche Außen- und Sicherheitspolitik. Ich möchte schon eine politische Kraft, die zweierlei versucht zu erfüllen. Erstens, uns wirtschaftlich in der Champions League zu halten. Es gibt einen Stolz in Deutschland darauf, dass wir das geschafft haben und jeder weiß, dass wir dort bleiben müssen, wenn wir all das bezahlen wollen, was Wohlstand und soziale Wohlfahrt ausmachen. Zweitens, die SPD muss dafür Sorge tragen, dass uns der Laden nicht um die Ohren fliegt. Wir haben es mit einer Reihe von sozialen Fliehkräften zu tun, zwischen arm und reich, alt und jung. Nicht alle Menschen, insbesondere Kinder aus schwächeren Einkommensschichten, haben gleiche Bildungschancen. Wir wissen, dass die Aufstiegsmöglichkeiten nach wie vor sehr stark davon geprägt werden, aus welchem Elternhaus man kommt, welchen Bildungshintergrund man hat. Von Chancengerechtigkeit im Zugang auf Bildung kann in Deutschland keine Rede sein. Wir brauchen aber mehr Menschen, die diesen Zugang haben, auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung.

    Irmler: Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel stöhnt inzwischen öffentlich über die große Koalition, Herr Steinbrück. Sie können sich dagegen durchaus vorstellen, dass die große Koalition weiter geführt wird. Sind Sie der letzte der Mohikaner, der die große Koalition noch verteidigt?

    Steinbrück: In dieser Betrachtung geht hier immer völlig durcheinander, was wünschenswert ist und was realistisch ist. Das, was arithmetisch herauskommt für Mehrheitsbildungen, ergibt sich im Lichte eines konkreten Wahlergebnisses, nach Lage der Dinge am 28. September 2009. Und da halte ich die Fortsetzung einer großen Koalition für eine Variante, die dabei herauskommen kann.

    Irmler: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Steinbrück.