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Die Endlichkeit des Lebens

Ein Mensch stirbt, aber das muss nichts heißen. So ist es eben, heißt es dann, der Mensch ist nun mal endlich, und irgendwann trifft es jeden. Doch ein paar Jahre und ein paar Beerdigungen später werden die Binsenweisheiten schal, und Trost spenden sie erst recht nicht. Denn man merkt, die Zeit läuft, und absehbar wird man selber ins Gras beißen.

Von Kersten Knipp | 10.05.2006
    Doch schon jetzt zeigt sich das Leben von seiner herben Seite, präsentiert sich als Tod auf Raten: Ein weiterer Freund stirbt, ein anderer zieht weg, und noch ein anderer will nichts mehr von uns wissen. So verarmen die Tage und mit ihnen die alten Freuden: Keine spontanen Treffen mehr, keine Albernheiten mit der besten Freundin, niemand, der abends noch mit ins Kino gehen und danach noch ein Bier trinken wollte. Und irgendwann lässt einen der Gedanken nicht los, dass zwar alle ein wenig gealtert sind, aber niemand so sehr wie man selbst.

    Nein, es ist nicht einfach, mit dem Alter fertig zu werden, am allerwenigsten vielleicht für eine aufgeputzte italienische Dame, aus besten Kreisen stammend, an Aufmerksamkeit und Bewunderung gewöhnt und lange Zeit für ihr jugendliches Aussehen gerühmt. Doch irgendwann klettern auch ihr die Falten ins Gesicht, und jetzt, spätestens jetzt, braucht es einen Seelentröster. Einer, der für sie wie geschaffen ist, ist Jacques Deza. Der junge Spanier, erinnert sich der Leser des ersten Teils der Trilogie "Dein Gesicht morgen", steht in Diensten des britischen Geheimdienstes. Seine Aufgabe: Psychologische Porträts von für den Heimatschutz relevanten Personen zu verfertigen. In "Tanz und Traum" aber, dem soeben erschienenen zweiten Teil des Epos, hat er einen Abwehrdienst der anderen Art zu leisten: Flavia Manoia, die Ehefrau eines irgendwo zwischen Vatikan und Mafia operierenden, offenbar auch in Spionagekreisen hoch angesehenen italienischen Geschäftsmannes, vor dem Absturz in altersbedingte Depressionen zu bewahren. Ort der mentalen Verjüngungskur ist eine Diskothek, und so sanft sich die Rhythmen der Musik durch den Saal wiegen, so entspannt lässt Marías diejenigen des Erzählens schwingen. Denn eilig hat er es nicht, im Gegenteil: Die Handlung ist auf ein Minimum reduziert, sie zerläuft in einem Vakuum, in dem von einer Story kaum mehr die Rede sein kann. Hatte Marías die Handlungsfülle früherer Romane schon im ersten Band von "Dein Gesicht morgen" auf ein in wenigen Sätzen resümierbares Geschehen schrumpfen lassen, so streicht er sie im zweiten noch mehr zusammen. Über dreihundert der vierhundert Seiten spielen in der Diskothek. Diese Auflösung der Handlung ist für Marías ein wesentliches ästhetisches Bauprinzip seiner Romane.

    " Im Allgemeinen findet sich in meinen Romanen - und ich glaube auch in diesem - ein Ausgleich zwischen der Handlung und den in sie eingehenden Reflektionen. Ich versuche diese Abschweifungen möglichst interessant zu gestalten, so dass der Leser nicht allzu sehr die Geduld verliert. Doch es gibt Leser, die die Ausführungen des Erzählers schätzen; für sie kann er erzählen, was immer er will. Das sind für mich die idealen Leser. Und davon habe ich mehr, als ich wahrscheinlich verdiene."

    Dass sich überhaupt noch ein Geschehen entfaltet, ist im wesentlichen Dezas Landsmann und Lieblingsfeind de la Garza zu verdanken, dem aufgeblasenen Botschaftsattaché und Weiberheld, der mit ordinärem Geschwätz schon im ersten Band der Trilogie unangenehm aufgefallen war. Nun hat de la Garza ein Auge auf Flavia Manoia geworfen. Und unter Marías Regie entwickeln sich seine Avancen zu einem ebenso hübschen wie altgedienten Katz-und-Maus-Spiel, in dessen Verlauf Verführer und zu Verführende für einige Minuten von der Tanz- und Bildfläche verschwinden. Deza setzt zur Verfolgung an, und Marías ist mutig genug, sie hauptsächlich in der Damentoilette der Diskothek stattfinden zu lassen. Um Flavia Manoia vor Schändung zu bewahren, überschreitet er die Schamgrenze gegenüber den anderen Damen, scheut selbst vor Blicken unterhalb der abgeschlossenen Kabinentüren nicht zurück. Ausgerechnet auf der Toilette aber erreicht Marías Erzählkunst ihren Höhepunkt. Eingehend führt er abgestreifte Röcke, Strümpfe, Slips vor Augen, wahrt dabei aber konsequent die Grenze zu Peinlichkeit und Obszönität. Seine Beobachtungen mögen naturalistisch genau, seine Überlegungen pikant und in ihrer kruden Alltäglichkeit bisweilen drastisch sein, niemals aber platt und anstößig. Selten wohl hat sich ein Autor ein für schlechte Witze so anfälliges Thema ausgesucht, um diese dann derart elegant zu umgehen.

    Wozu auch sollte er solche Witze reißen? Andere haben es längst getan, so dass der Erzähler es sich sparen kann. "Das Leben ist nicht erzählbar, und es ist höchst merkwürdig, das hartnäckige Bemühen, es zu erzählen", entfährt es einem der Protagonisten. "Manchmal denke ich, es wäre besser, die Gewohnheit einfach aufzugeben und zuzulassen, dass die Dinge geschehen. Und sie dann ruhen zu lassen." Doch auch dann geschieht ja noch genug. Denn im Leben eines Menschen, meint Marías, schleicht sich das Wesentliche oft durch die Hintertür ein.

    " Bisweilen folge ich einer der Maximen von Laurence Stern. Von ihm lernte ich sehr viel, unter anderem dieses: A progress is a digress. Die Abschweifung ist Teil des Fortschritts einer Handlung.. Man erkennt bisweilen, dass das, was als Abschweifung, Verzierung, Episode erscheint, sich als integraler Bestandteil der Geschichte erweist. Aber das erfährt man erst im Nachhinein."

    Und so lässt Marías die Dinge oder besser: die Sätze einfach laufen, lässt sie mal hierhin, mal dorthin wehen, auf dass sie die verschiedensten Muster und Figuren bilden. Und so ist auch die Verbindung zum ersten Teil der Trilogie bestenfalls eine lockere. Eine Fortsetzung im klassischen Sinn ist das nicht. Doch sollte den Leser das stören? Die Geschichte, der Plot hat bei Marías ohnehin ausgedient. Dafür nehmen seine wunderbar leichte Sätze noch den bedrückendsten Themen ihre Schwere. Marías ist ein feinsinniger Chronist der Gegenwart. Deren Nöte greift er auf - aber nur, um sie in einem sanften Nichts aufzulösen, einem Nichts, das auch das sich durch das ganze Buch ziehende Thema der Endlichkeit des Lebens für ein paar gnädige Momente außer Kraft setzt.

    Javier Marías
    "Tanz und Traum"
    Zweiter Teil der Romantrilogie "Dein Gesicht morgen"
    (Verlag Klett-Cotta)