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Die Engel der Armen in Kalkutta

Die römisch-katholische Ordensschwester und Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa hat ihren Orden der "Missionarinnen der Nächstenliebe" 1950 in Kalkutta gegründet und erste Sterbehäuser für Kranke eingerichtet. In 130 Ländern sind sie weltweit vertreten, das geistige Zentrum ist bis heute in Kalkutta.

Von Margarete Blümel | 30.04.2012
    Wenn die freiwilligen Helfer der "Missionaries of Charity" über Kalkutta ausschwärmen, haben die meisten Schläfer ihren Ruheplatz auf dem Bürgersteig, unter dem Brückenpfeiler oder auf dem Bahnhof schon geräumt. Wer in dieser Stadt morgens um sieben auf seinem Schlafplatz auf dem Pflaster zurückgeblieben ist, muss entweder körperlich oder seelisch schwer angeschlagen sein - oder er lebt nicht mehr.

    "Wir haben ein Team von Volontären, die die beiden Großbahnhöfe Howrah und Seldah durchkämmen - und die eigentlich jeden Tag jemanden finden. Das muss man sich vorstellen - irgendwo auf Plattform 11 zum Beispiel liegt da jemand wie ein Haufen Müll, mit ein paar alten Jutesäcken. Und dann schaut man unter den Säcken und dann liegt da ein nackter Mensch im Sterben. Und so Sachen kommen also täglich vor."

    Andi Wimmer. Er ist seit fünfzehn Jahren als freiwilliger Helfer in den Sterbehäusern von Mutter Teresas "Missionaries of Charity" tätig.

    Windschiefe, bis zum Bersten gefüllte Omnibusse entlassen tiefschwarze Abgaswolken in die Luft, während die Fahrer, wütend, aber völlig sinnlos, dauerhupen.

    Ausgemergelte Riksha-Zieher stehen im ersten Stau des Tages in der Deichsel. Auf dem Sitz hinter ihnen haben Kinder in Schuluniformen oder Büroangestellte in Tuchhosen mit Bügelfalten Platz genommen. Straßenhändler versuchen brüllend, den Verkehrslärm zu übertönen, um auf sich und ihre Waren aufmerksam zu machen.

    Schweißgebadete Tagelöhner zerren überladene Handkarren hinter sich her. Gespannlenker lassen den Stock aufs Hinterteil ihrer Ochsen niederfahren, damit die Tiere zumindest für die nächsten zwei Minuten vom Schritt in einen schwerfälligen Trab übergehen. Zu beiden Seiten der Fahrbahn wogt eine unüberschaubare Menschenmenge.

    Kalkutta, der Hauptsitz von Mutter Teresas "Missionarinnen der Nächstenliebe", wird vor allem im Westen mit Schmutz, Elend und Armut gleichgesetzt.

    Mehr als vierzehn Millionen Menschen leben in der westbengalischen Metropole. Ungefähr fünf Prozent von ihnen gehören zum gehobenen Mittelstand. Einige wenige sind reich. Etwa zwanzig Prozent haben eine feste Unterkunft, können ihre Miete bezahlen und leiden keinen Hunger. Die meisten aber blicken jeden Tag aufs Neue in den Abgrund. Andi Wimmer:

    "Die staatlichen Krankenhäuser nehmen uns die Armen nicht auf, die alten Leute nicht, die Schwachsinnigen nicht, die Leute mit großen Wunden, Verbrennungen, die sehr arbeitsintensiv sind - die staatlichen Krankenhäuser nehmen uns die Leute nicht auf. Darum hat Mutter Teresa vor fast sechzig Jahren mit dem Sterbehaus angefangen und die ersten Leute aufgenommen."

    In den Sterbeheimen des Mutter-Teresa-Ordens, in Nirmal Hriday oder auch hier, in Prem Dan, finden die Betroffenen Obdach.

    "Ein Teil der Leute kommt auch selbst und kennt das Haus bereits und kriecht halt zu uns 'rein, mit Fieber, Blut spuckend, mit irgendwelchen großen Wunden. Und es wird jeder aufgenommen, der arm ist und den das Krankenhaus nicht aufnimmt."

    Noch zwei, drei Stunden, bis die freiwilligen Helfer von ihrem Außeneinsatz mit neuen Patienten in die beiden Sterbehäuser zurückkehren.

    Derweil werden die etwa hundert Insassen des Hospizes Prem Dan versorgt. Viele von ihnen müssen gewaschen und gefüttert werden. Mutter Teresas Nachfolgerinnen, die Schwestern in den weißen Saris mit den blauen Borten, überwachen das Geschehen und legen auch selbst immer wieder Hand an. Unter ihrer Anleitung beziehen die freiwilligen Helfer die Betten und reinigen in großen Zubern die Bekleidung der Patienten. Andi Wimmer:

    "Es gibt sehr viele Basisarbeiten, die dort gemacht werden müssen. Es gibt keine Waschmaschinen, weil nur die reichen Haushalte Waschmaschinen haben. Mutter Teresa hat immer gesagt: 'Wir sind arm und der Bedürfnislosigkeit verpflichtet.' Es wird alles mit Hand gewaschen, auch die Decken im Winter. Wir massieren die Leute auch. Wir sitzen mit ihnen und beten und singen auch mit den Sterbenden, auch ein bisschen Trösten. Da braucht's keine große Ausbildung. Das ist wirklich nur ein bisserl Vernunft und eben ein liebendes Herz. Das ist alles. Jeder ist willkommen."

    Und man muss unter Umständen auch darauf gefasst sein, dass sein Schützling, um den er sich am Vortag noch gekümmert hat, am nächsten Morgen in dem Raum hinter der Waschküche liegt. Hier werden die in weiße Tücher gewickelten Toten untergebracht, bis die Mitarbeiter der Verbrennungsstätte kommen, um sie abzuholen.

    Vielleicht gründete Mutter Teresa auch deshalb 1950 eben hier den Orden der "Missionaries of Charity". Das Sterbehaus Nirmal Hriday bezeichnete sie mehrfach als ihre "erste und größte Liebe". Mutter Teresa ließ das Asyl erbauen, nachdem sie eines Tages versucht hatte, einen schwerkranken Obdachlosen in einem Krankenhaus der Stadt unterzubringen. Weil sie die Aufnahmegebühr nicht zahlen konnte, wies man sie von der Schwelle. Der Mann starb an Ort und Stelle in ihren Armen.

    "Die Menschen, die zu uns kommen, die sind sehr oft schon - wie soll ich sagen? Die Krankenhäuser wollen sie nicht mehr aufnehmen. Und weil sie eben dort keine Aufnahme mehr finden, weil man vielleicht keine Hoffnung mehr für sie hat, dann ist das Erste, das man sie irgendwo hinbringt, wo sie zumindest ihren armen, gefolterten Leib hinlegen können."
    Schwester Andrea ist seit fünfzig Jahren bei den "Missionaries of Charity". Einem Orden, der inzwischen weltweit mehr als siebenhundert Hilfseinrichtungen betreibt.

    "In Kalkutta, sagen wir mal, Groß-Kalkutta, haben wir zwölf verschiedene Häuser. Dann gehören noch zu unserer Region von Südbengalen weitere 22 Häuser. Die sind dann in verschiedenen Städten hier im Süden. Bengalen hat zwei Regionen: Nordbengalen - und wir sind im Süden hier."

    Ein Teil des Ordens besteht aus Brüdern, ein weiterer aus "Priestern der Nächstenliebe". Doch die Schwestern sind zahlreicher und öffentlich mehr präsent. Die Führungsposition bei den "Missionaries of Charity" hat von Anbeginn bis heute eine Frau inne. Andi Wimmer:

    "Schwester Prema ist eine Deutsche aus Münster. Die ist vor zwei Jahren gewählt worden. Wir sind natürlich sehr stolz. Jetzt haben wir nicht nur 'nen deutschen Papst, sondern auch 'ne deutsche Generaloberin. Die eigentlich sehr robust ist. Und die das wahrscheinlich sehr lange führen kann, würde ich sagen."

    Die Ordensschwestern halten unter anderem die Heime für Frauen und für Waisen, die Leprakolonie und die Schule für Straßenkinder in Gang. Etwa fünfunddreißig Schwestern sorgen für den reibungslosen Ablauf in den bekanntesten Projekten des Ordens - in den Sterbeasylen Prem Dan und Nirmal Hriday. Nirmal Hriday befindet sich im Süden der Stadt, gleich neben Kalkuttas meistbesuchter religiöser Stätte, dem Kali-Tempel.

    Wenn die Patienten von Nirmal Hriday zu Mittag gegessen und sich auf ihre Betten zurückgezogen haben, zu einer Zeit, in der selbst den eifrigsten der internationalen Helfer unter der Hitze die Augen zufallen, versammeln sich nur einen Steinwurf weiter die hinduistischen Gläubigen, um der Göttin Kali ihre Aufwartung zu machen.

    Einer von ihnen ist Roy Chatterjee. Der Geschäftsmann besucht den Kali-Tempel seit über zwanzig Jahren regelmäßig. So hat er sich fast zwangsläufig mit dem Tun und Lassen Mutter Teresas und ihrer Nachfolgerinnen auseinandergesetzt. Er hat verfolgt, wie die Freiwilligen aus aller Welt sich darum drängen, in dem von Mutter Teresa favorisierten Asyl mitarbeiten zu dürfen. Und im Zuge seiner Gespräche mit den Anwohnern und mit den Priestern des Kali-Tempels sind ihm auch immer wieder unschöne Dinge zugetragen worden - wie etwa das Gerücht, die Schwestern versuchten, andersgläubige Patienten zum Christentum zu bekehren. Ob das nun wahr sei oder nicht, fasst Roy Chatterjee zusammen, über kurz oder lang habe man sich mit den christlichen Nachbarinnen arrangieren müssen.

    "Anfangs haben unsere Tempelpriester sich gegen das Projekt ausgesprochen. Es widerstrebte ihnen ganz einfach, dass eine christliche Organisation an diesem Ort ein Sterbehaus in Betrieb nehmen wollte. Doch immerhin handelte es sich um Mutter Teresa. Also hat man sich nach und nach in das Unvermeidliche geschickt."

    Roy Chatterjee gibt bereitwillig zu, dass die "Missionaries of Charity" eine der wenigen Anlaufstellen für die Behinderten und die Schwerkranken unter Kalkuttas Armen sind. Und dass die Nachfolgerinnen Mutter Teresas eine Arbeit leisten, die eigentlich der Regierung gut anstünde.
    Am frühen Abend, wenn sich die Dunkelheit über Kalkutta legt, schlagen die Obdachlosen unter den Brückenpfeilern, auf den Bahnhöfen und den Bürgersteigen der Metropole ihr karges Nachtlager auf. Die freiwilligen Helfer, die einige dieser Pflasterschläfer am nächsten Morgen finden und zu einem der Sterbehäuser bringen werden, sitzen in ihren Unterkünften zusammen und tauschen ihre Eindrücke miteinander aus.

    Die Patienten in den Sterbehäusern des Mutter-Teresa-Ordens haben zu Abend gegessen, sind zu Bett gebracht worden und haben, vielleicht zum Ersten, womöglich auch zum letzten Mal in ihrem Leben, freundlichen Zuspruch in ihren Schlaf mitgenommen.
    Schwester Andrea sitzt noch in ihrem Büro und denkt, wie so oft, über Mutter Teresa und die von ihr vertretenen Prinzipien nach.

    "Natürlich - so etwas muss langsam erlernt werden. Aber für Mutter Teresa war das eine Selbstverständlichkeit. Und deswegen hat sie ihr Leben so gelebt, wie sie es getan hat. Und das hat sie sich nicht nehmen lassen. Daran hat sie nie gedacht!"