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Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini

Am Anfang steht Empörung. Empörung über eine dekadente Demokratie, ein sattes, selbstzufriedenes Bürgertum, einen reibunslos funktionierenden Kapitalismus, einen Kapitalismus, der alle heroischen Empfindungen schon im Keim erstickt. Aber die größte Empörung, ja regelrechter Widerwille, gilt der trägen, dekadenten Arbeiterklasse. Seelenlos lebt sie dahin, sich ihrer selbst kaum bewusst, und ihrer historischen Bestimmung noch viel weniger.

Kersten Knipp | 09.12.1999
    Die geistigen Väter des Faschismus waren vor allem eines: Menschen der Revolte. Das 19. Jahrhundert neigte sich seinem Ende, und was es bot, musste politische Hasardeure abstoßen: Die Wirtschaft lief auf vollen Touren und garantierte zumindest in Westeuropa den meisten Menschen - und längst auch der Arbeiterklasse - eine gesicherte Existenz. Der Preis: Die von Marx und Engels erwarteten großen ökonomisch-gesellschaftlichen Umwälzungen waren ausgeblieben, und die angekündigte "Diktatur des Proletariats" war nicht einmal im Ansatz auszumachen. Im Gegenteil: je höher die materiellen Standards stiegen, desto tiefer sackten die revolutionären Energien in den Keller. Und mit ihnen sank die wissenschaftliche Autorität der Verfasser des "Kommunistischen Manifests".

    Sicher: Rosa Luxemburg, Otto Bauer, Karl Rudolf Hilferding und andere erwarteten das politische Erdbeben weiterhin. Doch insbesondere in Frankreich und Italien mehrten sich die Zweifel an Marx´ politischen Diagnosen. Immer entschiedener stellten ehemalige Anhänger sein Werk vom Kopf auf die Füße, lasen es im Spiegel ihrer eigenen Interessen und verwandelten es schließlich in einen Stichwortgeber für eine ganz neue politische Philosophie: den Faschismus.

    Als "Revolutionären Revisionismus" bezeichneten französische Sozialisten und Syndikalisten wie Edouard Berth, Hubert Lagadelle, Pierre Gilbert ihre Neuinterpretation des Marximus. Der bedeutendste Theoretiker der Revisionisten, der 1847 geborene Georges Sorel, erklärte schließlich, die von Marx angekündigte Revolution, sei "nichts als ein Trugbild", der Kampf der Klassen darum durch den der Nationen zu ersetzen.

    Die an der Hebräischen Universität in Jerusalem tätigen Historiker und Politikwissenschaftler Zeev Sternhell, Mario Sznajder und Maia Asheri sind jetzt der merkwürdigen Geburt des Faschismus aus dem Geist eines revidierten Marxismus in einer bestechenden Analyse nachgegangen. Nicht um eine weitere Abrechnung mit dem Marxismus geht es ihnen, sondern um die Erhellung einer philosophiegeschichtlichen Genealogie, die längst noch nicht hinreichend geklärt ist. Anhand zahlreicher, sorgfältig ausgewählter Zitate rekonstruieren sie das Mosaik einer totalitären politischen Doktrin, die den Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich den Rhythmus diktierte.

    Beeindruckend die hermeneutische Geschmeidigkeit der Autoren: Ganz eng rücken sie an ihren Gegenstand heran, meiden jede explizite Kritik, die eine Annäherung doch nur behindern würde. Dicht an dicht reihen sie die Zitate, verbinden sie durch Textpassagen, die die Literaturwissenschaft als "erlebte Rede" bezeichnet: Ein Stil, der die Sprache der Protagonisten fast wörtlich wiedergibt, ihr ihren eigentümlichen Klang ablauscht und es so erlaubt, sich in ihre Logik einzufühlen, sie aus sich selbst heraus zu verstehen.

    Es ist vielleicht ein kurzes und wie beiläufig gebrachtes Zitat von Walter Benjamin, das den Geist der faschistischen Bewegung am deutlichsten erhellt. Benjamin warf dem faschistisch inspirierten Dichter Filippo Tommaso Marinetti vor, er betreibe eine - Zitat - "Ästhetisierung der Politik". Tatsächlich veröffentlichte Marinetti im Jahre 1909 im französischen Figaro sein berühmtes "Futuristisches Manifest", das die politisch-psychologische Stimmungslage jener Kreise in ästhetisch kondensierter Form zusammenfasst. So heißt es dort:

    "Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlag gepriesen. Wir wollen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.

    Wir wollen den Krieg verherrlichen - die einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörerische Tat der Anarchisten, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

    Wir wollen die Museen, Bibliotheken und Akademien jeder Art vernichten und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.

    Auf dem Gipfel der Welt stehend, fordern wir neuerlich die Sterne heraus."

    Marinetti bekämpft das Bürgertum auf kultureller Ebene. Die faschistischen Theoretiker versuchen es politisch auszuhebeln. Allerdings: Im Unterschied zu Marx wollen sie das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht zerstören. Im Gegenteil, es gilt, seine Energien in den Dienst der eigenen Sache zu stellen. So meiden sie alle sozialdemokratischen Regungen, alle Anstrengungen zu einer besseren Sozialgesetzgebung sowie jede Kooperation mit dem bürgerlichen Staat. Die sozialen Gegensätze, lehren sie, sind auf ein unerträgliches Maß zuzuspitzen, und zwar solange, bis sie in unkontrollierbare Aufstände umschlagen.

    Marx´ Prophezeiung, der Kapitalismus werde sich selbst abschaffen, ist zwar auch für die Faschisten eine bloße Illusion. Aber Sorel nimmt sie eben nicht als Diagnose, sondern als Aktionsprogramm, das mit anderen Mitteln zu verwirklichen ist. Theorien, schreibt er, "müssen als Mythen behandelt werden". Nur dann sind sie realisierbar. Die soziale Mobilisierung ist deshalb durch eine psychologische zu ergänzen, die Revolution durch "Bilderwerke" voranzutreiben. Denn nur das Gefühl, nicht der Verstand, setzt die Masse in Bewegung.

    Ein sozialer Mythos also soll die Aufstände der Zukunft anstoßen, eine kollektive Energie entfachen, die die Kraft des Faktischen hinwegfegt und auf der alten die neue Ordnung errichtet. In seiner Schrift "Über die Gewalt" aus dem Jahre 1908 umreißt Sorel in beklemmender Deutlichkeit die psychologischen Grundlagen der künftigen faschistischen Mobilisierungstechniken:

    "Wenn wir handeln, dann haben wir eine gänzlich künstliche Welt geschaffen, die sich vor die gegenwärtige stellt und aus Bewegungen gebildet ist, die von uns abhängen. (...) Diese künstlichen Welten verschwinden im allgemeinen aus unserem Geiste, ohne Erinnerungen zu hinterlassen; wenn aber Massen in Leidenschaften geraten, dann kann man ein Gemälde beschreiben, das einen sozialen Mythos darstellt. (...) Der Mythos beinhaltet Denken und Handeln, er erschafft Legenden, die der Mensch lebt, statt die Geschichte zu leben, er erlaubt, einer erbärmlichen Gegenwart zu entfliehen, gewappnet mit einem unerschütterlichen Glauben."

    Den Glauben an das Proletariat haben die faschistischen Theoretiker indes längst verloren. Immer weniger erkennen sie in ihm den Träger der kommenden Revolution, den großen Zerstörer der bürgerlichen Ordnung. So nimmt ihr Interesse kontinuierlich ab. 1912 schreibt der französische Theoretiker Hubert Lagadelle:

    "Die Arbeiterbewegung interessiert uns nur, wenn sie Träger einer neuen Kultur ist. Wenn sich das Proletariat in Demagogie und Egoismus wälzt, ist es nutzlos für die Geister, die nach Mitteln suchen, die Welt zu verändern."

    Von da an ist es vom Sozialismus zum Nationalismus nicht mehr weit. Die Arbeiterklasse hat in den Augen der Faschisten versagt; darum soll die Nation an ihre Stelle treten. Sie ist die revolutionäre Triebkraft, die die Schlacht gegen die bürgerliche Ordnung und die liberale Demokatie fortführen oder besser: erst eigentlich eröffnen soll. Zunehmend setzen die Faschisten nicht mehr auf die Elite der Produzierenden, sondern auf die der Rasse. Das Volk wird zur neuen, zur einzigen Klasse, und diese neue Konzeption, hofft Sorels Schüler Edouard Berth, führt...

    "zur vollständigen Vernichtung der Herrschaft des Goldes und zum Sieg der heroischen Werte über den abscheulichen bürgerlichen Materialismus, in dem Europa heute erstickt. Anders gesagt, der Aufstand der Kraft und des Blutes gegen die des Goldes (...) muss mit dem unwiderruflichen Zusammenbruch der Plutokratie enden."

    Immer mehr überlagern jetzt die faschistischen Ideen die sozialistisch-syndikalistischen. Seit 1909 sympathisiert Sorel mit der rechtsradikalen Action française, seit 1911 rückt in Italien Benito Mussolini, damals noch leitender Redakteur der sozialistischen Zeitschrift Lotta di classe, Klassenkampf, die nationalen Interessen an die Stelle der proletarischen. Italien, so der künftige duce, sei eine proletarische Nation, die sich im Wettstreit der Staaten zu behaupten habe. Und das Ausmaß dieses Wettstreits deutet der Theoretiker Paolo Orano an:

    "Kann man an die Möglichkeit glauben, den Krieg abzuschaffen? Träumen wir doch nicht! Der Krieg ist eine Notwendigkeit, der Frühling des Fortschritts. Und warum sollte der Fortschritt nicht erfordern, den Krieg zwischen den Staaten dem Krieg zwischen den Klassen vorzuziehen?"

    Bald darauf kann diese Sprache ihre Früchte ernten. Was als große gesellschaftlich-kulturelle Läuterung des Menschen gedacht war, mündet in seine Zerstörung, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Aber auch der setzt den faschistischen Visionen kein Ende. Im Gegenteil: 1917 fordert Mussolini von der italienischen Nation die Opfer, die bisher nur von den Soldaten erbracht worden seien. "Disziplin" klagt er ein, und mit welchen Mitteln die künftig zu erreichen ist, darüber lässt er seine Landsleute nicht im Unklaren:

    "Wer Vaterland sagt, sagt Disziplin; wer Disziplin sagt, anerkennt eine Hierarchie, der Autorität, der Funktionen, der Intelligenzen. Und wo diese Disziplin nicht freiwillig akzeptiert wird, wo man ihre Notwendigkeit nicht einsieht, muß sie aufgezwungen werden. Wenn nötig, mit Gewalt, wenn nötig (...) mit Hilfe derselben Diktatur, wie sie die Römer der ersten Republik in den kritischen Zeiten ihrer Geschichte einführten."

    Sternhell, Snajder und Asheri zeichnen das Porträt einer fest umrissenen historischen Epoche. Ableiten lässt sich einiges aus ihr. Vor allem wohl dieses: Politik muß nüchtern, ideologisch enthaltsam bleiben. Ihr abstraktes Regelwerk, so langweilig es bisweilen erscheinen mag, eignet sich besser zur Organisation der Massengesellschaft als missionarischer Eifer, messianistische Besessenheit. Dies im Kopf zu behalten, ist wohl die klügste Lehre, die man aus der katastrophalen Geschichte totalitärer Bewegungen ziehen kann.