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Die Erfahrungen Hölderlins in der Linearität einer Wanderung

Thomas Knubben hat sich im Dezember 2007 auf den Weg gemacht, Hölderlins Weg von Nürtingen nach Bordeaux nachzuwandern, ausgerüstet mit einem Haselnussstock, der während dieser Wanderung um 26 Zentimeter kürzer wurde.

Thomas Knubben im Gespräch mit Lerke von Saalfeld | 27.01.2012
    Lerke von Saalfeld: Am 6. oder 7. Dezember 1801 hat Friedrich Hölderlin seine berühmte Reise angetreten von Nürtingen nach Bordeaux, es war seine letzte Hauslehrerstelle - ein Datum, das einen großen Einschnitt im Leben für Hölderlin bedeutete. Sie haben, Thomas Knubben, nach über zweihundert Jahren denselben Weg gewählt. Es gibt viele Reisen, zeitgleich, das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch, hat sich zum Beispiel Johann Gottfried Seume zu seinem "Spaziergang nach Syrakus" aufgemacht; aber es gibt auch Wanderungen bis in die Gegenwart, der Journalist Wolfgang Büscher, der rund um Berlin wandert oder von Berlin nach Moskau wandert oder quer durch die USA. Es gibt sehr verschiedene Gründe, warum man sich auf die Wanderschaft macht. Was war bei Ihnen ausschlaggebend?

    Thomas Knubben: Da gab es sowohl biografische wie wissenschaftliche Gründe. Vielleicht die Biografischen zuerst, ich habe wie Hölderlin in Tübingen studiert und später in Bordeaux, und das ist schon dreißig Jahre her. Damals habe ich mich in Bordeaux schon mit dem Aufenthalt Hölderlins befasst, bin in die Archive gegangen und habe versucht, etwas rauszukriegen über diese seltsame Situation, in die sich Hölderlin damals hineinbegeben hat. Und die wissenschaftlichen Gründe, die liegen darin, dass diese Reise Hölderlins einen sehr tiefen Einschnitt in der Biografie und im Werk Hölderlins darstellen; ein großes Geheimnis diese Reise umfängt, vieles noch nicht so klar ist, und ich wollte mit diesem Weg nach Bordeaux versuchen, ein bisschen Licht in dieses Dunkel zu bringen."

    Saalfeld: Es gibt ja nur wenig Briefe über diese Zeit, und es gibt wenig Gedichte. Es gibt wenig Anhaltspunkte über diese Reise, und Sie beschreiben auch auf Ihrem Weg, manchmal war Hölderlin so schnell, wie Sie gar nicht auf Schusters Rappen sein konnten, er musste also eine Postkutsche zwischendurch genommen haben. Das heißt, da gibt es viele blanke Stellen.

    Knubben: Ja, der gewöhnliche Weg wäre ja, in die Archive zu gehen, Dokumente zu sammeln. Das hat man getan. Man hat einiges gefunden, aber es blieben Lücken übrig. Der zweite Weg wäre die philologische Methode, man könnte die Gedichte befragen auf diese Reise hin. Ich habe einen dritten Weg gewählt, das Experiment. Das war deswegen sinnvoll - früher hatte man ja gedacht, Hölderlin sei den Weg nach Bordeaux ganz zu Fuß gegangen - bis vor dreißig Jahren Pierre Bertaux, der große französische Germanist und Hölderlinforscher, einmal nachgerechnet und festgestellt hat, er hätte genauso gut die Postkutsche genommen haben. Ich hab versucht, dies durch ein Experiment zu klären, indem ich den Weg zu Fuß gegangen bin, um zu prüfen, ob es überhaupt möglich sei. Und es hat sich gezeigt, dass er tatsächlich große Passagen des Wegs zu Fuß gegangen sein muss; andere Passagen, zum Beispiel von Straßburg nach Lyon, das war völlig unmöglich zu Fuß zurückzulegen, da hat er gewiss die Postkutsche genommen.

    Saalfeld: Nun haben Sie sehr eigene Erfahrungen gemacht. Als Hölderlin wanderte, sah diese Welt ganz anders aus. Sie geraten in Industrieviertel, Sie geraten an Autobahnen, an Bundesbahnen - also Widrigkeiten, mit denen Hölderlin nicht rechnen musste, was natürlich den Rhythmus des Wanderns durcheinanderbringt. Die Kontemplation, die Hölderlin hatte, wenn er wanderte - und er war ein großer Wanderer, Sie beschreiben selbst, er hat 30 bis 50 Kilometer am Tag zurückgelegt, das ist eine ordentliche Strecke. Ihre Wandererfahrungen waren andere, wie sind Sie damit umgegangen?

    Knubben: Ja, ich bin in der Moderne wandern gegangen und das ist auch bisschen der Reiz an der Unternehmung gewesen, sich einerseits auf die Zeit um 1800 einzulassen, eben zu Fuß große Wegstrecken zurückzulegen, andererseits aber auch nicht aus der heutigen Welt ausbrechen zu können. Viele Wege, die Hölderlin sei es zu Fuß, sei es mit der Postkutsche zurückgelegt hat, das sind heute große Routes Nationales oder Autobahnen. Ganz klar, weil man natürlich die Wege genommen hat für den Ausbau der Strecken, die für den natürlichen Gang der Strecken zwischen Bergen und Tälern am besten gepasst haben. Das ist heute eine Herausforderung. Ein so langer Weg mit einem Ziel, das über tausend Kilometer weit weg ist, bedeutet hin und wieder an gewaltig befahrenen, sehr tristen Straßen entlang gehen zu müssen. Auf so einer Wanderung, die über zwei Monate dauert, muss man sich Regeln geben. Zunächst denkt man, ja, man kann nicht jeden Kilometer zurücklegen. Am Ende habe ich auch tatsächlich 1470 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, Aber zweimal durch die banlieues zu gehen, zweimal diesen Industriegürtel um die Städte herum zu durchqueren, das hab ich doch als eine Zumutung empfunden.

    Saalfeld: Sie haben auch ganz schöne Erlebnisse gehabt, die waren auch anders als die von Hölderlin. Sie beschreiben zum Beispiel, dass Hölderlin gewohnt war, beim Wandern zu dichten. Ich vermute, Sie haben nicht gedichtet beim Gehen, aber vielleicht haben Sie Hölderlin Oden oder Hymnen rezitiert?

    Knubben: Hölderlin hat tatsächlich viele seiner Gedichte im Gehen verfasst, das kann man dem Rhythmus auch anmerken. Es gibt aber auch Zeugnisse seiner Stiftsgenossen, die das beschrieben haben. Nein, ich habe nicht gedichtet, aber ich hatte eine Ausgabe von Hölderlin in meinem Rucksack, und zwar eine zweisprachige deutsch-französisch. Ich habe natürlich die Augen offen gehalten, ob es nicht Situationen, Eindrücke gibt, die an Hölderlin erinnern, die sich in seinen Versen auch finden, die lebendig werden im Wandern. Insofern war es auch eine poetische Wanderung, die ich da unternommen habe, und es gab immer wieder Orte, Eindrücke, die diese Verse Hölderlins haben aufkommen lassen.

    Saalfeld: Hat sich auf dieser Reise Ihr Hölderlinbild verändert?

    Knubben: Ja, es hat sich verändert. Es hat sich vor allem für mich gezeigt, dass viele oder einige Bilder, die von Hölderlin im Umlauf sind, doch sehr konstruiert sind, dass sie zumindest in Teilen revidiert werden müssen. Hölderlin war nicht die ätherische Gestalt, die uns in dem berühmten Bild seines Studienfreundes Franz Hiemer entgegenblickt - so ein junger Gott mit güldenen Locken, ganz zart - nein, Hölderlin war ein robuster Mann. Das erklärt auch, warum er überhaupt in der Lage war, solche Wegstrecken zurückzulegen. Er war groß, fast 1 Meter 80, durchaus stämmig, immer auch gesund. Also, ich denke, man muss sich Hölderlin ein bisschen kerniger vorstellen, als er uns gemeinhin entgegentritt. Das Bild hat sich auch insofern verändert, als ich immer mehr der Auffassung bin, dass seine Verse gutenteils wörtlich genommen werden sollten. Jenseits der philosophischen, theologischen, poetischen Konzeptionen, die alle in den Versen auch drin sind, gibt es einen direkten, konkreten Anschauungsgehalt, der in diesen Versen auch erkennbar ist und den konnte ich dann auf dieser Wanderung doch hin und wieder erfahren.

    Saalfeld: Sie zitieren in Ihrem Buch das berühmte Gedicht "Andenken", in dem Hölderlin seine Erfahrungen in Bordeaux verarbeitet. War das ein kleiner gedanklicher oder auch praktischer Leitfaden für Sie?

    Knubben: Gewiss. Dieses Gedicht "Andenken" ist ja eines der vollendeten Gedichte, die er nach dem Bordeaux-Aufenthalt noch entwickelt hat. Es ist auch der dichterische Kern dessen, was er in Frankreich erfahren hat. Es ist ein vollkommenes Gedicht, auch in seinen Brechungen. Es hat ja auch die berühmten Schlussverse, "was bleibet aber, stiften die Dichter" - und wenn man die Reise fassen will, dann findet man sie am ehesten in diesem Gedicht.

    Saalfeld: Sie gehen auch darauf ein, dass Bordeaux für Hölderlin ein Schicksalsort wurde. Es ist nicht ganz klar, warum er so überstürzt abgereist ist, Sie sind vorsichtig mit Spekulationen. Haben Sie da vielleicht von - vielleicht auch Ihrem - Meister Peter Härtling gelernt, der in seiner Hölderlin-Biografie auch sehr vorsichtig damit umgeht, wo man nichts belegen kann, während es vor allem Germanisten gibt, die da ganz munter spekulieren.

    Knubben: Hölderlin lädt dazu ein zu solchen Spekulationen, weil es so viele Leerstellen gibt, weil es so viele Fragmente gibt, die alle dazu reizen, große Gedankengebäude darauf zu errichten. Ich bin vorsichtig, habe aber gleichzeitig eine relativ klare Vorstellung dessen, was Hölderlin widerfahren ist. Es gibt mehrere Ansätze: Zunächst mal sein pädagogisches Geschick war nicht so sehr ausgeprägt, er ist eigentlich immer gescheitert bei seinen Hauslehrerstellen. Auf der anderen Seite waren die Herausforderungen, die Reize, die Bordeaux auf ihn ausübten, rein klimatisch, politisch, sprachlich, kulturell so gewaltig, dass sie ihn auch umwerfen konnten. Am Ende denke ich schon, dass einiges an Illusionen, Hoffnungen, Erwartungen, die ihn ja immer wieder angetrieben haben, auch in Bordeaux nicht erfüllt werden konnten. Sowohl die poetische Hoffnung, als Schriftsteller reüssieren zu können, wie auch die politische Hoffnung, dass aus Frankreich tatsächlich dieser Geist der Freiheit und der politischen Erneuerung hervorgehen könnte, wie er es erhofft hatte in seiner Begeisterung für die Revolution, seine Begeisterung für Napoleon - das alles konnte er in Bordeaux nicht bestätigt fühlen.

    Saalfeld: Hölderlin ist zurückgewandert, Sie haben eine andere Route genommen, Sie waren in sieben Stunden und vierzig Minuten mit dem TGV zurück. Das ist ein Drittel Tag, hingewandert sind Sie 53 Tage. Das sind solche gewaltigen Zeitsprünge, wie sind Sie mit dieser Rückreise fertig geworden? Die Annäherung war ja im Sinne des Dichters, aber die Rückreise war ein Quantensprung.

    Knubben: Ja, ich hab‘ immerhin nicht das Flugzeug genommen, das wäre noch schneller gegangen und das hätte mir tatsächlich die Bodenhaftung genommen, die ich im Zug immer noch hatte. Nein, das ist ein Teil Erfahrung von Modernität, von Brüchen in unserer Welt, sie auf ganz unterschiedliche Weise erfahren zu können. Die siebeneinhalb Stunden zurück, das war schon eine sehr beschleunigte Rückkehr, aber ich hatte ja noch diese 53 Tage im Gepäck, auch im Gefühl, im Blut, in den Knochen. Das hat schon noch nachgewírkt und wurde durch diese Beschleunigung, die ich erfahren habe bei der Rückreise, nicht sofort wieder ausgelöscht.

    Saalfeld: Ihr Buch hat 24 Kapitel, das ist kein Zufall.

    Knubben: Zunächst mal 24 Kapitel entsprechen den 24 Stunden des Tages, es ist einmal ein Sonnenlauf, ein Kreislauf. Es entspricht aber auch der Struktur der Schubertschen "Winterreise", des Gedichtzyklus‘, der zugrunde liegt, es sind 24 Lieder, die die Winterreise ausmachen. Und das ganze Buch ist - so locker und linear es daher kommen mag - durchaus strenger gebaut und versucht, die Komplexität der Erfahrungen von Hölderlin mit der Linearität einer Wanderung zusammenzubringen und erfahrbar zu machen.

    Saalfeld: Wenn Sie jetzt im Rückblick auf diese Reise zurückschauen, sie liegt vier Jahre zurück, was ist Ihnen am Eindrücklichsten davon in Erinnerung geblieben?

    Knubben: Es sind nicht die Leiden, die Schmerzen gewesen, sondern es sind die Begegnungen. Es ist schon erstaunlich, welche Offenheit man selbst gewinnen kann bei einem solchen Gang durch die Landschaft, durch ein anderes Land. Und es ist wunderbar zu sehen, wie dem Wanderer, der mit einem Stab, mit einem Wanderstock, einem Pilgerstab ausgerüstet ist, entgegengetreten wird, wie auch der wahrgenommen, aufgenommen wird, und ich bin oftmals von der Straße weg zu einem Kaffee, zu einem Glas Wein, sogar zum Übernachten eingeladen worden. Die Leute kannten mich nicht, aber sie wurden berührt durch die Gestalt des einsamen Wanderers im Winter. Das war eine wunderbare Erfahrung.

    Thomas Knubben:
    Hölderlin, eine Winterreise
    Verlag Klöpfer & Meyer, 255 S., 19,50 Euro