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Die Erfindung der Kindheit

Im Mittelalter waren Kinder kleine, arbeitende Erwachsene. Es war ein langer Prozess, bis sie tatsächlich als Kinder wahrgenommen wurden, die belehrt und geschützt werden mussten. Diese Entwicklung zeichnet nun das Museum für Kunst und Technik Baden-Baden nach.

Von Christian Gampert | 30.09.2013
    Ob die Kindheit tatsächlich eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, das sei zunächst einmal mit einem Fragezeichen versehen. Der aus der "Annales"-Schule kommende Historiker Philippe Ariès zeigte schon 1960 in seiner detailreichen Studie, dass Kindheit als eigene, vom Erwachsensein unterschiedene Lebens-Phase sich bereits im 16./17. Jahrhundert herauszukristallisieren beginnt. Ariès demonstriert das sehr anschaulich von der Kleidung bis zur sich verändernden familialen Gefühlswelt, von den Schulklassen und Internaten bis zur bildenden Kunst, in der die weltliche Familie und ihre Kinder ab dem 17. Jahrhundert als neue Motive auftauchen.

    Freilich ist Ariès‘ Material auf Frankreich bezogen, und in den deutschen (Klein-)Staaten gab es sehr früh ähnliche Entwicklungen - Ingeborg Weber-Kellermann hat darüber gearbeitet. Das Baden-Badener "Museum für Kunst und Technik" aber ist dem 19. Jahrhundert gewidmet und muss so tun, als sei das Rad erst da erfunden worden. Ganz falsch ist das ja nicht: Industrialisierung und Emanzipation des Bürgertums gaben der Pädagogisierung des Kindes einen ungewöhnlichen Schub. Die Schulpflicht ist im Flickenteppich der deutschen Staaten zwar unterschiedlich schnell eingeführt worden (wirklich durchgesetzt wurde sie erst in der Weimarer Republik); aber der Prozess, wie aus kleinen arbeitenden Erwachsenen, die im Mittelalter einfach so mitliefen, Kinder gemacht wurden, die belehrt und geschützt werden mussten, und wie aus ökonomischen Beziehungen die affektiv aufgeladene Kleinfamilie entstand, das lässt sich anhand von Bildern und Realien sehr schön nachzeichnen.

    "O du liebes Einmaleins/Hätt‘ ich dich im Köpfchen/Wie mein Turteltäubchen/Körnchen hat im Kröpfchen". Mit solchen Sinnsprüchen wurden Ende des 19. Jahrhunderts Zeichnungen für das brave Kind garniert. "Aus dem wird was!" steht, mit Ausrufezeichen, neben der Abbildung des Strebers, der neben einem Dampfmaschinen-Modell die Bücher wälzt. "Aus dem wird nichts", heißt es drohend neben dem Holzstich eines Fratzenschneiders, der sich im Spiegel beäugt. Na, wenigstens Schauspieler könnte er doch werden, möchte man heute entgegnen. Beeindruckend, die sehr engen, die Haltung formierenden Schulbänke, historischen Babystühle, Kinderwägen und – betten, die Schönschreibhefte – wer schön schrieb, war schon damals beliebt. Die Schule bestimmte den Tagesablauf, die Eisenbahn vereinheitlichte die Uhrzeit in Deutschland. Enkel lasen ihren analphabetischen Großeltern nun Bücher vor, während die Gewerbeordnung in Baden 1871 dekretierte, "Kinder unter 12 Jahren" dürften zu einer "regelmäßigen Beschäftigung" nicht angenommen werden. Zu einer unregelmäßigen offenbar schon.

    Im kunsthistorischen Teil zeigt die Ausstellung die Kinder des Bürgertums, die ab 1800 als Individuen bildwürdig wurden – in idealisierenden Posen, wie denen des thronenden Jesuskinds oder des kleinen Herrschers; nur dass der Mini-Imperator statt Reichsapfel oder anderen Macht-Insignien nun Löffel und Brezel in der Hand hat. Künstler wie Karl Wabel zeichnen in ihren Pastellen dann die Entwicklungsstadien einzelner Kinder in ihren Gesichtszügen nach – das ist 1864, lange bevor Jean Piaget die kindliche Entwicklung psychologisch untersuchte.

    "Wir haben was ausgegraben, also wir sehen uns durchaus als Leute die Schätze heben. Es gibt tolle Kinderporträts, das ist kein dominantes Genre in den großen Museen, aber die Werke sind profund."

    Sagt Kurator Matthias Winzen. Man musste die angeblich unschuldigen Kinder einerseits also schützen (sofern sie nicht im Arbeits- oder Waisenhaus waren, da galt das offenbar nicht); andererseits waren sie für die bürgerlichen Eltern eine Investition in Zukunft und ersetzten in einem zunehmend transzendenzlosen Zeitalter jene Jenseitshoffnung, jenen Lebenssinn, den früher der liebe Gott gestiftet hatte. Ein schöner Daumier-Zyklus konterkariert diese hochtrabenden Ansprüche durch sehr lächerliche Szenen aus dem Pariser Familienalltag. Friedrich Fröbel, der Erfinder des Kindergartens, wird zumindest im Katalog eingehend abgehandelt; auch als Verfechter der Klötzchen-Baukästen hatte er weiten Einfluss - sogar auf den Architekten Frank Lloyd Wright, der die geometrischen Grundformen seiner Kindheit nie vergaß.

    Schöne Gesellschaftsspiele und Dampfmaschinen-Modelle runden die Ausstellung ab, die aber eher ein Appetitanreger ist. Ein so kleines Museum kann ein so großes Thema kaum bewältigen, die Schau greift vor allem auf Material aus dem Baden-Badener Stadtmuseum zurück. Dass das Thema "Kindheit" wichtig ist, zeigt aber die aktuelle Debatte um Pädophile in der katholischen Kirche, in der Odenwaldschule, in grünalternativen Kreisen. Man kann die Zuneigung zu Kindern nämlich gewaltig übertreiben…