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Die Erforschung der Innenwelt der Außenwelt

Es gibt ein neues Interesse an Tagebüchern, deren Zeit längst vorbei schien. Jene von Fritz J. Raddatz führen uns in eine Welt von Akteuren bevölkert, die uns im Kulturbetrieb als Helden vertraut sind und die nun großenteils monströs erscheinen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 06.12.2010
    Diese Tagebücher sind eine Sensation. Das heißt, es geht, im ursprünglichen Sinn des Wortes, um Empfindungen. Dass die mitgeteilten Empfindungen Aufsehen erregen, ist nur ein Effekt. Die von dem Romanschriftsteller, Essayisten und Biografen, dem früheren stellvertretenden Leiter des Rowohlt-Verlags und ehemaligen Feuilletonchef der ZEIT, dem 1931 in Berlin geborenen und in Hamburg lebenden Autor hier in wahrhaft epischer Breite erzählten Ereignisse und Gefühle umkreisen in ihrer tiefsten Schicht ein Erlebnis, das gleich zu Anfang mitgeteilt wird.

    Aus einer tief traumatischen Situation im Erleben mit dem ihn verführenden Vater, speist sich eine lebenslange Überempfindlichkeit für Verletzungen und Kränkungen und das Gefühl, von fast allen, auch den meisten Freunden, in irgendeiner Weise missbraucht, benutzt worden zu sein. Daher die ständige Bereitschaft, sich von den anderen zu distanzieren und sich selbst von Grund auf infrage zu stellen.

    Raddatz: "Ich glaube nicht, dass die nur bei mir vorkommt. Immerhin gibt es ja von Herrn Goethe den Satz: Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. In jedem Menschen ist auch eine Art Lebenszittern, wie Thomas Mann das einmal sehr schön ausdrückte. Es ist ja nicht nur Seelenschau bei mir und nicht nur Katastrophismus, sagen wir mal, es gibt ja auch durchaus Momente auch in diesem Tagebuch, nicht nur in meinem Leben, die glücklich oder erfüllt oder von Schönheit gar trunken sind."

    Raddatz' Tagebücher führen uns in eine Welt, von Akteuren bevölkert, die uns im Kulturbetrieb als Helden vertraut sind und die nun großenteils monströs erscheinen, getrieben von Ruhmsucht, Neid und maßloser Selbstbezogenheit. Am unsympathischsten von allen der Literaturwissenschaftler Hans Mayer: geprägt von (abstoßender) Eitelkeit will er immer der Erste und Beste sein, selbst bei Totenreden, die ihn als "den engsten Freund der jeweils frisch Verstorbenen" zeigen sollen.

    Und wer sind die Freunde? Die engsten sind Günter Grass, Paul Wunderlich und Rolf Hochhuth. Was verbindet sie? Miteinander vereinbare Vorstellungen von Literatur und, wenn auch viel schwächer, übereinstimmende Ideen vom Leben, teilweise auch gemeinsame Ideen, wie der Aufbau eines Museums für die eigenen Nachlässe. Aber auch Grass und Hochhuth erscheinen letztlich unerträglich mit ihrem "Ich-Ich-Ich-Gerede".

    Raddatz: "Das Seltsame ist, dass ich mich sehr oft darüber weggesetzt habe. Natürlich muss ja jeder schöpferische Mensch auch sein eigenes Sonnensystem sein, und Ich Ich Ich, also, ich habe das eigentlich selten als ganz schlimm empfunden, manchmal als störend, weil es mich als Gesprächspartner beiseite schob. Aber dann gab es ja wieder Abende oder Tage oder Wochen, je nachdem, wie lange ich mit dem Jeweiligen zusammen war, sprach, korrespondierte, telefonierte, wo es ganz anders war. Ganz exzessiv so bei Grass. Es gab wunderbare gemeinschaftliche, gemeinsame Abende, an denen er auch an meiner Arbeit teilnahm, und dann mitten in dem Abend drehte sich wie ein Schiff vom Winde die ganze Atmosphäre und es geht nur noch Ich Ich Ich Ich."

    Allen Begegnungen, von denen Raddatz erzählt, ist eine Gegen- und Unterströmung eigen: der Wunsch nach Rückzug. Bereits 1982 das Gefühl, "am Ende des Lebens angelangt" zu sein, unaufhaltsam einem "regelrechten physischen Verfall" entgegenzugehen. Nicht weniger katastrophal das Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die Schleimer und Karrieristen sind, die sich so verflucht normal geben und dabei stillos und ohne jede Eleganz, ohne jeden Charme sind. Aber auch die anderen wenden sich von ihm ab.

    Ich sei ihm zu 'hoch' - er wisse genau, wer ich sei. Sprach's und ging vor meinen Augen in den Dunkelraum. Das, meinte Thomas Brasch, wenn er mich zu 'mächtig' nannte. Ein gutes Wort auf der Suche nach dem Grund, warum Menschen - erst von mir fasziniert - mich gleichsam abstoßen, sich retten ... Es ist irgendeine 'Über'-Spannung in mir oder an mir.

    Liest man diese Tagebücher allein mit dem Blick des Voyeurs, um einen Einblick in die Kulissenschieberei und die Klatschmaschinerie des Kulturbetriebs zu gewinnen, wird man mit bissigen, glänzend und viel Humor geschriebenen Schilderungen reich belohnt. Und diese Einstellung ist durchaus legitim, der Autor bietet sie an. Wer diese Tagebücher mit dem Ressentiment zu lesen beginnt, ein Tausendsassa und als kapriziös erscheinender Hallodri werde hier nur exhibitionistisch Skandal an Skandal reihen, angereichert mit Tausenden von Details, die außerhalb dieser Binnenwelt wenig zeitdiagnostischen Wert haben, wird dafür auch Belege finden. Ihm aber entgeht das Entscheidende, dass es sich hier nämlich um eine Erforschung der Innenwelt der Außenwelt (die wir Kultur und Kulturbetrieb nennen) handelt.

    Diese Tagebücher sind gleichsam ethnologische Erkundungen des "inneren Auslands", des "inneren Afrikas" deutscher feuilletonistischer Kulturlandschaften. Und nicht nur dies. Es ist auch eine Geschichte hoch dramatisierter Welterfahrung. Raddatz exemplifiziert sie an sich selbst und seinen engen schwulen Freunden, vor allem an Hubert Fichte, der hier wie eine einzige Selbstinszenierung erscheint. Erkennt Raddatz diesen dramaturgisch durchgestylten Narzissmus so scharf an einem anderen, weil er ihn von sich bestens kennt und ihn an sich selbst für verachtenswert hält?

    Raddatz: "Ich glaube, es war gar keine wirkliche innere Trennung, sondern es waren auch, wie man an der Nordsee das nennt, 'die Gezeiten'. Es kam mal die Woge fast des Liebevollen, des Freundschaftlichen zumindest, und dann kam irgendeine, ich nenne das Zickigkeit oder von mir aus Tuckigkeit. Immerhin hat der sterbende Mann mich ja noch einen Tag vor seinem Tod angerufen, was ja unter anderem beweist, dass ich ihm nicht ganz gleichgültig war."

    Raddatz' Selbstaussage "Es klappt eben nur noch die Inscenierung" und sein vernichtendes Urteil über den an maßloser Selbstüberschätzung und Sucht nach Berühmtheit leidenden Hubert Fichte sind fast deckungsgleich. Nach seinem Besuch bei Claude Lévi-Strauss bezichtigt sich Raddatz der "reinen Hochstapelei":

    Ist es ein ewiges 'Penis zeigen', ein - noch immer - Ausruf: 'Ich bin der Größte', jenes alberne 'Außen-gesteuert-Sein' ...?"

    Hier entwickelt Raddatz einen introspektiven, selbstethnographischen Blick, wenn er das ungeliebte Kind in sich in Aktion sieht, das Kind, das sich ständig Ersatzlieben holt. Fast wie eine kriminelle Tat beschreibt er seine "falschen Interviews" als "Schokoladenklauen” und als "Süßigkeitsersatz”. Hier gibt er selbst eine Antwort auf die Selbstbefragung, was er falsch mache und was das "tückische Gesetz” in seinem Leben sei.

    Was kann einen Autor dazu bewegen, gemäß Rousseaus Formel "Alles sagen", tatsächlich das eigene Lebensdrama und den zehrenden Wunsch nach Respekt in all seinen Facetten vor einem sensationsgierigen Publikum auszubreiten? Hat es eine heilende und sedierende oder erregende, masochistische, also wollüstige Funktion, sich einem anonymen Publikum und den mit spitzer Feder lauernden Kritikern auszuliefern, sich wie ein Opferlamm zur Verfügung zu stellen?

    Raddatz: "Manchmal bereue ich, dass ich es überhaupt publiziert habe. Das geht auch immer hin und her, dass ich sage, so, ich habe mich nie irgendeiner Sache geschämt oder geniert. Warum soll ich das nicht auch öffentlich zugeben, zumal es ja ernste und sehr reflektierte Passagen, übrigens auch über die Person und das Individuum Fritz Raddatz in den Tagebüchern gibt."

    Schreiben hat immer, wenn es ernsthaft ist, mit einem Zwang, einer Notwendigkeit zu tun, in diesem Fall: diese Tagebücher zu schreiben und sie zu veröffentlichen. Sie aus dem Binnenraum des Erlebten herauszuschleudern, mit dem geheimen Wunsch, im eigenen Wesen erkannt zu werden. Schaut, so ist es mir ergangen! Warum liebt ihr mich nicht. Will Raddatz schließlich auch für seine Angriffe geliebt werden? Erwartet er für ausgeteilte Schläge "Süßigkeiten"?

    Die introspektive, selbstanalytische Arbeit taucht bei Raddatz nur sporadisch auf, wenn er fragt, "was ist mein Lebensgesetz?" Oder: "Was tun wir alle miteinander uns an?" Warum fragt er sich nicht ganz grundsätzlich: Sind das die richtigen Freunde, Menschen, die derart in der Öffentlichkeit stehen und deren Ruhmsucht in solch krassem Gegensatz zu ihrer Kleinheit als Privatpersonen steht?

    Raddatz: "Es gibt ja beides. Also sagen wir mal, einer, der mir besonders wichtig war und über dessen Tod ich nach wie vor nicht hinweg bin, ist Paul Wunderlich - oder war, muss man inzwischen sagen -, wo es ja eine über 50 Jahre währende, ohne Unterbrechung währende wunderbare Freundschaft war. Also da kann man ohne Vorbehalt sagen, der richtige Freund. Und dann gab es manchmal, auch übrigens bei den sogenannten Bossen, eine von mir vermutete Freundschaft. Und dann kam plötzlich ein Riss und ein Scherbenhaufen."

    Viele der Kränkungen, von denen Raddatz erzählt, waren vorhersehbar, angelegt in seiner Erwartungshaltung, in der Wahl seiner Freunde und Liebespartner. Das ist ein Drama. Ist die Veröffentlichung der Tagebücher ein Schritt in die Veränderung oder eine Manifestierung des Gelebten?

    Fritz J. Raddatz hat sein Leben auf der Bühne einer Gesellschaft inszeniert, die nichts von dem Glamour und dem Charme der französischen Hauptstadt an sich hat. Hätte er dort gelebt - und nicht nur seine gelegentlichen, von ihm so beglückt erlebten Auftritte als Schriftsteller gehabt -, wäre er als Autor zufriedener geworden, aber er hätte seine ganz offensichtliche Wollust in der Rolle des Verletzten und Gekränkten nicht gelebt. Der deutsche Mief und das oft selbst verordnete Mittelmaß der Deutschen waren nun einmal der von ihm selbst gewählte Rahmen für den Verkannten, den zu Unrecht Geächteten.

    Was bedeutet die Veröffentlichung dieser Tagebücher für den Schriftsteller Fritz J. Raddatz? Belastet die ausgebreitete Intimsphäre atmosphärisch viel zu stark die Texte, lenken sie ab von dem Romancier, dem Biografen und Essayisten, oder geben sie der literarischen Textebene eine außerliterarische und für den Text essenzielle Tiefe und schlagen sie auch den Bogen zu seiner Autobiografie?

    Sein Leben hat sich geradezu in einem Nähebegehren verzehrt, und doch hat er alles getan, um durch seine Erscheinungsform - den Phänotyp des perfekten Flaneurs und Kosmopoliten - sich die Menschen auf Distanz zu halten.

    Fritz J. Raddatz: "Tagebücher. Jahre 1982 - 2001".
    Rowohlt Verlag Reinbek 2010, 944 S., 34,95 Euro