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"Die erste Leiche vergisst man nicht"

Volker Uhl, Kriminalhauptkommissar im schwäbischen Ludwigsburg, gründete die Internetplattform schreibender Polizisten, aus deren Fundus er nun das Buch "Die erste Leiche vergisst man nicht" zusammengestellt hat. Wie in einem Krimi geht es darin um Verbrechen, doch den zwei Dutzend Polizeibeamten und -beamtinnen stehen häufig soziale Situationen im Mittelpunkt.

Von Florian Felix Weyh | 25.10.2005
    Ganz nah dran: Erfahrungen von Polizistinnen und Polizisten.
    Ganz nah dran: Erfahrungen von Polizistinnen und Polizisten. (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Literatur wird gemeinhin von Geistesriesen betrieben, und Riesen werfen Schatten. So große, dass im Dunkel ihrer abgewandten Seite ganze Welten verschwinden – die Berufswelt zum Beispiel. Beklagt wurde das schon von den Realisten im 19. Jahrhundert, doch wirklich interessant fanden die Schreibarbeiter aller Nationen das Leben in den Fabrikhallen, Kontoren, Werkstätten nie. Mit einer gravierenden Ausnahme: Was Polizisten beruflich treiben, interessierte Schriftsteller schon immer. Aber deckt sich das Bild, das die Kriminalliteratur vom Polizeiberuf entwirft, auch nur halbwegs mit der Wirklichkeit? Wir ahnen es: nein. Für Polizisten muss dies ein Quell täglicher Ärgernisse sein, denn ständig stoßen sie auf Menschen, die vom Lesen, Hören, Sehen genau wissen, wie ihr Beruf wirklich funktioniert. In diesem Sinne ist eine Gegendarstellung überfällig, zumindest eine perspektivische Korrektur, und sie kommt von den Polizeipoeten.

    Volker Uhl, Kriminalhauptkommissar im schwäbischen Ludwigsburg, ist so ein Barde in Uniform. Er gründete die Internetplattform schreibender Polizisten, aus deren Fundus er nun ein Buch zusammengestellt hat: »Die erste Leiche vergisst man nicht«. Wie in einem Krimi geht es darin um Verbrechen, doch nicht nur, denn die zwei Dutzend Polizeibeamten und -beamtinnen – vom einfachen Streifendienstler bis hin zum Leitenden Kriminaldirektor – haben einen anderen Fokus auf ihren Beruf als ein Kriminalschriftsteller. Auffallend häufig stehen soziale Situationen im Mittelpunkt, um die der Normalbürger den Polizisten nicht beneidet: Wie überbringe ich nach einem tödlichen Unfall den Angehörigen die Hiobsbotschaft? Wie stehe ich Opfern schlimmer Gewalttaten bei? Wie fühle ich mich, wenn ich entgegen der eigenen Einschätzung formales Recht exekutieren muss, etwa eine integrierte und intakte Asylbewerberfamilie aufgrund eines Gerichtsbeschlusses auseinander zu reißen habe? Diese belastende Seite des Berufs kommt in der Genreliteratur selten zur Sprache. Bei den Polizeipoeten ist sie für die meisten Autoren wohl die Initialzündung, zur Feder zu greifen: nicht Lust an Spannung, sondern Hoffnung auf Entlastung diktiert ihnen die Worte.

    Entsprechend die gewählte literarische Form: meist autobiographisch-dokumentarisch, manchmal mündlichen Aufzeichnungen nachgeschrieben, bei fiktionalen Erzählformen geradlinig-realistisch. So fällt das Meisterstück des Buches schon deswegen auf, weil es eine Haltung demonstriert, die von der Betroffenheitsprosa der anderen Schreiber abweicht: »Emils Weg in die Ewigkeit« von Christian Bonnaire ist eine sarkastische Stakkato-Prosa über den Unfalltod eines Rasers. Im Zeitrahmen zweier gedehnter Sekunden wird beschrieben, wie sich die physikalischen Aufprallkräfte auswirken und den weichen Körper hinterm Lenkrad bis zur Unkenntlichkeit deformieren. Dieser knapp fünfseitige Text gehört in die Schulbücher der Mittelstufe, denn seine ungerührte Präzision führt schlagend vor Augen, wie irreversibles Leid aus einer Kombination von Unachtsamkeit und Mutwillen entsteht. Am Schluss – Sekunde 4000 – klingelt die Polizei bei der Witwe des Rasers, und es schlösse sich an, was die anderen Poeten auf ihre Weise schildern: der qualvolle Botendienst des Todes.

    Natürlich sind die Texte von unterschiedlicher Qualität – manche metaphorische Kühnheit wie die Rede von den »vielen übermittelten Karfreitagen« sticht kurios ins Auge –, doch erzählen sie alle von Welten, die man als normaler Leser nicht kennt und eigentlich auch nicht kennen lernen will. Den Blick für Fremdes und Unbekanntes zu öffnen, ist schon immer die vornehmste Funktion der Literatur gewesen, und hier befinden sich die Polizeipoeten auf der sicheren Seite des Feuilletons. Wenn sie ihre schriftstellerische Heimarbeit dann auch noch mit der Routine des Herausgebers Volker Uhl oder der des bereits als Krimischreiber geübten Streifenbeamten Ulrich Hefner verrichten, hört man ihnen gerne zu. Beim nächsten Kontakt mit den – manchmal! – Hilflosen in Uniform wird man sich des Buches erinnern und wissen: Der Job ist nicht so aufregend, wie ihn die Legendenproduzenten hinterm Schreibtisch gerne schildern, sondern frustrierend, mühselig und nervenzehrend.


    Volker Uhl (Hg.): "Die erste Leiche vergisst man nicht"
    Piper, 222 Seiten, 8,90 Euro