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Die erste Zigarette, der erste Kuss

England im Jahr 1982. Der 13-Jährige Jason Taylor ist ein empfindsamer Junge, der gern Bücher liest, heimlich Gedichte schreibt. Seine bürgerliche Erziehung hat ihn geschult, Konflikte mit Worten zu lösen - in einer Umgebung, in der die Faust immer das letzte Wort hat, nicht sehr hilfreich. Selten ist die Hackordnung, sind die Regeln und Rituale, die Positionskämpfe und Intrigen in der Welt der 13- bis 15-Jährigen so sensibel und subtil beschrieben worden wie in David Mitchells Roman "Der dreizehnte Monat".

Von Martin Ebel | 25.01.2008
    Jason Taylor hat es wahrhaftig nicht leicht. 13 ist er, genau in dem Alter, da die kindlichen Sicherheiten davongetrieben sind und der Hafen des Erwachsenseins noch lange nicht in Sicht. Er lebt in Black Swan Green, einem Dorf in der toten Mitte Englands, das nur jene Einwohner akzeptiert, die schon zu Zeiten der Rosenkriege dazu gehörten. Ein unsichtbarer Graben trennt die Siedlung, in der seine Eltern ein Häuschen besitzen, von den weniger vornehmen Vierteln der Bauern und Proletarier. England ist eine Klassengesellschaft im Jahr 1982, da David Mitchells Roman spielt. Wer wohin gehört in dieser Gesellschaft, darüber entscheiden Herkunft und Einkommen. Mit viel Mühe kann man es ein Stück hinauf schaffen, ohne Federlesens aber auch tief hinunter gestoßen werden.

    Wohin aber ein 13-Jähriger innerhalb seiner Peergroup gehört, auf der ständig schwankenden sozialen Stufenleiter der Anerkennung und Beliebtheit, ist viel schwieriger auszumachen. Jason Taylor kennt die ungeschriebenen Regeln seiner Altersgenossen. Er weiß, dass Wollmützen "schwul" sind, dass man nicht mit seiner Mutter in einer Kinoschlange gesehen werden sollte und man vor allem keinen Mitschüler verpetzen darf. Er kennt die feinen Unterschiede der Namens- und Spitznamensgebung und kann daraus die Position jedes einzelnen erkennen - die der Tonangeber und Bandenchefs, ihrer Hilfstruppen, die der Aussätzigen und auch seine eigene, die im Lauf dieses Romans ein bisschen nach oben steigt, dann aber wieder tief nach unten rutscht.

    Selten ist die Hackordnung, sind die Regeln und Rituale, die Positionskämpfe und Intrigen in der Welt der 13- bis 15-Jährigen so sensibel und subtil, so detailliert und phantasievoll beschrieben worden wie in David Mitchells Roman "Der dreizehnte Monat". Seinen Helden hat der Autor mit erheblichen Handicaps ausgestattet. Jason ist ein empfindsamer Junge, der gern Bücher liest und heimlich Gedichte schreibt. Seine bürgerliche Erziehung hat ihn geschult, Konflikte mit Worten zu lösen; das ist in einer Umgebung, in der die Faust immer das letzte Wort hat, anfangs nicht sehr hilfreich (später dann allerdings doch). Sein schlimmstes Handicap sitzt auch noch im Zentrum der Wörterwelt: Jason stottert, und er muss alles tun, um dieses Stottern vor Mitschülern und Lehrern zu verbergen, um der totalen sozialen Ächtung zu entgehen - wobei dieses Verbergenwollen den Sprachfehler eher noch verstärkt. Den "Henker" nennt Jason sein Handicap und stellt ihn sich als Würger vor, der mit schlangenhaften Fingern seine Zunge blockiert und seine Luftröhre zudrückt. Wörter, die mit s oder mit n beginnen, mag der Henker besonders gern; bevor Jason also einen Satz freigibt, prüft er ihn auf mögliche Stotterwörter und weicht allenfalls auf Synonyme aus, wobei er noch darauf achten muss, sich nicht im Sprachregister zu vergreifen und etwa statt "sad", traurig, "melancholic" zu wählen - kein Junge in der achten Klasse einer Gesamtschule benutzt so ein Wort.

    Kurzum: Wenn Jasons Stottern dem Autor als Metapher für die Leiden eines 13-Jährigen dient, so befördert es zugleich und ganz handfest seine Phantasie, stachelt seine Ausdrucksfähigkeit an und aktiviert seinen Wortschatz. Natürlich weiß Jason nicht, dass es eine poetische Tradition gibt, die bewusst Handicaps einsetzt, um Poesie zu gewinnen - diese Tradition pflegt noch die zeitgenössische französische Dichterschule von Oulipo, die bestimmte Vokale oder Konsonanten wegzulassen vorschreibt. Aber David Mitchell kennt diese Tradition, und der Vergleich ist mit Sicherheit nicht zu weit hergeholt.

    "Der dreizehnte Monat" erzählt also von der Geburt eines Dichters aus dem Kampf gegen ein Handicap. Es ist ein Entwicklungsroman, der den Lauf eines Jahres nachvollzieht und dessen Kapitel mit den Monaten voranschreiten, ohne dass das wie ein starres Schema wirkte oder gar wie ein literarisches Korsett. Natürlich beherrscht das Thema des Überlebens - und die Stellung innerhalb der Peergroup ist für einen 13-Jährigen eine Überlebensfrage - dieses Jahr und diesen Roman. Aber wunderbar behutsam erweitert David Mitchell den Blick seines jugendlichen Helden. Weil dieser selbst ein scharfes Bewusstsein für Sprache hat, ahnt er bald, dass hinter den Kabbeleien seiner Eltern mehr steckt, als Wortwitz und Schlagfertigkeit zeigen. Das großartige Bild des Vaters bekommt Risse, als er ihn bei einem Betriebsausflug begleiten darf. Er erlebt ihn erst wortbrüchig, dann betrunken - und als Katzbuckler vor seinem Chef. Dass der Vater schließlich die Familie verlässt, ist dann kein solcher Schock mehr; mit dem Wegzug aus Black Swan Green ist für Jason die Kindheit endgültig zu Ende.

    In diesem Jahr, von dem David Mitchell erzählt, hat Jason seine erste Zigarette geraucht, seinen ersten Kuss bekommen, ist durch ein abenteuerliches Gelände gestreift, einer vermeintlichen Hexe und echten Zigeunern begegnet, hat Freunde gewonnen und Illusionen verloren. Vor allem über die Erwachsenen. Das Jahr 1982 ist auch das Jahr des Falkland-Krieges. Und wie William Golding in seinem berühmten Roman "Herr der Fliegen" den mörderischen Krieg der Kinder im Umfeld des Atomkrieges ansiedelt, so zieht David Mitchell eine ähnliche Parallele. Wenn sich Engländer und Argentinier um ein unwichtiges Stück Land im Südatlantik bekriegen, verhalten sie sich wie pubertierende Jugendliche - nur dass im Falklandkrieg junge Menschen sinnlos sterben mussten. David Mitchell lässt Margaret Thatcher, die englische Kriegsherrin, mit folgendem Satz vor einer Schulklasse auftreten: "Wenn ihr verhindern wollt, dass der schlimmste Raufbold an eurer Schule euch weiter schlägt, gibt es nur eine Möglichkeit. Ihr müsst ihm zeigen, dass ihr viel, viel härter zurückschlagen könnt." Dass man, wenn man Verantwortung für ein Volk trägt, Politik nicht als Schulhofrauferei betreiben kann - das begreift schon der 13-jährige Jason.

    David Mitchells vorangehender Roman "Der Wolkenatlas" war ein ungemein ehrgeiziges Projekt, das sechs Geschichten über tausend Jahre bis weit in die Zukunft voraus- und wieder zurückerzählte. "Der dreizehnte Monat" ist vordergründig schlichter gestrickt, gibt sich einen formal strengen Rahmen und hält konsequent die Perspektive des Ich-Erzählers, der zudem weder allzu naiv noch, bis auf wenige Ausrutscher, allzu altklug auftritt. Innerhalb dieser bewusst gesetzten Grenzen ist er von nicht geringerem Reichtum. Die Vielfalt von Bezügen, das Spiel mit den Motiven, ja sogar die spielerische Wiederaufnahme einer Figur aus dem "Wolkenatlas": das ist bewundernswert gemacht. David Mitchell bestätigt damit seinen Rang in der ersten Reihe der englischen Autoren, und "Der dreizehnte Monat" hat das Zeug zum Lieblingsbuch dieses Herbstes.

    David Mitchell: Der dreizehnte Monat. Roman.
    Aus dem Englischen von Volker Oldenburg.
    Rowohlt, Hamburg 2007. 494 S.