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Die EU muss raus aus der Opferrolle

Die Finanzkrise hat die Schwäche der EU bloß gelegt: Sie kann offenbar nur mehr auf Fehlentwicklungen reagieren. Um künftig Krisen vermeiden zu können, braucht es eine neue Debatte über die Entscheidungsmechanismen innerhalb der EU.

Von Gerwald Herter | 24.10.2011
    Ausgerechnet jetzt befindet sich Europa zur falschen Zeit in einer gänzlichen falschen Rolle - in der eines Opfers internationaler Fehlentwicklungen. Die Europäische Union kann offenbar nur mehr reagieren. Mehr noch, sie muss es immer wieder tun, weil oft beschworene, umfassende Antworten jedes Mal aufs Neue fehlen.

    Nicht einmal die Ursachen dieser Finanzkrise haben ihren Ausgang in Europa genommen. Allerdings hat diese Krise die Schwächen der EU bloß gelegt wie keine andere Entwicklung zuvor.

    Auch wenn dies widersprüchlich klingt: Eine wichtige Ursache für die Schwäche der EU galt seit den 50er-Jahren als starkes strategisches Prinzip der Europäischen Integration, als Treibsatz, der Europa voranbringen sollte - die "Methode Monnet". Ob mit der Montanunion oder später mit Euratom und EWG, der große Visionär Monnet, einer der französischen Über-Väter der europäischen Einigung, warb dafür, zunächst die Wirtschaft der Mitgliedsstaaten zu vereinen, im Vertrauen darauf, dass der Rest dann schon folgen würde.

    Das war lange tatsächlich so, nach den Beschlüssen zur Schaffung der gemeinsamen Währung im Vertrag von Maastricht Anfang der 90er-Jahre, folgte dann aber nicht mehr allzu viel: Fortan löste zwar eine Verhandlungsrunde über Vertragsreformen die nächste ab - Amsterdam, Nizza, Lissabon. Sicher machte die europäische Integration Fortschritte, aber nur da, wo sie möglich, nicht dort, wo sie nötig waren.

    Der Befund ist recht eindeutig: Eine Mehrheit der
    EU-Mitgliedsstaaten nutzt zwar die gemeinsame Währung, den Euro, eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik aber fehlt. Ansätze, dies zu ändern, fehlten auf den ersten Blick zwar nicht. Angesichts der französischen Ablehnung mussten verschiedene Bundesregierungen aber nicht en détail erläutern, wie eine politische Union wohl aussehen sollte.

    Französische Präsidenten wiederum hielten hartnäckig an der Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung fest, ohne zu erklären, was diese leisten könnte. Deutschland war ja stets dagegen.

    Warnungen davor, dass die Europäische Union mit ihren unzureichenden Entscheidungsmechanismen nicht mehr regierbar sein würde, wenn ihr erst einmal 20 oder mehr Mitgliedsstaaten angehörten, sie verhallten über die Jahre. Seitdem ist der Widerstand gegen deutsch-französische Initiativen nicht geringer geworden. 27 Mitgliedsstaaten bräuchten tatsächlich eine Art Direktorium, um schnell und angemessen zu entscheiden. Doch dass deutsch-französische Vorschläge überzeugende Wege wiesen, das muss lange her sein.

    Die Europäische Union hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Was kann sie tun, um aus ihr herauszukommen? Eine Vertragsänderung wird gerade diskutiert, es dürfte um Durchgriffsrechte der Europäischen Kommission auf die Haushaltsplanung der Mitgliedsstaaten gehen. Wieder einmal ein Signal, das den so genannten "Märkten" zeigen soll, wie ernst es die EU-Regierungen mit dem Sparen meinen.

    Das wird sicher nicht reichen! Europa braucht beides: Entschlossene Politiker, die endlich einmal stark reagieren und tatsächlich umfassende Lösungen zu bieten haben, und die EU braucht eine neue Debatte über ihre Entscheidungsmechanismen. Bisher sind sie bestens dazu geeignet, Meinungsverschiedenheiten zu zementieren, statt schnelle und angemessene Entscheidungen zu ermöglichen.

    Nein, Europa ist längst keine Frage von Krieg und Frieden mehr, ja, Europa muss demokratisch kontrolliert werden, aber die EU muss auch schnell und angemessen entscheiden können. Dass dies notwendig wäre, zeigt diese Krise und sie zeigt auch, wie weit wir davon entfernt sind. Die Forderung heißt mehr Europa, und das kann nur über Vertragsänderungen führen. Auch wenn es noch so schwierig sein wird, die Zustimmung dafür zu bekommen. Die Europäische Union muss wieder zum Instrument werden, um globale Entwicklungen zu steuern, sie muss aus ihrer Opferrolle um fast jeden Preis hinaus kommen.