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Die EU-Verträge an die Wirklichkeit anpassen

Dass die EU-Verträge geändert werden müssen, darin gibt Europapolitiker Jo Leinen (SPD) Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) recht. Doch anders als die Kanzlerin rechnet er damit, dass Solidarität unter den Mitgliedsstaaten eine wichtige Forderung auf dem EU-Gipfel sein wird.

Jo Leinen im Gespräch mit Christian Bremkamp | 03.12.2011
    Christian Bremkamp: Die Schuldenkrise, die sich in einigen Ländern immer mehr zu einer Schuldenspirale auszuweiten droht, lässt Europa nicht zur Ruhe kommen. Auch im Bundestag wurde gestern wieder einmal heftig über mögliche Gegenmaßnahmen debattiert, angeführt von Kanzlerin Merkel, die in ihrer Regierungserklärung nachdrücklich für eine Fiskalunion warb. Wieder einmal soll alles anders, alles besser werden, sollen europäische Institutionen gestärkt und vor allem Sanktionen gegen Defizitsünder künftig automatisch erfolgen. Nebenwirkung: Die europäischen Verträge müssten dafür in Teilen geändert werden. Jemand, der sich in Letzteren gut auskennt, ist Jo Leinen, Europaabgeordneter der SPD. Er war von 2004 bis 2009 Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Leinen!

    Jo Leinen: Guten Morgen!

    Bremkamp: Herr Leinen, vor fast genau zwei Jahren, als der Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach war, haben Sie geschrieben, Zitat: "Mit Inkrafttreten dieses Vertrages beginnt eine neue Ära für die Europäische Union, die Europapolitik wird demokratischer und handlungsfähiger." Genau das scheint sie im Moment nicht zu sein – hat Kanzlerin Merkel also recht, wenn sie auf Änderungen pocht?

    Leinen: Ja, die Wirklichkeit hat sich verändert, diese Finanzkrise war so nicht voraussehbar oder man hat sie nicht vorausgesehen, und wir haben heute eine Situation, die unakzeptabel ist, die so nicht weitergehen kann, und da muss man die Verträge an die Wirklichkeit anpassen, da hat Frau Merkel recht.

    Bremkamp: Vertragsänderungen zur Erreichung einer Fiskalunion, eine Stärkung der europäischen Institution und automatische Sanktionen gegen Defizitsünder – das will die deutsche Kanzlerin, glauben Sie denn, dass der Rest von Europa das auch will?

    Leinen: Ja, das ist sehr einseitig und wird in Europa auch wirklich misstrauisch beäugt, dass die Deutschen ein Diktat verordnen nur für die Sparpolitik, also für die Union der Stabilität. Das ist aber nur die eine Seite, die andere Seite ist auch eine Union der Solidarität, das heißt, der Vertrag ist auch defizitär für Hilfsmaßnahmen der einen Länder, die stärker sind, zu den anderen, die schwächer sind.

    Bremkamp: Wie also sähe Ihr Gegenmodell aus?

    Leinen: Nun, wir haben ja die Debatte über Eurobonds, wir haben die Debatte über die Rolle der Europäischen Zentralbank, wir haben das No-Bail-out, wie das auf Englisch heißt, also ein Land darf dem anderen nicht zu Hilfe kommen, es sei denn, ganz außergewöhnliche Umstände liegen vor für die Versorgung mit Waren, so steht es im Lissabon-Vertrag, insbesondere mit Energie – man hat also irgendwelche Notstände sich vorgestellt, dass Lebensmittelknappheit oder Energieknappheit kommt. Aber wir haben hier mit der Finanzkrise eine ganz andere neue Lage, und da musste die Stabilität auch kombiniert werden mit der Solidarität, da werden sicherlich viele bei dem Gipfel, aber auch im Europäischen Parlament und sonst wo drauf pochen.

    Bremkamp: Welchen Preis, glauben Sie, wird Frau Merkel zahlen müssen, um ihre Vorstellungen durchsetzen zu können, Stichwort Eurobonds, Stichwort Handlungsspielraum der EZB?

    Leinen: Ja, natürlich muss ein Kompromiss gefunden werden. Europa kann nicht genau an dem Modell genesen, das Deutschland für sich gewählt hat. Andere Länder haben andere Umstände, haben andere Kulturen, da wird man sich treffen müssen. Also wir sind ja doch sehr dominant bei dieser Stabilitätskultur, und es muss dann jetzt da auch nachgegeben werden, dass die Banken sich refinanzieren können, dass die Europäische Zentralbank auch intervenieren kann und nicht immer am Rand der Legalität handeln muss. Also ich denke, insbesondere bei der Zentralbank wird es Bewegung geben, die muss Preisstabilität im Auge haben, aber auch Wirtschaftswachstum.

    Bremkamp: Bei den Eurobonds, da hat die CSU heute noch mal ganz deutlich gemacht, nicht mit uns, da weichen wir nicht von der Stelle.

    Leinen: Na gut, das haben wir in den letzten 18 Monaten oft gehört, und wenn wir in den Abgrund schauen, wenn das Ganze zu scheitern droht, dann sind solche Sätze – bis hier hin und nicht weiter – sind Makulatur. Niemand will den Euro aufs Spiel setzen, vor allen Dingen die Deutschen nicht, unsere Exportwirtschaft profitiert da kräftig von und damit das ganze Land. Es ist nun mal eine Tatsache, dass wir eine Währungsunion haben, wir haben einen Binnenmarkt, aber die Länder haben unterschiedliche Wirtschaftskraft, und das wird sich auch nicht ändern. Nicht jeder kann deutsche Autos produzieren, deutsche Maschinen produzieren, da sind wir auf der glücklichen Seite. Und andere Länder müssen sich Geld zu viel teuren Zinsen beschaffen. Das ist ja ein Handicap in einem gemeinsamen Währungsraum, und Eurobonds würden diese Zinslast mildern, und zwar für alle. Und da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

    Bremkamp: Kommen wir noch einmal auf die Europäische Zentralbank zu sprechen. Zumindest hinsichtlich der EZB finden sich im Vertrag von Lissabon ja eindeutige Zeilen, da steht: Ihre Unabhängigkeit wird durch das Verbot, Weisungen anderer Organe der EU, der Regierungen und der Mitgliedsstaaten oder einer sonstigen Stelle anzunehmen, gewährleistet. Wenn Deutschland und möglicherweise auch Frankreich jetzt vorpreschen und Änderungen an den Verträgen fordern, so wie Sie es für richtig halten, für wie groß halten Sie die Gefahr, dass andere Länder ebenfalls auf die Idee kommen könnten, Passagen ändern zu wollen, zum Beispiel was den Aktionsradius der EZB betrifft?

    Leinen: Ja klar, das Spiel eröffnet sich, wenn eine Vertragsänderung ansteht. Mit einem Konvent oder auch nur einer Regierungskonferenz kann ja nicht nur Deutschland und Frankreich Wünsche äußern, da werden andere kommen und ihre Rechnung aufmachen, und das kennt man in Europa. Das gibt dann viel Palaver, es wird auch diskutiert und verhandelt, und am Ende muss ein Ergebnis stehen. Das Ergebnis muss sein, diese Eurozone muss handlungsfähig bleiben, sowohl auf der Seite der Währungsstabilität, des Euro, aber auch auf der Seite des Wirtschaftswachstums, weil nur vom Sparen allein wird die Rechnung nicht aufgehen. Und wenn die Konjunktur nicht anspringt, wir nicht mehr Geld auch in den Wirtschaftskreislauf bringen können und vielleicht noch andere Ideen haben für wirkliche Investitionen in den Ländern, dann wird man immer nur sparen, man wird sich kaputt sparen und am Ende sagen, Operation gelungen, aber Patient tot.

    Bremkamp: Den Konvent haben Sie gerade erwähnt, dazu eine ganz praktische Frage: Wenn wir auf den Lissabon-Prozess zurückblicken, der hat Jahre gedauert – wie schnell lassen sich Verträge auf europäischer Ebene überhaupt ändern?

    Leinen: Also die Einführung des Binnenmarktes seinerzeit wurde an einem Tag beschlossen, bei einem Gipfel in Italien, in Mailand. Also es kann ganz schnell gehen, wenn es ganz schnell gehen muss. Der Lissabon-Vertrag war ja der Verfassungsvertrag, also eine Generalüberholung der Europaverträge. Jetzt ist es ja viel enger auf eine Fiskalunion oder eine Wirtschaftsunion begrenzt, darüber lässt sich in wenigen Monaten ein Ergebnis produzieren. Die Zeit drängt ja auch, wir haben nicht mehr jahrelang wirklich Luft, so lange auch uns zu streiten.

    Bremkamp: Die Zeit drängt, sagen Sie, dazu die Abschlussfrage: Herr Leinen, Kanzlerin Merkel trifft sich ja am Montag mit Frankreichs Staatspräsident Sarkozy, am Donnerstag dann findet erneut ein Gipfel in Brüssel statt, wird das die Woche der Wahrheit?

    Leinen: Es wird die Woche der Weichenstellung, jetzt oder nie. Die Märkte werden nicht mehr länger warten, aber wie das in Europa ist, wird ein Auftrag erteilt wahrscheinlich an den Frühjahrsgipfel im Februar oder dann im März, endgültig den Sack zuzubinden und diese Vertragsänderungen auf den Weg zu bringen. Es muss ja eine Regierungskonferenz einberufen werden, das wird nicht jetzt am Donnerstag passieren, sondern bei dem nächsten Gipfel im Frühjahr. Dann allerdings muss das ganze Gebäude stehen.

    Bremkamp: Der SPD-Europaabgeordnete und frühere Vorsitzende des Verfassungsausschusses im Europaparlament, Jo Leinen, war das. Herr Leinen, vielen Dank!

    Leinen: Auf Wiederhören!

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