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Die Fallkunst der Erbsenlaus

Wenn der Erbsenlaus ein Fressfeind zu nahe kommt, lässt sie sich vom Blatt fallen, auf dem sie gerade sitzt. Das Insekt schafft es dabei, immer auf den Beinen zu landen. Dahinter steckt ein simpler Trick.

Von Lucian Haas | 25.02.2013
    Für den Evolutionsbiologen Moshe Inbar von der Universität von Haifa in Israel ist die Erbsenlaus ein faszinierendes Forschungsobjekt: Vor zwei Jahren fand er heraus, dass die Läuse den Atem von Kühen oder Ziegen erkennen können. Wenn sich das Vieh beim Weiden den Pflanzen nähert, auf denen die Läuse sitzen, lassen sich diese sofort von den Blättern fallen, um nicht mitgefressen zu werden.

    "Läuse leben in Kolonien auf den Pflanzen. In unseren Versuchen fielen sie zu Dutzenden oder gar zu Hunderten herab, wenn sich ein Säugetier näherte. Dabei haben wir beobachtet, dass die meisten von ihnen immer auf den Beinen landen, also bäuchlings und nicht auf dem Rücken."

    Die meisten, das heißt: Statistisch gesehen waren es bei den Experimenten mehr als 95 Prozent. Moshe Inbar fragte sich, wie die Läuse das wohl anstellen? Um das herauszufinden, holte er sich Hilfe von einem Spezialisten am Israel Institute of Technology, kurz Technion. Gal Ribak erforscht dort seit Jahren die Aerodynamik und Flugkünste von Insekten.

    "Zu Beginn der Studie dachten wir, dass die Erbsenläuse sehr dynamische Bewegungsmanöver machen müssen, um die passende Ausrichtung zu erreichen."

    Doch als die Forscher fallende Läuse mit Hochgeschwindigkeitskameras filmten, stellten sie fest: Die Tiere machen nichts – beziehungsweise fast nichts. Sobald sie sich vom Blatt lösen, nehmen sie nur sofort eine spezielle Körperhaltung ein, die sie bis zur Landung nicht mehr verändern: Sie strecken sowohl ihre langen Fühler am Kopf als auch ihre zwei langen Hinterbeine bogenförmig nach oben. Computersimulationen der aerodynamisch wirksamen Kräfte belegen die Wirksamkeit dieser Stellung. Gal Ribak:

    "Diese Haltung besitzt eine sogenannte statische aerodynamische Stabilität. Das heißt: Wenn die Läuse fallen, dreht der Luftwiderstand an den Beinen und Fühlern sie automatisch in die richtige Position, und zwar die Stellung, bei der sie bäuchlings aufkommen. Das ist sehr elegant, weil es den Insekten erlaubt, dieses Manöver ganz einfach auszuführen. Sie müssen nur einmal diese Haltung einnehmen, und alles andere wird von der Schwerkraft erledigt."

    Moshe Inbar fragte sich, wozu die Erbsenlaus diesen Falltrick entwickelt hat. Denn die Insekten sind so klein und leicht, dass sie auch dann keinen Schaden nehmen würden, wenn sie auf dem Rücken landeten. Weitere Versuche zeigten aber, dass es den Läusen entscheidende Überlebensvorteile bringt, richtig herum zu fallen.

    "Wenn die Läuse von einer Pflanze auf den Boden fallen, ist das so, als würden sie in der Wüste ausgesetzt. Wer weiß, ob sie wieder eine Wirtspflanze finden. Sie können verdursten oder verhungern. Deshalb werden sie selbst in dem schlimmen Fall, dass sie sich von den Blättern stürzen müssen, um nicht gefressen zu werden, alles tun, um ihre Wirtspflanze nicht zu verlassen."

    Ziegen knabbern typischerweise erst die oberen Blätter der Pflanzen ab, die unteren lassen sie stehen. Wenn die Läuse nun von den oberen Blättern fliehen, haben sie gute Chancen, im Fallen noch auf tieferen Blättern zu landen. Und wenn sie das bäuchlings tun, können sie sich viel besser dort festhalten.

    "Am Ende ihrer Beine besitzen Erbsenläuse eine Art Haken und eine Griffplatte, mit denen sie sich an die Blattoberflächen klammern können. Dabei reicht es ihnen, im Sturz mit nur einem oder zwei Beinen ein Blatt zu berühren, um den ganzen Körper aufzuhalten und nicht mehr weiter zu fallen."

    Ziegen oder Kühe sind zwar Vegetarier, doch für die Läuse, die auf den Pflanzen sitzen und leicht mitverspeist werden, seien es dennoch natürliche Feinde, erklärt Moshe Inbar. Im Zuge der Evolution habe die Erbsenlaus den aerodynamisch stabilen Sturz ins Ungewisse als lebensrettende Anpassung entwickelt.