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Die Faszination des leisen Tons

Seinen ersten Roman "Ein unauffälliger Mann" hat Charles Chadwick mit 72 Jahren veröffentlicht. 30 Jahre hatte er daran gearbeitet, aber zügig die nächsten folgen lassen. Nun ist "Brief an Sally" erschienen - die Lebensgeschichte einer ebenfalls "unauffälligen" Frau.

Von Annemarie Stoltenberg | 10.01.2011
    "Lassen Sie es mich so sagen: Ich kenne – wie wir alle vermutlich – viele ältere Damen, die Geschichten zu erzählen haben, die auf ihr Leben zurück blicken. Sie haben viel, das sie bedauern, und viel, auf das sie stolz sind. Ich denke, ältere Menschen, die auf ihr Leben zurück blicken, haben Würde und Traurigkeit erlebt. Der wichtigste Punkt ist in diesem Fall vielleicht, dass sie dieser jungen Frau, die ein paar Türen weiter wohnt, gern ein paar ihrer Lebenserfahrungen vermitteln möchte. Also für die junge Frau bedeutet Afrika: Das ist alles voller Schlangen und Elefanten. Sie ist sehr naiv, aber offenkundig eine ganz bezaubernde junge Frau. Die ältere möchte ihr also gern erzählen. Sie ist mehr und mehr begeistert von ihr, sie entwickelt ein großes Bedürfnis, Lebenserfahrung mit ihr zu teilen: Ihre Freude und ihre Liebe zum schwarzen Afrika. Aber die junge Frau verschwindet ganz plötzlich und so wird es eine Geschichte, die sie niemandem als sich selbst erzählen kann. Sie erzählt die Geschichte für sich. Aber dann kehrt Sally zurück. Und so hoffe ich, hat das Buch zum Schluss eine hoffnungsvolle Note. Denn sie hat ihr die wichtigsten Punkte in ihrem Leben erzählt. Besonders ihre Erinnerungen an Afrika in den frühen 60er-Jahren. Die Zeit, in der ich übrigens dort eine Weile gelebt habe. Ich konnte mich also auf meine eigenen Erinnerungen beziehen."

    Charles Chadwicks Romanheldin Naomi Marshall ist alt und gebrechlich und kann das Haus nicht mehr verlassen. Sie ist eine derart liebenswerte ältere Dame, dass man sich unwillkürlich fragt, ob nicht eine ebensolche Lady auch bei uns nebenan sich über ein Besuch freuen würde und man ihr bei einer guten Tasse Tee nicht wenigstens ein, zwei Mal in der Woche zuhören sollte. Chadwicks Text erinnert an das Credo von Heinrich Böll, dass die Lebensgeschichte eines jeden Menschen es wert wäre, aufgeschrieben zu werden.

    "Absolut. Auch mein erstes Buch, das ja auch auf Deutsch bei Luchterhand erschienen ist, handelt ja von einem sehr gewöhnlichen Leben. ich weiß ganz genau, was Böll gemeint hat mit diesem gewöhnlichen Leben. Jedes Leben ist interessant oder könnte interessant dargestellt werden."

    Chadwicks Darstellung ist voller Wärme, Augenzwinkern, etwas sprödem Humor, aber zugleich lässt er seine Ich-Erzählerin auf jede Form von Schönmalerei, Selbstbetrug oder gar Angeberei verzichten. Das ist ziemlich schonungslos. Naomi Marshall blickt zurück auf ihr Scheitern als Ehefrau, Schwiegertochter, als Beschützerin einer jungen Frau in Afrika. Und noch in der Erinnerung quält sie sich mit der ungeheuren Selbstgerechtigkeit ihres Mannes und dem nachträglichen Versuch, ihn gleichwohl zu verstehen.

    "Ich glaube, dass sich jeder Mensch selbst Ziele setzt. Ich fürchte aber, die Wahrheit ist, dass die meisten ihre Ziele nicht erreichen. Dann sind sie enttäuscht, weil ihr Leben voller Fehler, Reue, Scheitern ist. Offensichtlich setzen Menschen sich Aufgaben und haben auch ein Konzept, mit Rückschlägen fertig zu werden, damit, wie viel man auf seinem Lebensweg verliert. Jeder ältere Mensch guckt auf eine lange Serie von Verlusten zurück, also versucht jedermann, sich nur noch an die besten Dinge zu erinnern. Das wichtigste ist, diese Erfahrung an andere weiterzugeben, an andere junge Leute wie Sally."

    Sally und Naomi sind die beiden Hauptpersonen in Charles Chadwicks Buch. Auf Naomis ruhigen Erzählton lässt man sich ein und wird nahezu süchtig danach. Naomis verstorbener Ehemann Arthur bleibt daneben ebenso rätselhaft wie unsympathisch. Mag der Erzähler Chadwick ihn?

    "Das ist eine interessante Frage. Arthur ist ein bestimmter Typ Mensch. Er ist sehr selbstbezogen und auf seine Arbeit konzentriert. Er will unbedingt die richtigen Dinge tun, so sehr Gutes tun in der Welt, dass er den Kontakt zu den anderen Leuten verliert. Er ist unbeirrbar. Zielstrebigkeit ist an sich eine gute Eigenschaft, auf der einen Seite, sie ermöglicht Menschen nämlich, große Dinge zu tun. Auf der anderen Seite können sie dabei manchmal ein bisschen ihre Mitmenschlichkeit im normalen Leben, in normalen Beziehungen verlieren. Arthur ist völlig darauf ausgerichtet, Entwicklungen voran zu treiben. Aber ich befürchte, er ist dabei kein besonders guter Ehemann. Er ist so konzentriert darauf, seinen Job gut zu machen, etwas für die Gesellschaft zu tun. Solche Leute gibt es in Afrika, die die Sache voran bringen wollen, die ihr Leben lang versuchen, Gutes zu tun. Es macht ihn weniger liebenswürdig, als er sonst gewesen wäre, aber im Ganzen bewundernswürdig. Gerade zum Schluss. Wie der große Forscher Stanley, der einmal gesagt hat: 'Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um glücklich zu sein.' Er ist besessen von dem Wunsch, Dinge gut zu machen. Das hat ihn am Ende ein bisschen inhuman gemacht."

    Alle Romanfiguren von Charles Chadwick zeichnet aus, dass sie sich vor allem im Leben nützlich machen wollen. Ist das auch so ein Bestreben des Autors selbst?

    "Ich denke, es ist wichtig, es wird immer wichtiger, je älter man wird. Und je älter man wird, desto mehr erkennt man, in wie geringem Maß man nützlich sein kann. Man wünscht sich, dass man mehr daraus gemacht hätte. Oskar Wilde sagt, Nützlichkeit ist verschwendet an die Jugend. Sie können es an Naomi sehen. Sie ist sehr darum bemüht, das Leben einer sehr jungen Frau zu bereichern. Ältere Leute sind meist darauf aus, sich nützlich zu machen und weiterzugeben, was sie in ihrem Leben gelernt haben und andere ein bisschen weiser zu machen, als sie es sonst wären."

    Charles Chadwick: Brief an Sally. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand Literaturverlag, München 2010, 224 Seiten, 17,95 Euro.