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"Die Flügel"
Eine literarische Kathedrale des Manierismus

Mit seiner Trilogie "Orbitor" spricht der rumänische Autor Mircea Cartearescu Leser an, die herausfordernde Bücher suchen und Vergnügen an ausschweifender Beschreibungskunst haben. Bukarest wird in seinem kosmogonischen Familienroman zur Welthauptstadt der Fantastik. "Die Flügel" schließt als letzter Teil das "unlesbare Buch" (O-Ton Cartearescu) ab.

Von Wolfgang Schneider | 10.03.2015
    Tausende Rumänen jubeln am 24. Dezember 1989 in den Straßen von Bukarest. In der Zeitung ist zu lesen, dass Diktator Ceausescu und seine Frau verhaftet wurden.
    Tausende Rumänen jubeln am 24. Dezember 1989 in den Straßen von Bukarest. In der Zeitung ist zu lesen, dass Diktator Ceaușescu und seine Frau verhaftet wurden. (AFP / Christophe Simon Joel Robine)
    Es ist eines der bedeutendsten literarischen Werke unserer Epoche: Mircea Cartarescus Trilogie "Orbitor", die nun mit dem dritten Band "Die Flügel" vollständig in den hervorragenden deutschen Übersetzungen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold vorliegt. 1.800 Seiten stark, ist "Orbitor" eine literarische Kathedrale des Manierismus - geschrieben für Leser, die in einem Roman weniger ihre kleine Wirklichkeit wiederfinden möchten als sich vielmehr Aufschwünge in ungeahnte, unerhörte Dimensionen versprechen. Bukarest wird in diesem kosmogonischen Familienroman des 1956 geborenen Autors zur Welthauptstadt der Fantastik.
    Im letzten Band gibt es zwei Hauptthemen. Zum einen die zu einer monumentalen Farce ausgearbeitete Darstellung der rumänischen Revolution vom Dezember 1989. Zum anderen die Geschichte eines jungen Mannes namens Mircea, dessen Familienhintergrund zu einer Privatmythologie stilisiert wird.
    Der "megalithische Sozialismus" Ceausescus wird im Roman einmal als "Perpetuum mobile" bezeichnet, das "seine Energie aus dem Nichts und der Melancholie" bezieht. Im Rumänien der 80er-Jahre herrscht das Regime der drei "F": Frieren, Fasten, Furcht. "Wenn es auch noch ein bisschen Essen gäbe, wäre es wie in der Kriegszeit", lautet ein Witzwort. Mirceas Mutter müht sich, die Familie zu ernähren. Rumänische Mangelwirtschaft bedeutet, dass Essbares ins Ausland geht und der Müll für die eigene Bevölkerung übrigbleibt. Der Käse quietscht, wenn man hineinbeißt, der Wein ist aus Zaunlatten. Wenig ansehnlich der Lohn für halbe Tage des Schlangestehens:
    "Und auf das Wachstuch kippt Mutter ein feuchtes Häufchen leichenblasser Hähnchenfüße mit verkrümmten Krallen, unterhalb der Keulen abgehackt, denn die Keulen sind für den Export. Für diese reptilienartigen Schuppen schlagen sich die Leute tot. Ein andermal knallt sie uns ein großes wackelndes Stück Mutenia-Schinken auf den Tisch. Keiner weiß, woraus der besteht. Er bibbert wie Sülze. Darin findet man Fetzen wie Verbandsmull. Im Mund löst er sich in Knorpel und etwas Mehliges auf. Man weiß nicht, ob er nach Benzin riecht, weil er im Lastwagen transportiert oder weil er aus wer weiß welchen Chemikalien hergestellt wurde."
    Literarisches Labyrinth
    Der Roman hat keinen linienförmigen, chronologischen Handlungsverlauf. Alle Kapitel scheinen gleich weit entfernt vom mysteriösen Zentrum dieses literarischen Labyrinths. Ein Schlüsselmotiv ist die "Nostalgie". Zauber und Schrecken von Mirceas Kindheitserlebnissen werden beschworen. Der Bukarester Wohnblock ist wieder die Bodenstation für phantasmagorische Erzähl-Expeditionen. Dieser immer wieder atmosphärisch beschriebene und - in den Augen des Kindes - überaus gewaltige Gebäudekomplex mit seinen acht Aufgängen birgt Räume der Angst: schier endlose Fahrstuhlschächte und Treppenaufgänge. Mit halluzinatorischer Genauigkeit wird die Steckdosen-Paranoia des kleinen Mircea geschildert:
    "Vor einiger Zeit, während Mutter einen Stapel Wäsche bügelte, war er darangegangen, eine Burg aus ARCO-Bauteilen zu errichten; während er den blauen Kegel auf die höchste Spitze setzte, fühlte er sich plötzlich aufmerksam beobachtet. Es war die Steckdose mit Äuglein, die ihn von der Wand aus belauerte, ihre tiefen Löcher waren wirkliche, kugelige, glitzernde Augen, Spinnenaugen, als wäre die große schwarze Spinne in der Steckdose untergeschlüpft und blicke ihn durch deren Löcher böse an. Er war aufgesprungen und zu Vaters Werkzeugkasten gelaufen. Daraus hatte er zwei lange Nägel herausgeholt, und hatte sie jäh, bis zum Kopf, in die Augen der Bestie hineingestoßen, die urplötzlich schreckenerregend aufschrie. Das Kind spürte, wie es mit unglaublicher Kraft in die Luft gerissen, gedreht und gegen eine Wand geschleudert wurde, doch nicht vom Strom, wie man hätte glauben können, sondern von seiner Mutter, denn zuletzt sah es nur noch das von Grauen entstellte Gesicht der Mutter, die ihn schreiend und stöhnend in den Armen hielt."
    Glück gehabt - denn gerade ist im Stadtteil wieder mal der Strom ausgefallen. Von daher hat auch diese Episode einen spezifisch rumänischen Geschmack. Später, in der Agonie der 80er-Jahre, wird der Stromausfall zum Dauerzustand. Selbst bei Operationen auf Leben und Tod gehen plötzlich die Lichter aus und der Patient verendet mit geöffnetem Brustkorb.
    Die frühen, hoffnungsvollen Jahre der Eltern werden rekapituliert. Der Vater glaubt an Elektrizität und Sowjetmacht, Muskelkraft und Sozialismus, scheitert allerdings bei der körperlichen Eignungsprüfung für die Securitate, was er anfangs sehr, später immer weniger bedauert. Immerhin macht er eine linientreue Karriere als Journalist. Am Ende, als der Sieg der Revolution absehbar ist, verbrennt er sein Parteibuch, dessen Material sich allerdings als äußerst widerstandsfähig erweist. Als es endlich in Flammen steht und dichten Qualm verbreitet, stürzt er zum Balkon, um es hinunterzuwerfen, und dort bietet sich ein merkwürdiges Schauspiel: Aus vielen Bukarester Küchen zieht gerade der Rauch der verbrannten Parteibücher ab.
    Realer rumänischer Surrealismus
    In den historisch-politischen Kapiteln kann der fantastische Schriftsteller Cartarescu ein paar Gänge herunterschalten und einfach den realen rumänischen Surrealismus zur Geltung bringen. Etwa in der Geschichte von den elf perfekten Doppelgängern des Staatschefs, die dafür sorgen, dass an keinem Krisenherd der Welt ein Ceausescu fehle. Nur leider, nachdem der "Revolutionär", der "Patriot", der "unermüdliche Reisende" und reihum die anderen Ceausescus gestorben sind, gewinnt der fratzenhafteste der Ceausescu-Avatare den Kampf um die Macht. Das ganze Land hat nur noch seiner Verherrlichung zu dienen. Und der Lobpreisung Rumäniens als "geheimem Kraftzentrum des Universums." Es gilt, zu beweisen:
    "Dass unser geniales Volk nicht nur den Füllfederhalter, das Insulin, die Kybernetik und die aerodynamische Karosserie erfunden hatte, sondern auch das Rad, das Feuer, die Dichtung, die Turnhose und die Wäscheklammer, dass die griechischen Götter in den Karpaten gelebt hatten, und dass Eminescu, der Nationaldichter, gleichermaßen der größte Mathematiker, Physiker, Astronom, Philosoph, Fußpfleger, Nekromant, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Töpfer und Pataphysiker seiner Zeit gewesen war."
    Es ist einerseits plausibel, dass Cartarescu im Abschlussband der Trilogie die rumänische Revolution beschwört; das macht sich gut als groß orchestriertes Finale. Andererseits ist seine Darstellung der Ereignisse, so viele faszinierende Einzelszenen sie bietet, nicht rundum befriedigend. Gerade bei einem Roman, der sonst Tod und Teufel auftreten lässt, sich im Maschinenraum der Weltschöpfung umtut und vor keinen kühnen Ausritt in Biowissenschaft, magischen Mythos und Geschichte zurückscheut, wundert nun die Beschränkung der Perspektive: Revolution findet im Fernsehen und auf der Straße statt. Mehr als das, was die medialen Bilder zeigen oder ein einsamer Mircea in der Masse erlebt, wird auf der realistischen Ebene kaum erzählt. Manche Szenen machen dabei das Grauen vor den geschichtsbildenden Kräften sehr deutlich:
    "Einer der leichten Panzer raste nach vorn und fuhr voll in einige Protestler hinein, die auf den Asphalt gestoßen wurden. Grauenhaftes Todesbrüllen war zu hören. Die Hälfte eines Männerkörpers lag jetzt unter den Raupenketten. Das Blut war ihm aus dem Mund geschossen. Einem anderen wurde der Fuß zerquetscht. Geruch von Blut und Kot verbreitete sich über dem halluzinatorischen Schauplatz. Mircea kam sich vor wie in einem Kriegsfilm. Es war unwirklich."
    Cartarescu deutet an, dass die Revolution wohl eher ein raffiniert eingefädelter Putsch war, veranstaltet von mächtigen Männern aus der zweiten Reihe der Securitate. Aber es bleibt bei solchen Suggestionen, ein Strippenzieher der Ereignisse gewinnt im Buch nicht Gestalt; zum Balzac der rumänischen Revolution, der Polit-Akteure beim Machtpoker zeigen würde, wird Cartarescu nicht. Stattdessen setzt er wiederum auf Fantastik, nun allerdings in der gebremsten Form der Allegorie. Die Revolution verkörpert sich in der zehn Meter hohen, volkstümlichen Statue einer Frau in Trachtenbluse, die - wie alle Statuen Bukarests - verdutzt zum Leben erwacht und mit Elefantenschritten zum Platz der Revolution eilt. Wo sie schließlich von zwergenhaften Menschen-Männern begehrt, bestürmt und reihum geschändet wird, eine obszöne Szene wie aus "Gullivers rumänischen Reisen".
    Metapher vom Staatsmann als "Steuermann"
    Überzeugender, wenn Cartarescu zur Satire auf die Ereignisse ansetzt. Wenn er zum Beispiel die Metapher vom Staatsmann als "Steuermann" wörtlich nimmt, als die Revolutionäre im Zentrum der Macht anlangen, dem Saal, von dem aus das Land regiert worden ist:
    "Panoramafenster und eine Schalttafel mit zahllosen Monitoren und bunten Knöpfen nahmen den vorderen Teil des Saales ein. Dort befanden sich auch ein Steuerrad, ein großer waagrechter Kompass, ein Fernglas und ein Sextant. Der Mann-mit-zwei-Müttern verlor keinen Augenblick. Er stürzte sich auf das dem Zufall überlassene Steuer und versetzte ihm eine elegante Drehbewegung. Alle sahen aus den Fenstern, wie sich das nach der Flucht des vorigen Steuermannes gefährlich bis an das Schanzkleid geneigte Land langsam aufrichtete. Als alles ins Lot geraten schien und die Turbulenzen seltener wurden, brachte ihnen ein Schwarm von Stewardessen in blauen Uniformen Tabletts mit Speisen und fragte nach, ob sie Kaffee oder Tee wünschten. Auch zwei mit Orden behängte Generale kamen in den Kommandosaal, die mit dem revolutionären Komitee ausführlich die Lage besprachen. (...) Sie planten durchgreifende Umwandlungen in der neuen Ära: Die Miliz sollte in Polizei umbenannt werden, wie in den Spielen der Kinder und in Gangsterfilmen, und auch die Securitate sollte ihren Namen ändern und zu einem einfachen und demokratischen Nachrichtendienst werden."
    Spott auf eine Gesellschaft, die verspricht, dass nun alles ganz, ganz anders werden soll, in der Phase des Umbruchs jedoch vor allem die staatstragende Tugend des Opportunismus zur Geltung bringt.
    Zu den eher komödienhaften Charakteren gehören der Securitate-Oberst Ion Stanila und seine nymphomane Gattin Emilia. Die beiden sind auch im dritten Band wieder für erzählerische Höhepunkte gut. Aber wie verhält sich der systemtreue Mann in den Tagen des Umbruchs? Er mischt sich unter die Demonstranten, verkleidet als Mütterchen, und fotografiert unermüdlich. Immerhin gehört er nicht zu den "Bergleuten", wie die Spezialisten für Folter genannt werden. Zwei von ihnen sind einmal bei Ion und Emilia zum Abendessen eingeladen und fachsimpeln vollmundig über die Wissenschaft des Menschenquälens. Ion, der mit vergleichsweise harmlosen Beschattungsaufträgen zu tun hat, wird mulmig bei den Geschichten über zerquetschte Hoden und mit Schweißbrennern angebrutzelte Leiber.
    Kaum erstaunlich angesichts solcher Macht-Mittel, dass auch die Revolutionäre insgeheim zagen und zittern, ihr Aufstand könnte scheitern und der Herr und Meister in greisenhafter Schreckensgestalt zurückkehren:
    "Ceausescu kehrt zurück. Seine schwarzen Schutztruppen, gehirngewaschene Halbwüchsige ohne Mutter und Vater, bekommen die Lage in den Griff. Der Schrecken wird entfesselt. Der Notstand wird ausgerufen. Die schwarzen Truppen patrouillieren in den Straßen. Dobermänner zerfleischen jeden, der ihnen über den Weg läuft. Im Radio, im Fernsehen, an den Schreibmaschinen, an den Bügeleisen, an den Herdplatten spricht Ceausescu mit einem Raubtierblick. Wenn man den Kühlschrank aufmacht, stößt man auf Ceausescus Kopf auf einem Tortenteller, der endlos auf einen einredet."
    Ekstasen von körperlicher Vereinigung
    In einer Hinsicht ist "Die Flügel" noch ausschweifender als die vorhergehenden Bände: in den Sexualbeschreibungen. Wieder und wieder werden die Ekstasen der körperlichen Vereinigung in allen Spielarten beschworen und die Geschlechtsorgane mit lupengenauen Blicken beschrieben. So in dem Kapitel über einen imaginären Vorfahren Mirceas aus dem 18. Jahrhundert: den polnischen Fürsten Witold, der sein Leben der Erkundung möglichst vieler weiblicher "Fleischstollen" widmet und an einer bizarren metaphysischen Orgie teilnimmt.
    Nicht schon wieder, denkt man bisweilen, als hätte sich der Autor angesichts der drohenden Erschöpfung seiner fantastischen Motive zu den pornographischen geflüchtet. Allerdings gehört die exzessive Leiblichkeit von Anfang an zu den Grundzügen dieses Werks, das mit rasanten Kamerafahrten ins Körperinnere, ins mikrobiologische Geschehen aufwartet. Cartarescu ist fasziniert von Biologie, Neurowissenschaften und Hirnforschung, es dürfte kaum einen anderen Autor geben, der so konsequent sein Arsenal an Metaphern und Bildern aus ihnen bezieht.
    Umgekehrt verwandelt sich in alptraumhaften Passagen auch die Außenwelt immer wieder in fleischlich-organische Labyrinthe. Paläste und Statuen nehmen die Beschaffenheit von pulsierendem Fleisch an, Steine verströmen Blut, unterirdische Gänge werden zu Darm-Schlünden, die hinab in höllische Abgründe führen, wie in dem späten und starken Kapitel über Mirceas imaginären Zwillingsbruder Victor, der seine perfide Seele ganz der Gewalt und dem Töten verschrieben hat. Ein Mann, der in die Landkarte des Schmerzes manche Neuentdeckung einzuzeichnen hat. Wenn er in der Hölle hospitiert, liegt der Akzent auf der ewigen Unentrinnbarkeit der Qualen, etwa beim Spiel einer elefantengroßen Spinne mit ihren menschlichen Opfern:
    "Im Netz zappelten wie verrückt die Verdammten. Sie konnten ihren Blick nicht von dem Untier abwenden, das urplötzlich aus seinem Netz schoss und ihnen die Klauen in den gemarterten Leib schlug. Sodann löste sie ihn von innen her auf, verflüssigte Magen, Nieren, Wirbel, ließ nur noch das Hirn im Schädel heil und saugte jene zähe Flüssigkeit aus, den Unterleib an die aschgraue Haut des Opfers geschmiegt. Und dann zog sie sich bluttriefend in ihr Nest zurück, und unter der Haut des Gemarterten bildeten sich die Organe neu, und er wurde binnen weniger Minuten wieder zu dem zuckenden Leib, dem wahnsinnig gewordenen Bewusstsein, das den Gräuel vorwegnahm und wusste, dass er sich endlos wiederholen würde."
    In den Horrorszenen kommen Arachnophobiker, also Menschen mit Spinnenangst, auf ihre Kosten. Die Spinne ist das Gegenbild zum Leitmotiv des Schmetterlings, das als Archetypus der Metamorphose, Schönheit und Symmetrie sowie als klassisches Sinnbild der Psyche die Trilogie durchzieht.
    Ceausescus hybrides "Haus des Volkes"
    Klar, dass am Ende dieses von gigantischen Palästen und Säulenhallen träumenden Romans, am Ende seiner monströsen piranesihaften Architekturphantasmen, in denen sich die Menschen wie eine Prozession von Milben verlieren, nur ein Gebäude zum Schauplatz des Finales werden konnte: Ceausescus hybrides "Haus des Volkes", für das ganze Stadtteile abgerissen wurden, dieses Gebäude aller Gebäude, dessen Dimensionen schon in der Beschreibung der Baustelle aller Baustellen der realistischen Fassbarkeit entgleiten:
    "Es wurden die tiefsten in der Erdkruste möglichen Fundamente ausgebaggert. Die Grube, über der sich das Bauwerk erheben sollte, war wie der Abgrund des Tartaros. Niemand wusste, wie viele unterirdische Stockwerke der Koloss haben würde. Doch so eindrucksvoll der oberirdische Teil sein sollte, das, was nicht sichtbar war, musste neunmal größer sein, gemäß der Logik der Eisberge und der Tyrannen, die von der Welt der Tiefen träumten, bevölkert von sonderbaren Fischen, die zu drei Vierteln aus Mäulern mit riesigen Zähnen bestanden. Unterirdisch lautete die Losung; das blinde Insekt musste Gänge haben, wo es sich verstecken konnte, wenn es gehetzt wurde, wo es sein Gelege hinterlassen, wo es seine Nebenbuhler nach und nach zerrreißen konnte. Man hatte also zuerst ein umgekehrtes Gebäude errichtet, das, Stockwerk um Stockwerk, zum Grund der Welt hinabstieß."
    Die Maßlosigkeit des Bauwerks spiegelt die Unförmigkeit dieses, wie es etwas kokett immer wieder heißt, "unlesbaren Buches". Zement und Buchstabe, Weltbuch und Buchwelt sind komplementär. Cartarescu erhebt den Autor in den Rang eines Demiurgen, der eine ganze verfehlte Schöpfung zu wuchten und in seinem Welt-Buch zu bannen hat - eine durchaus unbescheidene Poetologie, die so obsessiv daherkommt, dass sie sich nicht einfach als herkömmliche postmoderne Spiegelfechterei abbuchen lässt, auch wenn Cartarescu sich zum starken Einfluss von Autoren wie Thomas Pynchon bekannt und selbst ein Buch über postmoderne Literaturtheorien verfasst hat.
    Und dann ist die Zeit der "letzten Posaune" gekommen: Die rumänische Revolution reicht als Finale noch nicht aus. Vielmehr wird das grundstürzende Geschehen hinübergespielt in die Apokalypse nach Maßgabe der biblischen Offenbarung. Kein Stein bleibt auf dem anderen, bis die Seelen wie "Löwenzahnflaum" dem himmlischen Licht entgegensteigen.
    Obwohl noch umfangreicher, hat dieser dritte Band nicht ganz die literarische Kraft der ersten beiden, etwas zu hoch ist der Anteil der Variationen und Reprisen der bereits bekannten Ereignisse und Motive. Trotzdem: Cartarescus Trilogie gehört zum Faszinierendsten und Eigenwilligsten, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Sie ist etwas für Leser, die herausfordernde Bücher suchen und Vergnügen an ausschweifender Beschreibungskunst haben; denn auf Dialoge verzichtet Cartarescu fast völlig. Wer sich darauf einlässt, wird von diesem wundersüchtigen Werk in den Bann gezogen.
    Mircea Cartarescu: "Die Flügel"
    Roman, aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold, Zsolnay Verlag 2014, 672 Seiten, 26 Euro