Freitag, 29. März 2024

Archiv


Die Folgen des Turbokapitalismus

Der konservative Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) als Kapitalismuskritiker - so unerwartet die Konstellation sein mag, das neue Buch von Frank Schirrmacher greift lediglich alte Gedanken und Allgemeinplätze auf. Und nach Auswegen aus der beschriebenen Krise sucht man in dem Buch auch vergebens.

Von Jens Rosbach | 18.02.2013
    Wir befinden uns im Kalten Krieg - in einem geheimen Atombunker der USA. Tief unter der Erde. Zur selben Zeit, auf der anderen Seite des Planeten: in einem Atombunker der Sowjetunion.

    Die Supermächte testen ihr jeweiliges Abschreckungspotenzial; die Militärs spielen – vor grün leuchtenden Radarschirmen - den dritten Weltkrieg durch. Wer wagt es zuerst, den roten Knopf zu drücken?

    Um die Schachzüge des Feindes vorherzusagen, setzen die US-Strategen auf eine spezielle Theorie des rationalen Handelns – auf die "Spieltheorie".

    "Diese Theorie hatte - aufgrund des Systemkonfliktes mit der Sowjetunion – Grundlagen eines neuen Menschenbildes geschaffen. Das Eine war: vom Anderen grundsätzlich das Schlechteste denken. Beide konnten sich gegenseitig vernichten. In diesem Spiel, das dort gespielt wurde, musste man annehmen, der Andere will nicht selber zerstört werden – also er hat ein egoistisches Interesse zu überleben. Aber er will uns auch angreifen."

    So Frank Schirrmacher vergangene Woche auf 3Sat, anlässlich der Veröffentlichung seines Buches "Ego. Das Spiel des Lebens". In dem Werk beschreibt der Mitherausgeber der FAZ, wie das Modell des homo oeconomicus - des rational und zum eigenen Vorteil agierenden Menschen - von unserer Welt Besitz ergreift. Wie die Theorie gleichsam aus den Bunkern heraus kriecht und sich wie eine gefährliche Krankheit ausbreitet. Schirrmacher ist überzeugt, dass das Ego-Menschenbild mittlerweile sämtliche Schlachtfelder der Gesellschaft beherrscht – wie die Börse.

    Es sind die spieltheoretischen Modelle des Kalten Kriegs, die heute von den Hedgefonds benutzt werden. Ganze Abteilungen der Investmentbanken sind damit beschäftigt, die Absichten konkurrierender Händler aus einem riesigen Datenmaterial mithilfe von Computern und der Spieltheorie in atemberaubender Geschwindigkeit zu entschlüsseln und ihr eigenes Handeln danach auszurichten.

    Der Publizist zeigt sich erschrocken, weil das Ego-Modell zuverlässig funktioniert. Weil es – gerade durch die zunehmende Datenvernetzung – auch aus dem Konsumenten einen berechenbaren Faktor, einen schlichten Algorithmus macht. Gleichzeitig sei uns das Modell des vorhersagbaren Handels längst entglitten.

    Zu den größten Alarmzeichen der Krise zählt, dass es im Zeitalter der neuen Rationalität keine rationalen Antworten mehr gibt. Schaut man genauer hin, stellt man fest, dass die Finanzkrise mit ihren astronomischen, jedes menschliche oder politische Fassungsvermögen überfordernden Zahlen uns zu Insassen des Rechners selbst macht, in dem wir nur noch staunend Ketten von Zahlen und Codes an uns vorbeirauschen sehen.

    Schirrmacher warnt: Die monsterhafte Ego-Theorie niste sich in unsere Seele ein, manipuliere den Menschen heimlich.

    "Wenn Sie eine Theorie aufbauen: Im Grunde denken Menschen nur an sich und selbst in der Kooperation tun sie es nur, weil sie letztlich davon profitieren - das schafft die Wirklichkeit, die es beschreibt."

    Atombunker, Börse, Datenkrieg, seelische Mutation: Ist "Ego. Das Spiel des Lebens" ein Hollywood-Drehbuch? Ein Verschwörungs-Thriller? Nein, es ist nur eine dramatisierte Analyse des modernen Kapitalismus. Aber mehr auch nicht. Selbst der Grundgedanke, dass der Mensch nur selten als Altruist handelt, ist nicht neu. Frank Schirrmacher hat bloß den Nervenkitzel des Kalten Kriegs wieder belebt, die Wut auf Börsenzocker in Buchstaben gegossen und jede Menge Zitate von Naturwissenschaftlern, Ökonomen und Politikern hinzugefügt. Das Ganze ausgebreitet auf 350 Seiten - 35 hätten es auch getan. Der Leser denkt bei jedem Kapitel: Komm endlich auf den Punkt! Es wimmelt nämlich nicht nur von Zitaten, sondern auch von Wiederholungen und Allgemeinplätzen wie "Der Mensch wird zum Computer" oder "Der Mensch gerät in eine Überwachungsmaschinerie".

    Was immer die Zehntausenden Drohnen am Himmel über Amerika und die unzähligen Überwachungskameras aufzeichnen – es wird jetzt so übersetzt wie die Truppenbewegungen oder Autokonvois der Russen im Kalten Krieg oder wie Aktienbewegungen in automatisierten Märkten.

    Schirrmachers Buch hat insgesamt mächtig Schlagseite: Er beschreibt den Menschen ausschließlich als Opfer des Turbokapitalismus - nicht als mündigen Bürger, als Akteur. Globalisierungs-Gegner und neue Formen sozialen Widerstands blendet der Publizist aus. Eine Lösung, einen Weg aus der Ego-Gesellschaft, sucht man in seinem neuen Werk vergebens. Interessant ist lediglich die Grundkonstruktion: Ein konservativer FAZ-Feuilletonist wettert gegen die internationale Macht der Banken und Börsen.

    Die deutsche Öffentlichkeit…merkte nicht, dass die Waffe des Kalten Krieges sich in etwas verwandelte, was man "Neoliberalismus" und "Informationsökonomie" nannte, und dass sie gerade im Begriff war, sich gegen die großen Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu richten.

    Schirrmacher hatte bereits 2011 in einem viel beachteten FAZ-Artikel "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat" die Allmacht der Finanzmärkte und die "bürgerliche" Politik kritisiert, die zu sozialer Ungleichheit führe. Anlässlich der Ego-Buchveröffentlichung schlussfolgert nun – jubelnd - der Spiegel: Die Kapitalismuskritik sei inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen. Andere Medien, wie der NDR, kanzeln Schirrmachers Werk als "holprige Paranoia" ab. Persönliche Empfehlung: Das Buch auf 30 Seiten eindampfen und einen zweiten, spannenderen Teil schreiben: Wege aus der Kapitalismus-Krise.

    Frank Schirrmacher:
    "Ego. Das Spiel des Lebens", Blessing Verlag, 352 Seiten, 19,99 Euro.