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Die Frau hinter den Männernamen

Das Leben der Helen Hessel bleibt versteckt hinter Männernamen: Hessel war ihr Mann, dessen bester Freund Henri-Pierre Roché ihr Liebhaber. Francois Truffauts Film "Jules und Jim" machte die Amour fou der drei weltberühmt. Eine neue Biografie zeigt die Frau hinter den Männern.

Von Michael Wetzel | 13.11.2013
    Das erfüllte Leben einer Frau, die Zeitzeugin eines halben Jahrhunderts intensivster weltpolitischer Ereignisse geworden ist; die zwischen Berliner und Pariser Kulturleben vermittelt hat, was ist von ihrem Ruf, ihrem Namen geblieben? Zwei Männernamen, Jules und Jim, die Pseudonyme der beiden Männer, die sie am meisten geliebt haben soll.

    Das Leben der Helen Hessel, geborene Grund, bleibt versteckt hinter Männernamen, denen ihres Mannes Franz Hessel und dessen besten Freundes, Henri-Pierre Roché, der zugleich ihr leidenschaftlicher Liebhaber war, dem Francois Truffauts, der Rochés Roman "Jules und Jim" über die amour fou der Drei durch seinen gleichnamigen Film weltberühmt machte, und nicht zuletzt dem ihres zweiten Sohnes, Stéphane Hessel, der erst vor Kurzem als berühmter Kämpfer für den Weltfrieden verstorben ist.

    Wer aber war die Frau, die alle diese Männer miteinander in Verbindung setzte?
    Dieser Frage versucht die Biographie von Marie-Francoise Peteuil auf den Grund zu kommen, die erste Biographie von Helen Hessel, aber zugleich ein Versuch, der schon im Untertitel wieder nur von Männern spricht: als ginge es um eine Liebe von Jules und Jim.

    Das Buch beginnt auf jeden Fall bei dem, was durch Truffauts Film bekannt ist: bei der Dreiecksgeschichte zwischen dem deutschen Dichter, seinem Pariser Freund und der leidenschaftlichen Deutschen, die im Film eine Französin ist. In der weiblichen Hauptrolle begeisterte die junge Jeanne Moreau eine ganze männliche Generation, Oskar Werner verkörperte mit österreichischem Charme die Melancholie Franz Hessels und der noch unbekannte Henri Serre spielte den perfekten Kontrepart des schlacksigen und liebestollen Franzosen. Helen Hessel, um die es in dieser Geschichte ja ging, lebte noch bei der Uraufführung des Films 1961, die sie jedoch anonym besuchte, um dem Regisseur erst im nachhinein ihre Ergriffenheit brieflich mitzuteilen:

    "Als ich im dunklen Kinosaal saß und anfänglich mit einer Maskerade rechnete, mit mehr oder weniger irritierenden Ähnlichkeiten und Parallelen, wurde ich sehr bald von der Magie mitgerissen, die Sie und Jeanne Moreau entfalten. Damit erwecken Sie eine Geschichte wieder zum Leben, die ursprünglich blindlings vollzogen wurde."

    Die Geschichte auf die Helen Hessel hier anspielt, ist genau jene verrückte Liebesgeschichte, die in Paris kurz vor dem I. Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte.

    Geboren als Helen Katharina Anita Berta Grund am 30. April 1886 in Berlin hatte sich bei Helen schon früh eine Neigung zur Malerei ausgebildet. Kein Wunder also, dass es sie 1912 ins damalige Kunst-Mekka nach Paris zog, um ihre Studien fortzusetzen. Dort lernte sie schon bald Franz Hessel kennen, der seit ein paar Jahren schon die Pariser Bohème frequentiert und ein reges Liebesleben pflegte, bei dem er sich gewöhnlich die Frauen mit seinem engen Freund, dem Kunsthändler Henri-Pierre Roché teilte. Bei Helen sollte es anders sein: "Die nicht!", so lautete die beschwörende Formel, mit der Hessel Helen für sich reservierte. Die Liebe mündete bald in einen Heiratsantrag, den Helen nach einigem Zögern annahm. Es war nicht Leidenschaft, was sie zusammengeführt hatte, sondern eher der Wunsch nach bürgerlicher Sicherheit. Aber das war zu wenig für eine stabile Ehe. Schon kurz nach Geburt des zweiten Sohnes Stéphane 1917 (der erste Sohn Ulrich war 1914 geboren) begann Helen sich in Affären mit anderen Männern zu stürzen, unter denen die zu dem gemeinsamen Freund Roché eine zentrale Rolle spielen sollte. Hessel schaute zu, er hatte sich hinter seiner buddhistischen Haltung verschanzt und arbeitete an der Überwindung der Leidenschaft durch Mediation.

    Peteuils Buch entdeckt keine neuen Geheimnisse, denn schon seit Jahrzehnten haben viele Publikationen und Dokumentation der Wirklichkeit hinter Jules und Jim nachgeforscht. Aber es trägt zum ersten Mal alle Fakten zusammen und richtet sie auf die Lebensgeschichte von Helen Hessel aus.

    Und bei den Nachweisen ist die Autorin sehr genau und gibt in den Fußnoten alle ihre Quellen bekannt. Besonders der deutsche Leser profitiert hier am meisten, da die wichtigen Tagebücher von Roché und Helen zwar in Frankreich Anfang der 90er Jahre publiziert, aber nie ins Deutsche übersetzt wurden. Aus ihnen und den teilweise ebenfalls publizierten Briefen zitiert Marie-Francoise Peteuil ausgiebig, um den von Roman und Film dämonisierten Mythos von der liebeshungrigen Femme fatale mit der Realität eines Frauenlebens zu konfrontieren, das geprägt war nicht nur durch den alltäglichen Überlebenskampf als Mutter zweier Söhne, sondern auch gegen die Verfolgungen des Nationalsozialismus und die Nöte des II. Weltkrieges sowie der Zeit danach.

    Das geerbte Vermögen Franz Hessels war in den Wirren der Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre dahingeschmolzen, er selbst musste sich als Jude vor der Deportation retten, starb aber entkräftet und hoffnungslos Anfang 1941 in Sanary-sur-Mer. Der Sohn Stéphane kämpfte im Untergrund für die französische Résistence, wobei er auch von seiner Mutter unterstützt wurde, die seit 1925 wieder in Paris lebte. Sie war Roché dorthin in der verzweifelten Absicht gefolgt, ihrer absoluten, rückhaltlosen Liebe endlich eine Chance zur Verwirklichung zu geben. Roché hatte das Ehepaar Hessel 1920 in ihrer südbayrischen Idylle Hohenschäftlarn wiedergetroffen und die schon in Paris schwelende Leidenschaft zwischen ihm und Helen war ausgebrochen. Allerdings war sie von Anfang an überschattet von einem fatalen Missverständnis. Roché, der sich als Don Juan begriff und mit jeder ihm begegnenden Frau den sexuellen Kontakt suchte, sah in der sinnlich präsenten Deutschen vor allem die "erotische Perfektion" bis hin zur Begeisterung für die Konsistenz der Geschlechtsteile und andere "prachtvoller Körperteile", und selbst die aufgereizte Phantasie eines gemeinsamen Sohnes war für ihn nur erotische Stimulanz.

    Helen erlebte die Liebe zu Roché als Hingabe und Verschmelzung wie in Richard Wagners Tristan und Isolde, was für Roché bedrohlich war, wollte er doch die Beziehung zu den anderen Frauen vor allem der stillen Langzeitgeliebten in Paris nicht opfern. Insofern reagierte er auf eine reale Schwangerschaft panikartig und kannte nur eine Lösung, Abtreibung. Helens Antwortbrief zeugt von der Enttäuschung, die aber nicht die letzte sein sollte:

    "Lieber Pierre, Ich habe Deine langen Briefe erhalten. Ich glaubte, daß Du und ich, daß wir beide für einander gemacht seien ... Ich habe gehandelt, als wäre Deine Liebe für mich unteilbar und der Sohn Dein Lebensziel – ich schäme mich nicht, mich getäuscht zu haben. Aber ich schäme mich dessen, was Du mir vorschlägst. Ich werde alles in Ordnung bringen."

    Ein wirklich neuer Aspekt dieser ersten Biographie Helen Hessels ist in diesem Sinne die schonungslose Beleuchtung der perversen Liebeskonzeption des männlichen Protagonisten Roché. Durch zusätzliche Studien in amerikanischen Nachlassarchiven gelingt es der Autorin, die Ambivalenz seiner Haltung zu Helen zu belegen, ohne moralische Verurteilungen auszusprechen. Darüber hinaus kommt natürlich auch das Leben der Helen Hessel über diese unglückliche Liebe hinaus zur Sprache. Roche, der als Vermittler des französischen Kunstmarktes in New York in engem Kontakt auch zu Marcel Duchamp stand, versammelte im Pariser Haus von Helen eine hochinteressante Gruppe von Intellektuellen, zu denen neben Duchamp auch Walter Benjamin zählte.

    Man hätte sich hier noch mehr Details gewünscht, auch zur Arbeit Helen Hessels als Mode-Kritikerin für die "Frankfurter Zeitung." Diesbezüglich wirkt die zu starke Fixierung auf das Thema der Liebesaffären doch beengend, aber von diesem strahlt grundsätzlich eine negative Aura auch auf die berufliche Dimension aus. Der Versuch, nach dem II. Weltkrieg auf Einladung ihres Sohnes Stéphanes in New York neu Fuß zu fassen, scheitert an den Differenzen mit der Schwiegertochter und dem Unverständnis der amerikanischen Kultur gegenüber. Ergreifend auch ist das Schicksal Helen Hessels als immerhin erste Übersetzerin von Nabokovs Skandalroman "Lolita" für den Rowohlt-Verlag, der ihre Arbeit durch drei Mitübersetzer korrigieren lässt und sie so um den verdienten Ruhm bringt.

    Am Ende bleibt von der 1982 mit 96 Jahren gestorbenen starken und kämpferischen Frau das Bild einer tragischen Heroin, die an Tapferkeit des Einsatzes für die Rechte der Liebe und auch der Menschheit ihresgleichen sucht, die aber um die Anerkennung ihrer Einsätze, Opfer, und Leistungen systematisch gebracht wurde und nur in der Aura der amourösen Abenteuer ihrer berühmten Liebhaber aufstrahlt. Vielleicht gelingt es ja dieser Biographie, die Perspektive zu ändern und das Augenmerk auf die Frau im Zentrum zu lenken.


    Marie-Francoise Peteuil: Helen Hessel. Die Frau, die Jules und Jim liebte. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Frankfurt a. M., Schöffling & Co, 2013, 421 Seiten, 24,95 Euro.