Donnerstag, 25. April 2024

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Die Frau in Hubert Fichtes Leben
Zarte Bisse, kluge Küsse

Die Beziehung des offen schwulen Schriftstellers Hubert Fichte zur 20 Jahre älteren Fotografin Leonore Mau ist nicht nur die Geschichte einer Liebe gegen jede Wahrscheinlichkeit. Dies zeigen Fichtes Briefe und Notizen, die jetzt in Buchform erschienen sind. Es war auch eine exemplarische Partnerschaft zweier einander zutiefst respektierender Künstler.

Von Julia Schröder | 20.12.2016
    Eine schwarz-weiss-Aufnahme von Hubert Fichte.
    Hubert Fichte erhält den mit 10.000 Mark dotierten Hermann-Hesse-Preis am 2. Juli 1965 in Karlsruhe für sein Manuskript "Das Waisenhaus". (picture-alliance / dpa / DB)
    Am 1. April 1970 stürzt ein Flugzeug auf dem Weg von Agadir über Casablanca nach Paris ab. Der Schriftsteller Hubert Fichte arbeitet in Marrakesch an einem Rundfunkfeature. Er weiß, dass seine Freundin, die Fotografin Leonore Mau, in diesem Flugzeug sitzen wollte. Es folgen Tage, in denen Fichte, wie er später schreibt, "ganz Marokko verrückt gemacht” hat. Was er nicht weiß: Leonore Mau hat den Bus nach Casablanca genommen.
    In "Platz der Gehenkten”, dem sechsten Roman von Hubert Fichtes unvollendetem Zyklus "Geschichte der Empfindlichkeit”, wird 15 Jahre später aus dieser erschütternden Erfahrung eine Szene, die Entscheidendes über das Verhältnis seines Alter Ego Jäcki zu dessen Lebensgefährtin, der Fotografin Irma, formuliert:
    "Jäcki war endlich allein. Irma (...) fuhr noch einmal nach Agadir zurück. Sie schrieb Jäcki, dass sie am Mittwoch, dem ersten April, das Flugzeug Agadir-Casa-Paris nehmen wolle.
    April. April.
    Irma war abgestürzt.
    Ich bin frei."
    Aber wenig später heißt es eben auch:
    "Habe ich die Festlichkeit Irmas vergessen?
    Den Überfluss ihrer Düfte, Kleider, Geschenke, Salate, Hammelkeulen, Linse und Gang der Kranichin?"
    Es gibt einen Brief von Hubert Fichte an Leonore Mau aus diesen Tagen im April 1970. Darin hallen Verstörung, Verzweiflung und Ratlosigkeit noch nach, sie verbinden sich mit der dann wieder zurückgedrängten Vorhaltung, "nach all den Eilbriefen” wäre "ein Telegrammchen vielleicht nicht überflüssig” gewesen.
    Ein neuer Blick auf die autobiografische Prosa
    Das Blatt ist in einem Konvolut von Briefen und Notizen Fichtes erhalten, das jetzt unter dem Titel "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart - Briefe an Leonore Mau” in Buchform vorliegt. Und, wie der Herausgeber Peter Braun mit Recht hervorhebt: durchaus zur erneuten Lektüre von Hubert Fichtes autobiografisch grundierter Prosa einlädt. Gleiches gilt für die Bücher, die Fichte und Mau gemeinsam gemacht haben, die ethnografischen Text-Bild-Bände über afrikanische Riten, über Vaudou auf Haiti und Candomblé in Brasilien. Denn die rund ein Vierteljahrhundert - bis zu Hubert Fichtes Tod im März 1986 - währende Beziehung zwischen dem offen schwulen Fichte und der 20 Jahre älteren Mau ist nicht nur die Geschichte einer Liebe gegen jede Wahrscheinlichkeit. Sie stellt auch die exemplarische Partnerschaft zweier eigenständiger, miteinander arbeitender und einander zutiefst respektierender Künstler dar.
    1950 brachte ein gemeinsamer Freund den 15-jährigen Wunderknaben Hubert Fichte ins Haus des Architekten und Literaturfreundes Ludwig Mau. Dessen Frau Leonore, die sehr früh geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, fing in dieser Zeit gerade an, sich als Fotografin auszuprobieren und sich aus ihrer Ehe zu lösen. Der Kontakt blieb einstweilen sporadisch.
    Selbstportrait von Leonore Mau mit einem Bild von Hubert Fichte, 60er Jahre
    Selbstportrait von Leonore Mau mit einem Bild von Hubert Fichte, 60er Jahre (Deichtorhallen Hamburg)
    Für Fichte folgten in den nächsten Jahren Aufenthalte in Frankreich, Reisen durch die Provence auf den Spuren seines Mentors Hans Henny Jahnn und die Obdachlosenarbeit bei Abbé Pierre in Paris. Wegen einer schweren Hepatitis musste er nach Deutschland zurück und begann 1955 nach der Genesung eine landwirtschaftliche Ausbildung in Holstein, von wo aus er die Familie Mau in Hamburg gelegentlich besuchte.
    Nach der Arbeit in einem anthroposophischen Kinderheim in Schweden mit der Inszenierung erster eigener Stücke siedelte Fichte 1959 in die Provence über, nach Montjustin. Der Maler Serge Fiorio hatte ihn eingeladen, in dem landwirtschaftlichen Reformdorf seiner Familie mitzuarbeiten und zu schreiben. Beim Versuch, Ausstellungen für Fiorio in deutschen Galerien zu organisieren, kam Hubert Fichte 1961 erneut zurück nach Hamburg.
    Seine Anlaufstation war diesmal die Absturzkneipe "Palette”, der er später einen Roman gleichen Titels widmete: Habitat von Berbern und Bohemiens, Studenten und Transvestiten in der heutzutage durchgentrifizierten ABC-Straße – und der Ort der Wiederbegegnung mit Leonore Mau. Sie wurde ihm das, was er in vielen Männern gesucht und bis dahin nicht gefunden hatte: der Mensch fürs Leben.
    Wie leidenschaftlich die ersten Jahre dieser Beziehung tatsächlich waren, drücken die Briefe aus, die er ihr im Frühjahr 1962 von Montjustin aus schrieb:
    "Dein Brief ist wie schwerer Honig und ein roter Perserteppich. Ich bin sehr froh, eine Frau so glücklich gemacht zu haben."
    Was der knapp 27-jährige Hubert Fichte allerdings mit der rücksichtslosen Egozentrik des Künstlers behandelt, ist die Tatsache, dass Leonore Mau vermutet, sie sei schwanger. Bei der Wahl zwischen Kind und Kunst, Familiengründung und Schreiben könne er sich nur für die Kunst, für das Schreiben entscheiden, lässt er seine Geliebte wissen. Und auch die weiteren Bedingungen ihres Zusammenseins macht Fichte von Anfang an deutlich:
    "Ich habe das erste Mal in meinem Leben den Wunsch, Geld zu verdienen, denn ich möchte in Hamburg leben. Warst du bei der 'Welt' (mit meiner Kurzgeschichte)? Das ist sehr wichtig für mich.
    Unsre projets sind gar nicht aufgegeben. Im Frühjahr kommst Du in die Provence. Dann fahre ich nach Paris, um vielen hübschen Jungs guten Tag zu sagen und irgendwann danach fahren wir nach Venedig wegen des Textes.
    Voilà, das ist alles für heute. Mir tun die Augen weh vom vielen Schreiben.
    Si tu étais la je te le foutrais dedans
    Hubert."
    Austausch zweier ganz eigener Künstler
    Die Mischung aus Zärtlichkeitsbekundung, Arbeitsaufträgen und der unverblümten Schlussformel "Wenn du da wärst, würde ich ihn dir reinstecken” ist typisch für die Korrespondenz, die Leonore Mau - entgegen Fichtes Verfügung, alle persönlichen Schreiben zu verbrennen, und im Gegensatz zu ihren eigenen Briefen an ihn - bis zu ihrem Tod im Jahr 2013 aufgehoben hat. Zum Glück, muss man sagen, denn darin dokumentiert sich auch ein Prozess fortlaufenden künstlerischen Austauschs. Wenn der Schriftsteller und die zunehmend erfolgreiche Reportage- und Architekturfotografin getrennt unterwegs sind, schildert Fichte ihr die Schrecken seines Rom-Aufenthalts in der Villa Massimo und die Freuden des wilden Sylt an der Seite des Feuilleton-Unruhestifters Fritz J. Raddatz. Er meldet ihr stolz seine Interviewerfolge bei politischen Führern postkolonialer afrikanischer Staaten. Und wenn er im marokkanischen Agadir schreibend die Wintermonate verbringt, bereitet er brieflich von dort aus die nächsten gemeinsamen Projekte und Reisen vor.
    Gänzlich unangefochten war diese Lebens- und Arbeitspartnerschaft nicht. Das lag nur zum Teil an Fichtes Verkehr mit den "vielen hübschen Jungs”; dass sie seine exzessive homosexuelle Praxis tolerierte, war von allem Anfang an Voraussetzung des Zusammenlebens. Die Anmerkungen und das Nachwort des Herausgebers Peter Braun führen das vor Augen, was in Hubert Fichtes Briefen an Leonore Mau nicht zur Sprache kommt. Braun füllt die Lücken auch durch einen Rückgriff auf die Verarbeitung in Fichtes autobiografischer Prosa der "Geschichte der Empfindlichkeit”. Zumutungen und Krisen fanden hier ihren Niederschlag - wie jene, als Hubert Fichte Ende der Siebziger kurz davor stand, für die Liebe zu dem afroamerikanischen New Yorker Künstler Michael Chisolm das Leben mit Leonore Mau aufzugeben.
    Hubert Fichte entschied sich gegen die New Yorker Versuchung und für den sicheren Hafen in Othmarschen, für das "Baumhexenlächeln” der Frau und für "Bücher, Wohnung, Funkverträge”, wie es im Roman "Explosion” heißt. Peter Braun nimmt Fichtes Briefe letztlich als Aufforderung, die Figur der Irmaneu zu deuten. Ob man geneigt ist, dies zu tun oder nicht - was die Lektüre dieser einseitigen Korrespondenz in jedem Fall zurücklässt, ist das Bedauern über das Fehlen der anderen Seite, der Stimme von Leonore Mau. Und das Staunen über die Möglichkeit dieser Liebe in ihrer Zeit.
    Hubert Fichte: "Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart.” Briefe an Leonore Mau. S. Fischer Verlag, 256 Seiten, 26 Euro