Donnerstag, 25. April 2024

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Die Freiheit des Sängers

Ein Sänger und ein Produzent, beide an die 70. Der eine ein Odessit in Moskau, der andere ein Petersburger von Geburt, gerade zurück aus dem amerikanischen Exil. Beide: lebende Legenden. Die letzten Vertreter einer Ära. Kostya Belyaev und Rudik Fuks haben in den 60er und 70er Jahren hunderte Lieder geschrieben, gesungen und aufgenommen. Straßenlieder, Gaunerlieder, Liebeslieder. Romanzen, Zoten, Scherze. Ihre Lieder haben eine ganze Generation geprägt, obwohl sie nie im Radio liefen und nie auf Schallplatten veröffentlicht wurden. Sie gingen von Hof zu Hof, von Restaurant zu Restaurant und von Kassette zu Kassette. Seit den späten 90ern finden sie ihren Weg in die Radioprogramme des neuen Russland. Kostya Belyaev erlebt in Moskauer Boheme Clubs seinen vierten Frühling und plötzlich ist auch eine neue Generation von Sängern da, die ihre Lektionen von Belyaev und Fuks gelernt hat. Was also hieß es, cool zu sein, im Russland der 60er und 70er Jahre? Und: Was kann man von den Alten lernen?

Von Uli Hufen | 24.04.2004
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    Rudik Fuks (russisch)

    Arkadij Severny (russisch)

    Rudik Fuks: Ich hatte einige Tonbandgeräte und hab darauf Kopien gemacht, die ich meinen Freunden gegeben habe. Und die haben es genauso gemacht, so ging es durch das ganze Land, sehr schnell. In Severnyjs Stimme war ein Geheimnis, so ähnlich wie beim jungen Vyssotskij. Ich hab viel darüber nachgedacht. Vyssotskij war ja ein junger Kerl, aber wenn du ihn singen hörtest, konntest du denken, dass da irgendein sibirischer Lagerhäftling singt….Bei Severnyj war das genau so. Seine Stimme war geheimnisvoll. Auch er hatte nicht die Stimme eines jungen Mann, er klang viel älter. Er hatte eine ganz ungewöhnliche Stimme und diese Stimme hat die Legende begründet. Die Leute wunderten sich einfach: was ist das für ein Kerl, woher kommt der? Sie wussten ja nicht, dass irgendjemand all diese Lieder für ihn schreibt. Dass er meine ganze Plattensammlung singt. Das war ja eine riesige Menge von Liedern, teilweise vorrevolutionäre Lieder, oder aus der NEP-Zeit. Also: woher kommt dieser Mensch, der all diese Lieder singt?
    Zwischen 1972 und seinem frühen Tod im April 1980 nahm Arkadij Severnyj für Fuks und andere Produzenten mehr als 80 Konzerte mit insgesamt beinahe 1000 Liedern auf. Gaunerchansons aus Odessa, Gulag-Lieder aus Vorkuta und von der Kolyma, Lieder der Weißgardisten und vieles mehr.

    Sämtliche Aufnahmen fanden in Privatwohnungen oder in für die Öffentlichkeit unzugänglichen Sälen statt, oft vor einem Publikum von nicht mehr als 20, manchmal vielleicht 50 Freunden und Bekannten. Das Entscheidende aber waren die Petersburger Sammler, die zu den von Fuks organisierten Konzerten mit ihren Tonbandgeräten anrückten. Für eine an Fuks zu entrichtende hohe Summe erwarben sie das Recht, die Konzerte aufzunehmen, zu vervielfältigen und in beliebiger Zahl zu verkaufen. Kneipen, Restaurants und Taxifahrer waren die Knotenpunkte im Vertriebsnetzwerk der Sammler. Severnyj selbst bekam in den 70er Jahren pro Konzert fünf oder sechshundert Rubel – ein Vielfaches des durchschnittlichen Monatsgehaltes jener Jahre und deutlicher Beweis für seine enorme Popularität. Doch der wachsende Erfolg hatte im Undergroundshowgeschäft der Sowjetunion in den 70ern oft genau dieselben Folgen, wie im Westen: falsche Freunde, falscher Lebensstil, Drogen, früher Tod…
    Rudik Fuks: Dieses Bohemeleben hat ihn fertig gemacht. Er hat seine Familie verloren, die Arbeit. Er hatte ja die Forstwirtschaftliche Akademie absolviert und arbeitete im Holzexport. Die Arbeit hat er dann verloren und er musste von dem leben, was man ihm fürs Singen gab. Er hatte keinen anderen Ausweg. Darum musste er diesen Mist singen, den sie ihm unterschoben. Ich konnte nichts machen. Ich dachte darüber nach, ihn mit ins Ausland zu nehmen. Aber dafür hätte man eine fiktive Ehe organisieren müssen. Als ich dann etwas vorbereitet hatte, verschwand er für eine Weile, betrunken. …Ich wollte ihn mitnehmen, weil ich sah, dass er stirbt. Ich sah dass er trinkt und als Freund fürchtete ich um ihn. Genauso ist es ja dann auch gekommen.
    1979 emigrierte Rudik Fuks nach Amerika, von wo er erst 23 Jahre später heimkehren sollte. Ein paar Monate später, im April 1980 starb sein Freund Arkadij Severnyj im Alter von nur 40 Jahren.
    Kostya Belyaev (russisch)

    Kostya Belyaev. Seinen Namen kennen in Russland im Gegensatz zu Severnyjs nur wenige. Während sich um Severnyjs Person zahllose Legenden ranken, führen Belyaevs Lieder eine Existenz, die von ihrem Schöpfer weitgehend losgelöst ist. Viele seiner Lieder sind derart populär, dass man sie heute für Volkslieder hält. Zeit also zu erzählen, wer dieser Belyaev ist, der in diesem Herbst 70 wird und neben Fuks zu den letzten lebenden Dinosauriern einer ganzen Chanson-Ära gehört. ... Wer also ist dieser Kostya Belyaev? Nun, zunächst mal kann man sagen, dass der erste, äußere Eindruck täuscht. Der etwas korpulente, ältere Herr in Hausanzug, der mich da an der Tür seiner kleinen Neubauwohnung im Moskauer Stadtteil Kuptschino begrüßt, der sieht beim besten Willen nicht aus wie ein verwegener Undergroundchansonnier. Doch aus dem Wohnzimmer klingen schon Blat-Lieder herüber und so kann kein Zweifel bestehen. Vor mir steht Belyaev. Ein paar Tage später spielt Belyaev ein umjubeltes Konzert im Bohemeclub OGI, auf halbem Wege zwischen Kreml und Lubyanka gelegen, und wieder staune ich: Wie kann ein so freundlicher älterer Herr mit weißem Haar und großer Brille solche Lieder singen? Seine Biographie gibt Antworten. Belyaev wurde 1934 in Odessa geboren. Von dort stammt gewiss sein ätzender, in vielem jüdisch inspirierter Humor. Doch Belyaevs Jugend ist vor allem von Krieg und Armut geprägt. 1946 tritt er in ein militärisch geführtes Internat mit intensivem Englischunterricht ein. Hier werden zukünftige Diplomaten und Agenten ausgebildet, keine Dandys. Und doch lebt und lernt Belyaev hier, viele Jahre! 1955 geht er zum Studium nach Moskau, 1960 ist er ausgebildeter Dolmetscher und nimmt einen Job am Flughafen Scheremetjewo an. Kostya Belyaev ist endlich frei.
    Kostya Belyaev: Das war Schichtarbeit – alle drei Tage eine 24 Stunden Schicht. Entsprechend hatte ich viel Zeit und begann Gitarre zu lernen. Ich wohnte damals im Wohnheim, kaufte mir eine Gitarre und begann bald Lieder zu schreiben. Von Anfang an liebte ich diese ans Gangstermilieu angelehnten Lieder, Straßenlieder, Scherzlieder. Odessaer Lieder. Ich habe nie Lieder offizieller sowjetischer Komponisten gesungen, mich zog es immer zu diesen Undergroundliedern. Man konnte damals Tonbänder kaufen, auf den Märkten. Da stand nicht drauf, wer der Autor ist oder wer singt – das war nicht wichtig. Damals war das nicht entscheidend. Wichtig war die Texte abzuschreiben, die Melodie zu lernen und die Lieder zu singen.
    Wie gut das illegale Vertriebsnetzwerk für Blat-Chansons in den 70er Jahren funktionierte, kann man daran sehen, wie schnell Stücke, die für Severnyj geschrieben wurden, im Repertoire von Belyaev auftauchten. Als nächstes singt der Odessit Belyaev hier ein gefälschtes Odessa-Chanson, das erst kurz zuvor für Severnyj geschrieben wurde. Der Autor war kein anderer als Rudik Fuks! ...Ab Mitte der 60er Jahre hat Belyaev sein Leben ideal organisiert. Offiziell arbeitet er ein paar Stunden pro Woche als Englischlehrer für diverse Universitäten. Das ist wichtig, denn Leuten ohne Anstellung droht eine Verurteilung wegen Schmarotzertums. Der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky hat das 1964 erfahren müssen. Nebenher gibt Belyaev gut bezahlten Privatunterricht, mit dem sich Abiturienten auf die Aufnahmeprüfungen für die Uni vorbereiten. Und er singt. Mitte der 60er Jahre entstehen die ersten Aufnahmen und dann kommt allmählich seine ganz große Zeit.

    Garik Osipov (russisch)
    Nach wie vor liebt das Volk diese anarchischen Chansons, nach wie vor fürchtet der russische Beamte sie wie der Teufel das Weihwasser. Der Regimewechsel im Lande hat daran nur eines geändert: ihre Veröffentlichung auf CDs und Auftritte in Clubs sind derzeit nicht verboten. Aber auch das birgt Probleme, wie Graf Hortiza, der im wahren Leben Garik Osipov heißt, erzählt:
    Heute ist es eine schwierige Sache mit diesem Genre, mit diesen Chansons. Man kann damit viel Geld verdienen, aber das alles hat nichts mehr zu tun mit dem, was Severnyj, Belyaev oder auch Aleksandr Shabalovskij gemacht haben. Ich vergleiche das mit dem Unterschied zwischen dem Motown Soul der 60er – Otis Reading und Aretha Franklin - und dem Gangster-Rap von heute. Das sind völlig verschiedene Dinge. Das sind doch heute alles reiche Zombies, an denen noch mehr Gold rumhängt, als damals in den 70er an unseren Buffetdamen, die Alla Pugatchova verehrten und mit geschmuggelten Zigaretten dealten.
    Die Kommerzialisierung des Chansons begann übrigens nicht erst in den 90er Jahren. Schon seit Ende der 70er Jahre stießen die Undergroundproduzenten in Leningrad und Moskau immer neue Aufnahmen in immer kürzerer Zeit aus, um die wachsende Nachfrage des Marktes zu bedienen. Die Qualität sank entsprechend und schon bald waren die Diamanten des Genres in einem Meer aus mittelmäßigem Plunder verschwunden. Talentfreie Lohnschreiber hauten die Texte nach Schema F zusammen und als die Keyboards aufkamen, ging auch die Kunst des richtigen Arrangements und der Instrumentierung verloren. In den 90ern erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt.

    Die Wiedergeburt des klassischen russischen Chansons, für die Graf Hortizas Platte ein herausragendes Beispiel ist, hat daher zwei Aspekte: Auf der einen Seite steht der Versuch, neue Chansons von hoher Qualität zu schreiben und zu singen, auf der anderen die Bewahrung und neuerliche Popularisierung des Werks der alten Meister.

    Sergey Schnurov (russisch)

    Psoy Korolenko (russisch)

    Der junge Petersburger Sänger Sergej Schnurov: Ich mag das Wort Chanson nicht. Das Wort kommt ja aus Frankreich und bezeichnet im Grunde nur ein Lied, sonst nichts. Blatnjak gefällt mir besser – das Wort beschreibt diesen Stil viel besser. Blatnjak war in der Sowjetunion ja Undergroundmusik. Im Grunde war das unser Rock'n'Roll. Nicht im Sinne von Mode oder Stil sondern im Sinne eines Protestes, einer Ablehnung des 'normalen' Lebensstils.
    Blatnyak also. Woher das Wort kommt ist übrigens heftig umstritten. In jedem Fall bezeichnet 'Blat' die Sprache der Diebe. Wenn man etwas 'po blatu' besorgt oder bekommt, dann heißt das soviel wie 'durch Beziehungen', also ungesetzlich. Blatnaya Musyka wiederum oder Blat-Musik ist ein anderer Begriff für den Jargon der Ganoven. Tja und Blatnyak schließlich sind die Lieder, die von all dem handeln. Von Gaunern und ihren Abenteuern, von der Zeit in Gefängnis und Lager, die kaum zu vermeiden ist, von der Sehnsucht nach der Freiheit und der Heimat.

    Dazu kommt eine Unzahl von Liedern, die im engen Sinne nichts mit der kriminellen Seite des Lebens zu tun haben, die aber den Gaunerliedern in ihrer anarchistischen, jede Autorität ablehnenden, ja verachtenden Grundhaltung nahe stehen. Straßenlieder, freche Scherzlieder, zotige Liebeslieder und vieles mehr. Für manche Leute bezieht sich das Wort Blatnyak nur auf die Lagerlieder im engeren Sinne, aber ich will darunter für heute Nacht all das zusammenfassen, was ich gerade aufgezählt habe. Grundsätzlich geht es, wie Sergej Schnurow gesagt hat, um eine Art Protest gegen das 'normale', das geordnete Leben.

    Ob dieses sozialistisch geordnet ist oder kapitalistisch, spielt dabei keine Rolle. Weder Schnurov noch seine Vorgänger aus den 60er und 70er Jahren sind Dissidenten im engeren Sinne. Die Funktion des Blat-Chansons in der russischen Kultur geht über das politische Alltagsgeschehen weit hinaus, wie der Schriftsteller Andrej Sinjawskij in einem Essay bemerkte. Sinjawskij hatte übrigens von 1965-71 mehr als genug Zeit, das russische Strafverfolgungssystem als Häftling von innen kennen zu lernen.
    Andrej Sinjawskij: Das Blat-Lied zeichnet sich dadurch aus, dass es einen Abdruck der Seele des Volkes darstellt - und eben nicht nur der Physiognomie des Diebes! In diesem Sinne kann das Blat-Lied, in einer Vielzahl von Formen, Anspruch auf den Titel des Russischen Nationalen Liedes erheben. Es eröffnet jenes Schöne, das unseren Augen im Leben verborgen bleibt. Und mehr noch, das Blat-Lied ist in seinem Kern rein und unschuldig, wie ein kleines Kind, und durch seine tiefe spirituelle, moralische Note verneint es unabhängig vom eigenen Willen genau die Verbrechen, die es scheinbar so kenntnisreich besingt.

    Groß und ruhmreich ist das Volk, dessen Missetäter solche Lieder singen. Aber wie verwirrt und elend muss dieses Volk andererseits sein, wenn es niemand anderes als seine Diebe und Räuber sind, die dieses gemeinsame Lied am besten und umfassendsten erschaffen.
    Wie hoch ist dieses Volk gestiegen! Wie tief ist es gefallen!