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Die Gefährdung des Lebens in Schach halten

Mit Peter Bieris Buch "über die Vielfalt menschlicher Würde" wird der Leser weniger begreifen, was das Grundgesetz unter Würde versteht. Ssondern vielmehr, was unsere vielfältigen Erfahrungen der Würde über unser Leben sagen.

Von Walter van Rossum | 24.10.2013
    Von dem Posaunenstoß, mit dem unser Grundgesetz anhebt, wurde wahrscheinlich fast jeder schon mal angeblasen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

    Die Verkündungsprosa des humanistischen Fundamentalismus lässt uns nicht kalt. Ergriffen spüren wir uns als Teil eines höheren Projekts. Doch in den Tiefebenen des Alltags erkaltet die Glut dann rasch. Wo ist sie denn die Würde, wenn wir eintauchen in die Apparate unseres Arbeitslebens? Wo ist sie, wenn obskure Organisationen mein Privatleben ausspähen? Wo, wenn im Zehnminutentakt die öffentlichen Müllkörbe nach leeren Flaschen durchforstet werden?

    Auch der Begriff der "Würde" gehört zum Skandal der Moderne, die nämlich keine Ahnung von ihren Leitmotiven hat: Liberté, Egalité, Fraternité zum Beispiel. Was verstehen wir eigentlich von Freiheit – außer der Abwesenheit von Erich Honecker? Was verstehen wir von Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit? Was von Bewusstsein? Was von Wahrheit – und all den andern Dingen auf die wir uns so hochtrabend verpflichten?

    Und so ist da auch mit der Würde. Natürlich fänden wir in jeder besseren Bibliothek ein paar Regalmeter Tiefsinn zu jedem dieser Konzepte. Doch gehört es zu den Abgründen unseres Geisteslebens, dass niemand sich je gefragt zu haben scheint, wie dieser Geist denn ins Leben finden könnte.

    Worauf antwortet Würde?
    Und genau von dieser Sorte welt- und lebensfremder Expertise scheint der Philosoph Peter Bieri die Nase voll zu haben, wenn er in seinem Buch "über die Vielfalt menschlicher Würde" nachdenkt. Ihm geht es nicht einmal um eine exakte Definition von Würde. Ihn interessiert vielmehr, warum wir die Lebensform der Würde erfunden haben. Worauf antwortet Würde?

    Der Gedanke, der sich langsam herausbildete, lautet: Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen. Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet: Ich nehme die Herausforderung an. Die Lebensform der Würde ist deshalb nicht irgendeine Lebensform, sondern die existenzielle Antwort auf die existenzielle Erfahrung der Gefährdung.

    Würde ist für Bieri also eine Art zu leben – wie es bereits im Titel seines Buches heißt. Wir werden also weniger begreifen, was das Grundgesetz unter Würde versteht, sondern vielmehr, was unsere vielfältigen Erfahrungen der Würde uns über unser Leben sagen. Peter Bieri sucht keine neue Theorie der Würde, sondern vergegenwärtigt und analysiert unseren konkreten Umgang mit Würde.

    Allein dafür muss man diesen Philosophen bewundern: Entschlossen lässt er alle Expertise, das Geistergespräch der großen Geister und die geschlossene Welt der Gelehrsamkeit hinter sich. Er begibt sich auf die Straße, er beobachtet sich selbst, blättert in ein paar Romanen, er sammelt Momente, in denen Würde eine Rolle spielt. Nirgends will er beweisen, noch behauptet er zu wissen. Im Tumult des Konkreten tastet er nach versteckten Mustern.

    Zwergenwerfen auf der Kirmes
    Sein Weg führt in auf die Kirmes, wo er das Problem des Zwergenwerfens erörtert. Er erklärt, worin die Würdelosigkeit des Tuns besteht und muss doch einräumen, dass der geworfene Zwerg sich nicht gedemütigt fühlt. Er beschreibt, warum Arbeit mit Würde zu tun hat. Er erzählt von Situationen der Hörigkeit, des Mitleid, der Demütigung.

    Der Schriftsteller Peter Bieri erfindet Szenen, die die Muster von Schuld und Sühne durchspielen oder zitiert entsprechende literarische Beispiele. Wir ahnten es nicht: Die Spuren der Würde finden sich überall. Oder wenigstens sieht Peter Bieri sie überall:

    Nelson Mandela verbrachte 27 Jahre als politischer Häftling im Gefängnis. Als er herauskam, reichte er den Weißen, die ihm ein halbes Leben gestohlen hatten, die Hand zur Versöhnung. Er verzichtete auf ein Gleichgewicht des Leids, nicht nur im Tun, sondern sogar im Empfinden. Die Würde, die in diesem Willen zur Versöhnung lag, beruhte auf der Fähigkeit zu vergeben. Es waren die Bereitschaft und die Kraft, vergangenes Unrecht ruhenzulassen. Das war, so will es einem vorkommen, nur möglich, weil es Mandela um etwas Größeres ging als persönliche Konflikte und persönliches Leid: die friedliche Zukunft eines Landes.

    So darf man sagen. So muss man aber nicht sagen. Man könnte Mandelas Verhalten einfach generös nennen oder auch bloß eine politische Strategie. Man könnte sie auch verurteilen, nämlich im Namen all derer, die ihr Leben als verächtliche, gedemütigte, rechtlose Menschen ertragen mussten. Wie kommt Mandela dazu, den Peinigern und dem ganzen System der Peinigung zu verzeihen? Was hat das mit Würde zu tun?

    Bieri hatte es angekündigt: Seine Sicht der Dinge ist nur eine Sicht der Dinge. Und Würde ist kein homogenes Feld, sondern oft ambivalent und undeutlich. Wohl war. Aber was ist sie dann anderes als eine mäandernde semantische Wanderdünne, die sich mit dem Wind bewegt? Am Ende scheint es, Würde ist nur der Name, den Peter Bieri der guten alten Sorge ums Dasein gibt. Doch Würde ist keine Antwort auf diese Sorge.

    Erstaunlich, gar lesenswert ist dieses Buch nur, wenn man es als Fluchtversuch aus dem akademischen Philosophieren oder aus den Sprachspielen der Theorie liest. Der Philosoph Peter Bieri wurde 2001 einem größerem Publikum durch sein bemerkenswertes Buch über "Das Handwerk der Freiheit" bekannt. Darin verteidigte er die Freiheit unter anderem gegen die deterministischen Behauptungen der Neurobiologen und Hirnforscher. Darüber hinaus beschrieb er die Freiheit als eine konkrete humane Praxis.

    Bieri ist auch Autor von "Nachtzug nach Lissabon"
    Doch Peter Bieri ist auch ein anderer: Unter dem Pseudonym Pascal Mercier wurde er als Romancier ebenso geschätzt. "Nachtzug nach Lissabon" heißt sein bekanntester Roman. Seit 1993 hatte Bieri den Lehrstuhl für Sprachphilosophie an der Freien Universität Berlin inne. 2007 ließ er sich aus Ärger über den Universitätsbetrieb vorzeitig pensionieren. Bieri wird nächstes Jahr 70 Jahre alt und offenkundig ist er nach einem erfolgreichen Leben als Hochschullehrer der hohen Schule der Begriffsakrobatik komplett überdrüssig.

    Stattdessen hat ihn gereizt, ohne alle Begriffskrücken vom unmittelbar Konkreten gleichsam sokratisch zu plaudern. Dabei ist eine Art freundlicher humanistischer Lebensberatung entstanden, die vor allem durch ihre Schlichtheit erstaunt. Eine Art persönliche Exerzitie auf der Suche nach einem neuen, einfacheren Denken. Ein großes Projekt – aber ein allzu kleiner Schritt dahin.

    Peter Bieri: "Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde"
    Hanser Verlag. München 2013. 382 Seiten, 24,90 Euro
    Der britische Schauspieler Jeremy Irons als Gymnasiallehrer Raimund Gregorius und Martina Gedeck als Mariana in einer Szene des Films «Nachtzug nach Lissabon»
    Szene aus "Nachtzug nach Lissabon". (picture alliance / dpa / Sam Emerson/NTTL production/C-Films AG)