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"Die Gefahr eines Bürgerkrieges in Afghanistan wäre sehr, sehr groß"

Es sei "abenteuerlich", den für 2014 geplanten Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan auf 2013 vorzuziehen, sagt der FDP-Politiker Bijan Djir-Sarai - und widerspricht damit der Forderung des Präsidenten Hamid Karsai. Ein schneller Abzug würde "im Land Chaos hinterlassen".

Das Gespräch führte Sandra Schulz | 16.03.2012
    Sandra Schulz: Es gibt eine sehr schroffe Weisheit darüber, wie lange man anderswo willkommen ist. Gäste seien wie Fisch, heißt es, der fängt nach zwei Tagen an, zu stinken. Seit gut zehn Jahren läuft jetzt der NATO-Einsatz in Afghanistan, geplant ist der Abzug für das Jahr 2014, und nach den jüngsten Äußerungen von Präsident Karsai von gestern sind sie offenbar immer weniger willkommen in dem Land. Um ein ganzes Jahr will er das Einsatzende beschleunigen, nach vorne verlegen, schon ab dem kommenden Jahr sollten einheimische Kräfte für Sicherheit in dem Land sorgen. Damit steht der Abzugstermin erneut zur Debatte.
    Am Telefon begrüße ich jetzt Bijan Djir-Sarai von der FDP, im Bundestag Mitglied des Verteidigungsausschusses. Guten Tag!

    Bijan Djir-Sarai: Guten Tag.

    Schulz: Hamid Karsai scheint, die internationalen Truppen loswerden zu wollen. Ist es dann nicht Zeit zu gehen?

    Djir-Sarai: Also zunächst einmal: Die Reaktionen von Herrn Karsai waren ja schon zu erwarten, wenn Sie sich die Entwicklung gerade auch in Afghanistan anschauen nach dem Massaker an 16 afghanischen Zivilisten durch einen amerikanischen Soldaten, nach den Ausschreitungen bezüglich Koran-Verbrennungen. Hier musste ja Herr Karsai gerade innenpolitisch auch vor Ort Akzente setzen. Das heißt, viele Forderungen, die wir gerade auch diskutieren und auch analysieren, sind in erster Linie innenpolitischer Natur. Das ist eine afghanische Debatte, Herr Karsai muss ja auch nach innen ganz klar vor allem gegenüber seinen eigenen Kritikern deutlich machen, dass er Herr der Lage ist, und das versucht er natürlich auch mit seinen Reden und mit den Botschaften, die er setzt.

    Schulz: Also Sie tun es als reine Rhetorik ab?

    Djir-Sarai: Man darf das zumindest nicht unterschätzen. Rhetorik spielt an dieser Stelle gerade in dieser Region, in diesem Land eine große Rolle. Herr Karsai weiß ganz genau, welche Signale gerade die Bevölkerung auch von ihm erwartet, und das muss er an dieser Stelle auch so setzen. Das ist ja das, was seine Kritiker ja auch immer ihm vorwerfen. Seine Gegner in Afghanistan sagen ja immer, er wäre eine Marionette des Westens, oder er wäre nur der Bürgermeister von Kabul, mehr hätte er nicht zu sagen, und da muss er natürlich auch dementsprechend innenpolitisch ganz klar Akzente setzen.

    Schulz: Aber kann man denn mit einem Präsidenten noch zusammenarbeiten, dessen Signale nach außen offenbar gar nicht ernst genommen werden, weil sie nur nach innen gerichtet seien?

    Djir-Sarai: Nein, ich will nicht sagen, dass seine Reden oder seine Äußerungen nicht nach außen ernst genommen werden. Das muss man schon sehr ernst nehmen, weil, das ist ja die Lage vor Ort, die auch sehr gefährlich ist, und die Entwicklung der letzten Tage – das haben wir ja auch gerade in dem Vorspann gehört -, die Soldaten sind ja am Anfang unseres Engagements im Prinzip als Befreier empfunden worden und jetzt kommt der Zeitpunkt, wo man die internationalen Truppen auch vielleicht als Besatzer empfinden könnte, und das ist schon eine gefährliche Entwicklung, das muss man ganz klar beobachten. Nur das wird letztendlich nicht sonderlich hilfreich sein, weil wir haben alle gemeinsam eine Abzugsperspektive entwickelt und dieser Abzugstermin 2014 war ja – Sie erinnern sich auch selbst an die Debatten – damals schon ein sehr, sehr ehrgeiziges und ambitioniertes Ziel. Und das Ganze jetzt noch ein Jahr vorzuziehen, also ich würde es für abenteuerlich halten.

    Schulz: Dann erklären Sie es uns doch. Steht der Abzugstermin, der vereinbarte?

    Djir-Sarai: Zunächst einmal: Wir Deutsche können ja nicht allein entscheiden, wann ein Abzugstermin ist, oder wann das Ganze stattfinden soll; das muss immer mit den Verbündeten stattfinden und ausdiskutiert werden. Aber noch einmal: Der Abzugstermin 2014 war ja schon oder ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, und wir haben ja auch immer gesagt, wenn die Rahmenbedingungen dann dementsprechend auch vorhanden sind. Aber das Ganze jetzt noch vorzuziehen, ein Jahr vorzuziehen, halte ich für gewagt. Sie dürfen das ja nicht vergessen: Die ganzen Friedensgespräche, der Versöhnungsprozess vor Ort, das findet ja gerade alles statt und wir haben ja auch erste Erfolge, und das ist sehr erfreulich. Das Ganze jetzt im Prinzip zu beenden oder abzubrechen, würde meiner Meinung nach eher dazu führen, dass wir dann im Land Chaos hinterlassen würden zu diesem Zeitpunkt. Also die Gefahr eines Bürgerkrieges in Afghanistan wäre sehr, sehr groß. Ich empfehle uns allen, da ruhig zu bleiben und ganz, ganz klar das Ziel 2014 weiter im Auge zu behalten.

    Schulz: Und das ist eine Empfehlung, ruhig zu bleiben, dann offenbar auch an den Außenminister, ebenfalls ja in der FDP, an Guido Westerwelle, der heute gesagt hat, die Alliierten würden sicher nicht länger in Afghanistan bleiben, als von dem Land, von den afghanischen Partnern gewünscht.

    Djir-Sarai: Also was der Außenminister gesagt hat, war ja was ganz anderes. Der Außenminister hat gesagt, dass das eine Entscheidung ist, die wir gemeinsam treffen müssen, und das hatte ich ja gerade eben auch gesagt. Das ist nicht etwas, wo wir alleine im Deutschen Bundestag darüber entscheiden, sondern das ist etwas, was wir damals mit unseren Partnern gemeinsamen verhandelt haben – 2014. Und natürlich: wenn die Partner das alle anders sehen, dann werden wir auch zu einer anderen Bewertung und Entscheidung kommen. Aber ich sage ganz klar, dieses Ziel 2014 sollte weiter im Auge behalten werden, das war schon damals, das ist auch nach wie vor ein sehr ehrgeiziges Ziel, aber es ist zu schaffen. Erfolge sind da, Erfolge sind erkennbar, die Strategie der Reintegration funktioniert, die Versöhnung funktioniert, Friedensgespräche, Verhandlungen finden statt. Das ganze jetzt abzubrechen oder quasi vorzuziehen, ich würde das für ein Problem halten.

    Schulz: Aber es scheint ja noch ganz andere Perspektiven zu geben innerhalb der Bundesregierung. Die Kanzlerin hat Anfang der Woche gesagt, sie sei nicht ganz sicher, oder sich skeptisch gezeigt, ob 2014 nicht vielleicht sogar noch zu früh sein könnte. Ist sich die Koalition da nicht einig?

    Djir-Sarai: Nein, die Koalition ist sich da einig. Ich kenne ja die Debatten aus dem Verteidigungsausschuss, ich kenne die Debatten aus dem Auswärtigen Ausschuss, also wir haben ein sehr realistisches Bild, was Afghanistan anbetrifft. Nur es bringt uns ja auch nichts, hier eine Diskussion zu führen, jetzt 2014, 2013, sondern es muss einfach die Realität vor Ort widergespiegelt werden. Das ist das Entscheidende. Wir müssen dafür sorgen, dass wir ein Afghanistan hinterlassen, das sich selbst trägt, und vor allem wir müssen dafür sorgen, dass dieses Afghanistan nie wieder in Chaos und Krieg zurückfällt. Das ist das Entscheidende und darum geht es, und hier sind nur die Fakten entscheidend und daran halten sich alle. Also ich sehe da in der Koalition gar kein Problem.

    Schulz: Halten Sie es dann für eine realistische Perspektive, dass nach einem Abzug (wann auch immer, im nächsten oder übernächsten Jahr) die Sicherheitskräfte in Afghanistan selbst für die Sicherheit im Land sorgen können?

    Djir-Sarai: Ich halte das für realistisch. Wir werden natürlich auch dafür sorgen müssen, dass unsere Unterstützung nach 2014 ja nicht aufhört. Das heißt, wir werden in Form von Hilfeleistung oder auch Ausbildungszwecken weiterhin ja in Afghanistan tätig bleiben. Das müssen wir auch machen. Also Afghanistan wird noch Jahrzehnte unsere Unterstützung und Hilfe brauchen, das ist völlig klar. Aber ich halte das für realistisch, weil dafür sind auch erste Ansätze erkennbar.

    Schulz: Das hat doch aber in den vergangenen zehn Jahren nicht geklappt, die der Einsatz jetzt dauert. Warum sollte sich das, was macht Sie da so zuversichtlich, in den nächsten zwei Jahren ändern?

    Djir-Sarai: Ich habe in der Vergangenheit häufig auch im Deutschen Bundestag gesagt, dass unser Engagement in Afghanistan damals absolut notwendig war, aber trotzdem zum Teil viele Ziele, die man damals formuliert hat, sich hinterher als unrealistisch gezeigt haben – beispielsweise die Vorstellung des Außenministers Fischer damals, dass man eine Hochburg der Demokratie in Afghanistan einführt, diese Dinge sind ja völlig unrealistisch. Und wir sind hingegangen und nach 2009 haben wir eine völlig neue Strategie und Perspektive für Afghanistan entwickelt, und das zeigt erste Früchte. Allein diese Integrationsstrategie, diese Versöhnungsstrategie, Gespräche zu führen mit sogenannten gemäßigten Taliban, das sind ja alles Dinge gewesen, die vorher beziehungsweise am Anfang des Engagements völlig undenkbar waren. Das sind alles Dinge, die quasi nach 2009 dann gekommen sind, und die zeigen auch bereits erste Erfolge.

    Schulz: Bijan Djir-Sarai, für die FDP Mitglied im Bundestagsverteidigungsausschuss und hier heute in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Danke schön!

    Djir-Sarai: Vielen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.