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Die geheime Schrift. Die Notizen des Agha Akbar

Die geheime Schrift ist der persönlichste Roman von Kader Abdolah, sieht man es der Geschichte zunächst auch kaum an: Erinnerungen werden hier nicht als solche beschworen, sondern in eine Erzählung eingebettet, die das Finden von Erinnerungen zum Thema macht. Sie handelt nämlich von einem taubstummen Mann in Persien, der nicht lesen und schreiben kann, und so in einer Phantasiesprache zu Papier bringt, was ihn bewegt. Und von seinem Sohn, der ihn dazu einst ermutigte und sich nun fragt, was sein Vater da eigentlich geschrieben hat. Die scheinbar absurde Situation hat ihren politischen Hintergrund: Der Vater machte weiter seine Aufzeichnungen, während der Sohn vor den Ayatollahs fliehen musste. Als Exilant in den Niederlanden erhält er plötzlich das Büchlein seines verstorbenen Vaters zugeschickt. Was geschah weiterhin in Iran, in seiner Heimat? Kader Abdolah über seine eigenen Erinnerungen:

Volkmar Mühleis | 18.07.2003
    Mein Vater war selbst taub und stumm, und er konnte auch nicht schreiben. Aber in meinen Augen war er ein Dichter, ein analphabetischer, taubstummer Dichter. Er wollte stets lesen und schreiben lernen. Doch dafür gab es – dort wo wir lebten – keine Möglichkeiten. Also versuchte ich ihm zu helfen und machte eine Schrift aus Kritzeleien für ihn. So wie Kinder spielen, dass sie schreiben können wie Erwachsene. Und ich versicherte ihm: Das ist deine ganz persönliche Schrift, mit ihr kannst du alles aufschreiben, was du willst. So schrieb er sein Leben lang in erfundenen Zeichen, Kritzeleien. Ich erhielt dann tatsächlich einige Jahre später ein Päckchen, mit all den Aufzeichnungen, die mein Vater gemacht hatte. Ich legte sie zunächst weg, in meinen Bücherschrank, doch dann dachte ich: In dieser Zeichensprache ist alles, was meinem Vater wichtig war, geborgen, aufgehoben. Und so machte ich mich daran, seine Schrift zu entziffern und mich zu fragen, was er damit erzählt hat.

    Es ist auf diese Art die Geschichte von Vater und Sohn geworden, Agha Akbar und Esmail, aber auch gleichzeitig die Konfrontation des niederländischen Exils mit der persischen Vergangenheit. Dies zu verbinden, gelingt Kader Abdolah auf anschauliche Weise: Der allwissende Erzähler begleitet den Leser selbst durch das Buch, wie im Märchen wird stets angekündigt, wohin die Reise geht. Diese führt in das Dorfleben in den persischen Bergen genauso wie in die Verflechtungen der Politik, die Errichtung des islamitischen Gottestaates. Gleichzeitig überlegt Esmail, wie er seiner Familie daheim erklären könnte, was sie sich etwa unter holländischen Dünen vorzustellen habe oder mit welcher Direktheit der Umgang in Europa sei. In einer seiner Lesungen gibt der Autor hierzu ein Beispiel:

    Liebst du mich? Ja. Liebst du mich? Nein. Wer ist da? Ich. Im Orient geht es nie so direkt zu. In Persien liebt man das Runde, so rund wie die alten, blauen Kuppeln von Isfahan sind. Auf eine Frage wie ‚Liebst du mich?’ erhält man nie eine direkte Antwort. Dazu gibt es ein schönes Beispiel aus der persischen Literatur: Ein Scheich war im Mittelalter verliebt in eine Frau. Und er klopfte an ihre Tür. ‚Wer ist da?’ fragte die Frau. Und der Scheich antwortete, ganz so wie es ein armer Niederländer tun würde: ‚Ich!’ Die Tür blieb verschlossen. Also versuchte er es von neuem: ‚Wer ist da?’ – ‚Ich!’ Doch die Tür blieb verschlossen. Einige Zeit später kam er von neuem an die Tür und klopfte. ‚Wer ist da?’ – ‚Du’, antwortete der Scheich. Und die Tür ward geöffnet!

    In der Politik geht es jedoch keineswegs so poetisch zu: Für Esmail ist die Tür zurück in den Iran verschlossen, solange das islamitische Regime weiterhin regiert. Machthaber und Bevölkerung leben in der Darstellung Abdolahs in einer einzigen historischen Entfremdung voneinander: So installierten die Amerikaner den persischen Schah und seinen Sohn und diktierten eine Liberalisierung, eine Direktheit im Umgang, die kaum als Bereicherung erfahren werden konnte. Deshalb setzt auch Esmail in der Geschichte seine Hoffnungen auf die islamische Revolution. Doch er erkennt schnell, welchen Täuschungen er erlegen ist: Nun verfallen die neuen Machthaber ins Gegenextrem und diktieren die Ergebenheit vor den Stellvertretern Gottes. Selbstbestimmung ist auch das nicht. Sie findet sich nur im täglichen Leben der Leute selbst wieder, in sehr engen Grenzen.

    1988 hat Kader Abdolah den Iran über die Grenze im Norden zur Sowjetunion verlassen und ist über Berlin schließlich in die Niederlande gekommen. Heute ist er dort einer der bekanntesten eingewanderten Schriftsteller, die selbst Niederländisch schreiben. Zur holländischen Bücherwoche erregte er vor zwei Jahren – kurz nach dem erstmaligen Erscheinen von Die geheime Schrift – das Aufsehen der Öffentlichkeit, als er anlässlich des Schwerpunktes von Literatur immigrierter Autoren den Veranstaltern Doppelmoral vorwarf. Abdolah:

    Immigrantenliteratur, oder Literatur, die von den Kindern der Gastarbeiter geschrieben wird, ist nicht mehr wegzudenken aus der niederländischen Literatur. Und da die Niederländer das nicht länger ignorieren konnten, haben sie vor zwei Jahren erstmals ihre nationale Bücherwoche den eingewanderten Schriftstellern gewidmet. Traditionell wird dabei ein Autor gebeten, ein Buch zum Thema zu schreiben. Und was hat man gemacht? Statt einen der vielen Immigranten im eigenen Land anzusprechen, wurde Salman Rushdie aus New York eingeflogen, damit er dazu etwas schreibt. Es war also eine halbe Sache, und darüber habe ich mich geärgert. Deshalb habe ich alternativ zu Rushdie ebenfalls ein Buch zum Thema vorgestellt. Es ging einfach darum zu zeigen, dass man uns auch ernstnehmen muss, wenn man uns schon ehrt.

    Der Roman Die geheime Schrift ist eine seltene Symbiose von Ost und West: In seinen kurzen Sätzen, der Klarheit der Komposition und der einzelnen Verflechtungen, steht der Text in bester niederländischer Erzähltradition und lebt doch von einem Sinn für Geheimnisvolles, undeutlich Gelassenes, dass hier das Indirekte, Dezente, Poetische der persischen Literatur immer wieder durchscheint. Das Buch zeigt auf diese Art, wie das Exil dem Autor zu einer geistigen Heimat geworden ist. Und wie ein persischer Romancier zum Übersetzer einer imaginären Zeichensprache ins Niederländische wurde. Der Vater, der sich mit seiner Schrift selbst erfand, ist ein Sinnbild des Sohnes, der in der Fremde sich in der Sprache anderer neu erfindet. Er überwindet die Sprachlosigkeit und kommt in das Erzählen seiner eigenen Geschichte, seiner Herkunft und Flucht. Zur Sprache zu kommen ist in diesem Sinn für einen eingewanderten Schriftsteller ein unweigerlich gesellschaftlicher Akt, kein Mit-sich-selbst-Ausmachen des eigenen Schreibens. Diesem Buch liegt eine Notwendigkeit und ein Mitteilungsbedürfnis zugrunde, die es gemeinsam mit der sicheren Hand des Autors zu einem eindringlichen Text machen. Die geheime Schrift bewahrt ihr Geheimnis – sie ist so rund wie kein Happy-End sein kann.