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Die Geheimnisse eines ehrenwerten Handwerks

Anne Delaflotte ist gelernte Buchbinderin. In ihrem Debütroman entführt sie uns in die beschauliche Welt von Mathilde, die in der französischen Provinz eine Buchbinderwerkstatt betreibt. Als eines Tages ein Fremder mit einem rätselhaften Buch bei ihr auftaucht, gerät ihr Leben aus den Fugen.

Von Martin Grzimek | 22.05.2012
    "Auf dem Nachttisch lag, wie es sich gebührte, eine neue Cyrano-Ausgabe. Leicht schlotternd kroch ich in das kalte Bett, rief mir André in Erinnerung, der mir meinen Strudel bringen würde, dachte an Sébastien, an Monsieur Roche, an Mademoiselle Billon, an das Buch mit dem Fanum, das sich hinter sicheren Bibliotheksmauern befand. Ich dachte an Solange, an die abgesagte Reise nach Ägypten, die ich letztlich aus Geldmangel und wohl auch aus Angst, Sylvain wiederzusehen, nicht unternommen hatte. Ich dachte an Francois, die Mühle, alles beschwor ich herauf, meine ganze kleine Welt."

    Die "ganze kleine Welt" – in diese tauchen wir ein beim Lesen von Anne Delaflottes erstem Roman "Mathilde und der Duft der Bücher". Eine äußerst beschauliche Welt, denn die Erzählerin ist – wie auch die Autorin – von Beruf Buchbinderin und hat sich mit ihrer Werkstatt in der kleinen fiktiven Stadt Montlaudun in der Dordogne angesiedelt. Das Haus, in dem Mathilde wohnt, hat sie geerbt. Sie liebt es, bevor sie sich - wie einst ihr Großvater - dem Aufbinden und Restaurieren alter Folianten widmet, mit der Sonne aufzustehen und sich von André, dem Bäcker von gegenüber, duftende Strudel oder Croissants bringen zu lassen. Da die junge Frau ein offensichtlich anmutiges Wesen besitzt und ihr Handwerk zu verstehen scheint, kann sie sich über mangelnde Aufträge der umliegenden Bürgermeistereien und Kirchenverwaltungen nicht beklagen. Zufrieden mit sich und ihrem Leben macht sie sich eines Morgens an die Arbeit, als plötzlich zu ungewohnt früher Stunde ein gut aussehender, aber etwas verwirrter Mann in die Werkstatt stolpert, ihr ein Buch mit Aquarellen in die Hände drückt und unversehens einen Schwächeanfall bekommt, über den ihm Mathilde aber hinweghelfen kann.

    Doch aus erst einmal unerfindlichen Gründen flieht er aus ihrer Gegenwart – draußen regnet es fürchterlich – und wird nur wenig später in der Nähe des Bahnhofs Opfer eines Verkehrsunfalls. Plötzlich ist sie aufgestört und durcheinandergebracht, die kleine Welt der Buchbinderin Mathilde. Und die Schnitzeljagd kann beginnen: Denn Mathilde fragt sich: Wer war dieser Mensch, was sind das für Aquarelle einer grottenähnlichen Anlage und was bedeuten die Namen auf einem Zettel, den sie im Buch findet?

    Gutgläubig, wie sie ist, rennt sie zum Bürgermeister des Ortes und schildert ihm alles mit – wahrscheinlich – großen, verschreckt dreinblickenden Augen. Da passiert es zum zweiten Mal: Unerklärlicherweise wird ihr vom Bürgermeister ein schon zugesagter Auftrag wieder entzogen, und Mathilde muss plötzlich um ihre Existenz fürchten. Durch ihre naiven Nachforschungen nach Identität und Herkunft des unbekannten Toten und des rätselhaften Buches gerät ihr Lebensplan in Gefahr zu scheitern. Offensichtlich hat sie, ohne es zu wollen, alte Wunden aufgerissen – und die liegen, wie kann es anders sein, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Denn der Verfasser und Zeichner des geheimnisvollen Buches gehörte der Résistance an, die Familie des Bürgermeisters hat deren Mitglieder verraten, und um dieses Puppentheaterstück zu vollenden, kann der Autorin Anne Delaflotte nichts anderes einfallen, als dass der verunglückte Unbekannte einen Zwillingsbruder besitzt, der natürlich genauso fesch aussieht und sie erneut vom Glück der Liebe träumen lässt. So weit, so gut.

    Da ein Großteil von Romanen im eigentlichen Sinn Romanzen sind und dies auch sein wollen, die es in Hunderten von Variationen gibt, besteht ihr Unterschied meist in den mehr oder weniger überzeugend drapierten Kulissen, vor denen die Episoden von Hoffnung, Liebe und Enttäuschung vorgeführt werden. Anne Delaflotte nun öffnet uns den Blick in die Werkstatt eines aussterbenden Handwerks, in die des Buchbinders. Das macht sie sehr geschickt und kenntnisreich. Den Umgang mit alten, zu restaurierenden Büchern schildert sie recht überzeugend. Sie muss aber wohl beim Schreiben des Buches gemerkt haben, dass diese Nostalgie allein dem Roman nicht genug Farbe gibt.

    Deshalb ist Mathilde auch noch eine besessene Leserin des Theaterstücks "Cyrano de Bergerac" von Edmond Rostand, in dem sie jeden Abend ein paar Szenen nachliest, die ihre eigenen Sehnsüchte in der romantisch-exaltierten Sprache des 19. Jahrhunderts spiegeln. Denn Cyrano ist der lebenslang enttäuschte Liebhaber, der für seinen Bruder die schönsten Gedichte an die Geliebte schreibt, aber für immer in seiner Kunst verkannt bleiben wird. Zudem ist er noch verunstaltet durch eine furchtbar lange Nase, die ebenso hässlich wie störend ist, ein Makel, der sich nicht abstreifen lässt. Ganz ähnlich ergeht es auch Mathilde. Sie ist zwar eine liebreizende Person, aber man kann sie nicht lieben, denn sie ist ja schon vergeben: Sie gibt sich nicht den Menschen hin, sondern dem Duft der alten Bücher. Das macht sie in ihrer Lebensidylle zu etwas Besonderem, aber es befriedigt nicht ihre wahren Wünsche.

    Fazit: Sich hinzugeben für das Schöne, bedeutet noch lange nicht, das wahre Leben genießen zu können. Die Sehnsucht danach bleibt ohne Erfüllung. Das ist ebenso tragisch wie verklärend. In diesem Sinne hat der Roman von Anne Delaflotte nicht den leisesten Anspruch, auch nur eines der Probleme, die er aufwirft oder berührt, zu vertiefen. Er verbraucht seine Kraft in mal hastenden, mal spaziergängerhaften Schritten, begnügt sich mit dem Zitat duftenden Backwerks und weiß nicht, in welches Jahrhundert er gehört: in das des Cyrano de Bergerac, des furchtbaren Zweiten Weltkriegs oder in das Einundzwanzigste, in dem nicht nur alte Sehnsüchte, sondern auch Handwerkskünste wie die Buchbinderei auszusterben drohen.

    Dabei ist Anne Dellaflottes schön gestalteter und von Christian Kolb flüssig übersetzter Roman selbst aller Wahrscheinlichkeit nach von einer hoch komplizierten, elektronisch gesteuerten Druck- und Bindemaschine hergestellt worden. Doch das schadet nicht, dass er jede Menge Klischees bedient, hergeholte Sehnsüchte erweckt, romantische Illusionen befriedigt und gleichsam vollmundig die Zeit totschlägt. Wer sich darin wiederfinden kann, ist an dieser Theke des Zeitvertreibs bestens bedient. Wer nicht, hat zumindest in Einem ein wenig Zugewinn:

    Er sieht seine Aufmerksamkeit auf ein altes, ehrenwertes Handwerk gerichtet, das einem der bis heute wichtigsten Medien auf unserer Welt zumindest äußerlich noch immer zu Ansehen und Geltung verhelfen kann, dem liebevoll und sorgfältig gebundenen Buch.


    Anne Delaflotte: Mathilde und der Duft der Bücher.
    Kindler Verlag, 252 Seiten., 17,95 Euro