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Die Geheimnisse von Jerusalem

Die Place des Vosges in Paris, ein kleiner von Arkaden gesaümter Platz, mitten im Quartier du Marais, gehört zu seinen Lieblingsorten. Denn dort ließ Alexandre Dumas seine drei Musketiere ihre gefährlichsten Duelle ausfechten. Und mit denen fühlt sich der französische Schriftsteller Marek Halter von klein an verbunden:

Rebecca Partouche | 14.03.2003
    Ich bin am falschen Ort und zur falschen Zeit geboren: in Warschau kurz vor dem Krieg und dem Ghetto, und überlebt haben meine Familie und ich dank der Geschichten von Alexandre Dumas. Damals - wir lebten in Usbekistan an der Grenze zu Afghanistan - war meine kleine Schwester schon verhungert und meine Eltern waren sehr krank. Geld hatten wir natürlich keins, und wie sollte schon ein 8-Jähriger seinen Eltern etwas zu essen verschaffen, wenn nicht durch Stehlen. Und so wurde ich notgedrungen zum Dieb, einem allerdings schlechten Dieb, denn immer wieder wurde ich gefasst und zusammengeschlagen. Eines Tages aber, nachdem ich wieder einmal erwischt worden war, verhalfen mir gewieftere Diebe, so eine Clique von Jungs um die 14 Jahre, zur Flucht. Sie wollten von mir wissen, wer ich sei und was ich überhaupt könne. Ich antwortete, dass ich gut Geschichten erzählen kann. Und so erzählte ich meinen neuen Freunden Nacht für Nacht die Geschichten von Dumas, wofür ich Reis geschenkt bekam, und so konnten meine Eltern und ich überleben.

    Ob Dichtung oder Wahrheit, die Geschichte erinnert an das Märchen der Scheherazade ausTausend und einer Nacht - oder eben an die Geschichte von Alexandre Dumas selbst. Der, ein Meister des Roman-feuilleton, des Fortsetzungsromans, zwar nicht um sein Leben, wohl aber um sein finanzielles Überleben täglich neue Episoden erzählen musste. Eine Lust am romantischen und ewigen Forterzählen, die auch Marek Halter teilt. Denn für ihn ist Schreiben immer Fortschreiben. Und Fortschreiben kann man das Alte Testament unendlich, eine Schatzkammer an allgemein-menschlichen Leidenschaften:

    Ich glaube, dass der Mensch universell ist. Warum würden wir sonst beim Lesen von Macbeth, Othello und Dante alle etwas Starkes fühlen, wenn nicht deshalb, weil derjenige, der vor so vielen Jahrhunderten schrieb, genau so war wie wir. Für ihn war das Wesentliche das gleiche, wie für uns: Liebe, Hass, Eifersucht und der Wille zur Macht. Es gibt vier oder fünf Leidenschaften, die durch die Jahrhunderte gehen Es gibt wenig Bücher die diese Fragen so bündeln, wie die Bibel. Alles was Shakespeare beschreibt, steht schon in der Bibel. Wenn man zufällig die Geschichte von David herausgreift, sein Sohn Absalom, der gegen seinen Vater revoltiert, der Tod von Absalom und der Schmerz des Vaters, der Sohn, der die Macht des Vaters beansprucht. Psychoanalytiker haben tausende von Büchern darüber geschrieben, es gibt aber eine Seite in der Bibel, wo alles drin steht, denn am Schmerz ändert sich nichts. Sarahs Wunsch, sich fortzupflanzen, Moses mit seiner nichtjüdischen Frau Zibora, der Ärger seiner Geschwister, die zu ihm kommen, um ihm zu sagen, deine Frau ist eine Fremde, zumal eine Schwarze, und daher schreibt er, als er anfängt, die Gesetze niederzuschreiben, du wirst den Fremden wie deinen eigenen Bruder empfangen, denn du darfst nicht vergessen, dass du ein Fremder warst im Land der Juden. Wenn du einen Fremden für dich arbeiten lässt, bezahle ihn vor den Leuten deines Volkes, weil er ein Fremder ist und deshalb bedrückt ist. Es ist heute nicht anders, wenn man zu seiner Tochter sagt, was, du gehst mit einem Schwarzen, du wirst doch diese Leute nicht zu uns bringen, wie oft haben wir so was schon mal gehört, aber das steht schon in der Bibel.

    Kein Wunder, dass Marek Halter wie schon sein Vorbild Alexandre Dumas, auf eine psychologische Analyse oder gar auf eine äußere Beschreibung der Figuren verzichtet und sich hauptsächlich auf die Dialoge konzentriert. Denn schließlich sind alle Menschen Typen, Vertreter einer begrenzten Anzahl von Leidenschaften. Und dazu gehören vor allem Habgier und Eitelkeit. Beides Eigenschaften, die -so zumindest nach Alexandre Dumas´ "La reine Margot"- schon Katharina von Medici dazu antrieb, sämtliche Hugenotten ermorden lassen und so das Gesicht Frankreichs zu verändern. Die Konflikte unserer Welt führt auch Marek Halter auf die gekränkte Eitelkeit der Grossen zurück. So auch in seinem kürzlich erschienenen Roman "Die Geheimnisse von Jerusalem". Eine wie immer bei Marek Halter atemlose Suche nach dem Ursprung des Menschen und dessen Sehnsüchte. Eine Schatzsuche nach dem gemeinsamen Kern der jüdischen, christlichen und moslemischen Religion, die sich schnell zu einer rasenden Verfolgungsjagd entwickelt. Erzählt wird die Geschichte erst aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, der schnell und ohne Unterlass von einem Schauplatz zum anderen, von einem Kontinent zum andern, hin und herspringt und so den Leser in Atem hält. So jedenfalls der Anfang des Romanes. Da wird Aaron in Brooklyn umgebracht, während Tom sich in New-York von seiner Freundin trennt und ein französischer Romancier in Paris einen Herzinfarkt erleidet.

    Das Erzähltempo ist rasend, es eilt von Höhepunkt zu Höhepunkt, von Cliffhänger zu Cliffhänger. Auch das eine Dumas´s che Anleihe:

    Das, was Dumas ausmacht, ist die Geschwindigkeit des Erzählens, eine Geschwindigkeit, die dem modernen Leben entspricht; alles liegt in den Dialogen, in dieser Hinsicht hat Hemingway nichts erfunden. Drei, vier Repliken und schon ist der Leser mittendrin in der Geschichte. Anders als Balzac beschreibt er nicht stundenlang einen Ort, einen Platz, eine Gasse oder ein Café.

    Eine Geschwindigkeit, die sich allerdings bald ins Gegenteil verkehrt, als die real existierende Figur des Autors Marek Halter urplötzlich im Roman auftaucht und anfängt den Leser zu belehren. Dieser nämlich, Autor und Erzähler zugleich, weiß nicht nur über den Ablauf der Handlung bestens Bescheid, er verfügt vor allem über unerschöpfliche Kenntnisse in Sachen Theologie, Geschichte und menschliches Herz. Eine schleppende Vorlesung, der Roman artet in komplizierte Digressionen über Religionsgeschichte und Zahlenmystik aus:

    "Ja....also, Professor, bedenken Sie, daß die Bibel aus 391 300 Zeichen besteht. Diese Zahl ist ein Vielfaches von 26. 26 aber steht in der hebräischen Gematie für die Summe der vier Buchstaben, die das göttliche Tetragramm darstellen, den unaussprechlichen Namen Gottes..." - "Ja, ja! Und zwischen Adam und Moses liegen 26 Generationen!" rief Calimani lachend aus. "Aber sicher, mein lieber, ich kenne diese kleinen Zahlenspielchen. Dazu gehört auch, daß der Herr im 26. Vers des ersten Kapitels der Genesis verkündet: >Lasset uns den Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei<, und daß das vierte Kapitel der Genesis, welches mit dem Wort >Adam< anfängt und mit dem Tetragramm aufhört, aus 26 Versen besteht."

    Eine in Frankreich beliebte Melange aus Fiktion und Autobiografischem, die sogenannte "auto-fiction" gehört inzwischen zu den modischen Genres. Inbegriff und würdige Vertreterin dieser Gattung: Christine Angot, deren kürzlich erschienenes Buch "Pourquoi le Brésil" auf großen Zuspruch stieß. Der Roman als intimer Raum und Beichtstuhl: für den professoral auftretenden Marek Halter ein Fehlgriff. Warum er ausgerechnet auf die auto-fiction zurückgreifen, anstatt ein Geschichtsbuch zu schreiben, begründet Marek Halter folgendermaßen:

    In den "Geheimnissen von Jerusalem" habe ich mich in die Geschichte eingemischt - ganz einfach deshalb, weil ich ein Geschichtenerzähler bin. Der Geschichtenerzähler ist präsent in dem Moment, wo er die Geschichte erzählt. Seine Gestik, seine Blicke, sogar sein Schweigen spielen eine sehr wichtige Rolle für das Verständnis der Erzählten. Aber in einem Buch bin ich Körperlich nicht anwesend, und daher habe ich ein anderes Mittel gesucht, mich in das Buch einzumischen. In diesem Roman zum Beispiel bin ich doppelt vorhanden: Zum Einen wie immer als Geschichtenerzähler, der wie der Leser auf die erzählten Ereignisse reagiert, aber zum Anderen als fiktive Figur, die sich auf die Suche begibt nach einem geheimnisvollen Dokument, das den Ursprung der jüdischen und vor allem der christlichen Religion erklären könnte.

    Grund für seinen Rückgriff auf die Tradition orientalischer Strassenerzähler, die vor Urzeiten Legenden und Geschichten aus dem Alten Testament vortrugen, ist sein unerschütterlicher Glaube an die physische und unmittelbaren Wirkung seiner gesprochenen oder eben geschriebenen Worte:

    Das schönste, was wir als Erwachsene zurück behalten, ist die kindliche Neugierde und Freude, eine Geschichte erzählt zu bekommen. Man kann sehr alt sein und den anderen darum bitten, eine Geschichte zu erzählen, und sie erzählen ihre Geschichte und der alte Mann fängt an zu weinen, vielleicht auch nur, weil Rotkäppchen vom bösen Wolf aufgefressen wurde, so sind wir alle und das ist das Menschliche, was uns Hoffnung macht...

    Die Vorurteile im Menschen abzubauen und den Frieden in der Welt zu stiften: eine moralisch rühmliche, ästhetisch jedoch fragwürdige Absicht. Und trotzdem: das, was auf dem Papier so hölzern klingt, erwacht zum Leben, sobald er zu Erzählen anfängt.

    Marek Halter: ein Erzähler, dem zuzuhören man nicht müde wird.