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Die Geister der Vorfahren

"Die Leiden eines Amerikaners", der neue Roman der US-Schriftstellerin Siri Hustvedt ist ein Ideenroman, ein äußerst komplexes Gebilde, in dem alles auf alles verweist: Theorie und Praxis der Psychoanalyse nach Freud und Jung, die kollabierenden Zwillingstürme über Manhattan im September 2001 und schließlich ein Tagebuch, das nicht auf dem Schreibtisch der Autorin entstand.

Von Tanya Lieske | 13.05.2008
    Wenn der Psychoanalytiker Erik Davidsen nicht mehr weiter weiß, konsultiert er eine ältere Kollegin, und die sagt eines Tages zu ihm: Die Arbeit in der Psychoanalyse kann Geister zu Vorfahren werden lassen. Mit Geistern sind hier keine Nachtgespenster gemeint, sondern eher die schwarzen Flecken, die sich in jedem Familiensystem finden, die Geheimnisse, Umrisse, die Lücken und Aussparungen. In seiner Prägnanz beschreibt dieser Satz den ganzen Roman, der sich am besten mit dem Gedanken der Verwandlung fassen lässt. Alles verwandelt sich bei Siri Hustvedt. Aus Geistern werden Vorfahren, aus Geheimnissen eine Biografie, aus einer Biografie Kunst, aus Kunst Erinnerung, aus Erinnerung ein Trauma, aus dem Trauma neue Stärke. Dieser fortlaufende assoziative Prozess erklärt, warum man den Roman "Die Leiden eines Amerikaners" auf so vielen Ebenen lesen und interpretieren kann. Wie seine Vorgänger ist auch dieser ein Ideenroman, ein äußerst komplexes Gebilde, in dem alles auf alles verweist. Zugleich setzt sie Pflöcke, mit denen sie ihren Roman verankert. Im vorliegenden Fall sind dies: die Theorie und Praxis der Psychoanalyse nach Freud und Jung, die kollabierenden Zwillingstürme über Manhattan im September 2001 und schließlich ein Tagebuch, das nicht auf dem Schreibtisch der Autorin entstand. 2003 verstarb Lloyd Hustvedt, der Vater der Autorin. Aus seinen Aufzeichnungen hat Hustvedt ganze Passagen übernommen, sie collagiert also ihre eigene Imagination mit realen Erlebnissen und Zeugnissen. Diese führen zurück bis in die Zeiten der großen Depression, in die ländliche Armut der Vierziger Jahre.

    " Jeder Mensch hat einen Vater und eine Mutter. Diese Menschen formen uns, sie sind ein Teil von uns, sie leben nicht nur in der Außenwelt. Auch wenn sie sterben, sind sie anwesend. Das gilt auch für Großeltern. Die Großeltern leben in den Eltern, und die Eltern leben in uns. Wir bestehen aus anderen Menschen. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, wir tragen diese Menschen in uns, wir sind nicht die losgelösten und unabhängigen Individuen, für die wir uns halten, sondern wir werden ganz buchstäblich heimgesucht von den Toten. "

    Loyd Hustvedt war der Sohn norwegischer Einwanderer. Eine ganze Generation hatte es in die großen Felder von Minnesota verschlagen. Im Zweiten Weltkrieg war Lloyd Hustvedt in Südostasien, in Neuguinea und auf den Philippinen stationiert, dort kämpfte er gegen japanische Truppen. Die Härten der Einwanderung und die Schrecken des Krieges haben den Vater der Autorin geprägt und grundieren nun die Wahrnehmung des fiktiven Sohnes Erik, der von Alpträumen und Angstzuständen heimgesucht wird. Im Tagebuch des verstorbenen Vaters stößt Erik Davidsen auf ein Familiengeheimnis, das sich um ein früh verstorbenes Mädchen dreht, und das er nun mit seiner Schwester Inga aufdecken möchte.

    " Ich glaube, C.G. Jung hatte recht mit seinen Theorien zu Familiengeheimnissen. Als ich auf Lesereise in Australien war, ist mir dazu folgendes Bild eingefallen. Familiengeheimnisse sind wie eine vollgestopfte Hosentasche. Man weiß nicht, was sich alles darin versteckt hält, aber der Inhalt verändert den Code. Das Interessante an diesen Geheimnissen ist die Tatsache, dass sie wirken. Sie sind ganz anwesend in der Familie, auch wenn man nicht weiß, worum es geht. "

    Auch Eriks Schwester Inga betrauert einen Verlust, auch sie lebt mit einem Toten. Vor fünf Jahren ist ihr Mann, der berühmte Schriftsteller Max Blaustein gestorben. Sieben Briefe hat er an eine junge Schauspielerin geschrieben. Nun vermutet die Witwe Inga zurecht, dass es sich um seine Geliebte handelte. Inga fürchtet die bevorstehende Veröffentlichung der Briefe, und auch, dass Max Blaustein außerhalb der Ehe einen Sohn gezeugt haben könnte. Zwei Schriftzeugnisse, zwei Kinder, zwei Geheimnisse: Solche Verschränkungen und Spiegelungen sind ganz typisch für Siri Hustvedt, die sich in ihren literaturwissenschaftlichen Studien intensiv mit der Romantik beschäftigt hat. Deren Faszination für die Zustände zwischen Wachbewusstsein und Traum überführt Hustvedt nun mit den Techniken der Psychoanalyse.

    " Ich habe in diesem Roman versucht, zwischen einem narrativen und einem fragmentarischen Diskurs hin und her zu wechseln. So ist das Leben eben. Wir erzählen uns unsere eigenen Geschichten, und wir erzählen Geschichten über andere Menschen. Aber das Leben ist keine Erzählung, es ist kein Roman. Es gibt da diese schmerzlichen Erfahrungen, die außerhalb unserer Erzählungen liegen. Meine Figuren bilden sich ein, sie verfolgen diese narrative Spur des toten Mädchens, und dann gäbe es am Ende eine Enthüllung, eine art Big Bang. Das wäre dann der klassische Roman, aber mein Roman unterläuft diese Struktur. Ich wollte mich der Realität annähern, ich wollte deren Erscheinungen imitieren. "

    Siri Hustvedt pflegt eine Vorliebe für hochintelligente, sensible und leicht beschädigte Figuren. "Die Leiden eines Amerikaners" spielt in Brooklyn und in TriBeCa, dort wo in New York die Boheme zuhause ist. Schriftsteller, Schauspieler, Journalisten, Analytiker und Künstler bevölkern diesen Roman, und mit ihrer geistigen Potenz breiten sie Theorien zu Kierkegaard aus und zu Jung, zur Lyrik, zum Film Noir, zur Kunst des biografischen Happenings und zur Katastrophe des 11. September 2001. Was sie reden, vollzieht die Autorin mit der Collagetechnik ihres Romans, der sich so fortwährend selbst bebildert, man könnte sagen: Selbst ausstellt. Soviel Selbstreferenz birgt die Gefahr, ins Leere zu laufen, und man kann diesen Roman bei allen Qualitäten davon nicht ganz freisprechen. Es treffen so viele Ideen aufeinander, es öffnen sich so viele Bewusstseinsebenen, es wird so viel reflektiert, dass man das Gefühl hat, die wesentliche Information zu verpassen. Es ist ganz so, als sei man sei in einen kollektiven Gedankenstrom eingetaucht.

    " Die Arbeit an diesem Buch war fast schon ein musikalisches Erlebnis. Ich glaube, unser Verstand arbeitet assoziativ. Nicht alles, was ich tat, war ganz bewusst. Ich hatte nur das Gefühl, es handele sich um die richtige Bewegung zur richtigen Zeit. Und wo ich mich irrte, habe ich einfach noch einmal neu angesetzt. Ich wollte diese Bewegung, ich wollte diesen inneren Strom erfassen. "

    Mehr als reichlich gestaltet sich auch das Aufgebot an Figuren. Hinter der Kernfamilie bestehend aus Erik, seiner Schwester Inga und deren Tochter Sonia stehen ganze Familiendynastien, die einst in die Ebenen von Minnesota gezogen sind. Dann sind da die vielen Patienten des Analytikers Erik, ihre klinischen Fälle und ihre Neurosen. Diese setzen sich in der Außenwelt fort, explizit auch bei jenen Menschen, die keinen medizinischen Befund aufweisen. Erik selbst ist chronisch einsam. Inga erfährt kleine Absencen, wie man sie gemeinhin als Petit Mal bezeichnet, außerdem ist sie Migränepatientin. Sonia leidet an posttraumatischem Stress, denn sie hat vor einem Jahr gesehen, wie sie brennende Menschen aus dem Zwillingstürmen stürzten. Eriks Vater Lars begab sich auf tagelange, ziellose Wanderungen, Hustvedt nennt das Fachwort: er war ein fuguer. Der verstorbene Schriftsteller Max Blaustein schließlich litt an Realitätsverlust. Seine sieben Briefe hat er zwar einer jungen Schauspielerin geschickt, adressiert aber waren sie an die Figur, die sie einst in einem seiner Filme verkörperte. Womit wir beim zentralen Thema dieses Romans angekommen sind, es ist das zentrale Thema der Siri Hustvedt überhaupt. Es geht um die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, die sie einmal mehr in eine endlose Bewegung zwischen Fakt und Fiktion überführt. Dazu benutzt sie ihr eigenes Leben und hat sich selbst kaum verschlüsselt in der Figur der Inga in ihren Roman hineingeschrieben.

    " Es steht ganz außer Frage, dass die Figur der Inga viel mit mir selbst zu tun hat. Sie ist nicht ganz ich selbst, aber ich habe viele Teile von mit selbst benutzt, um Inga zu erschaffen. Aber ihr Mann Max hat nichts zu tun mit meinem Mann Paul Auster, er ist eher die Quintessenz verschiedener chauvinistischer Männer, die die amerikanische Literatur bevölkern. Aber seine Arbeit bezieht sich auf die Arbeit von Paul Auster. Ich habe ja einen Film für diese Figur erfunden, und als Paul diese Passage gelesen hat, da hat er gesagt: Diesen Film würde ich gerne drehen. "

    Komplett ist das Panorama erst, wenn man auf das große Interesse der Autorin an der Bildenden Kunst verwiesen hat. Für ihre Romane entwirft Siri Hustvedt ganze Gemälde, Fotogalerien und Skulpturen, die sie so detailliert beschreibt, dass man mitunter glaubt, eine besonders verständige Kunstkritik zu lesen. Auch die Ausstellungen und Vernissagen, die sie in ihren Romanen inszeniert, könnten so stattgefunden haben. Gemäß dem Prinzip der Duplizität sind diesmal zwei Künstler unterwegs. Die junge Miranda ist Designerin, eine gebürtige Jamaikanerin, die als Untermieterin bei Erik Davidsen Quartier bezogen. Mirandas ehemaliger Partner Jeffrey ist der Vater ihrer fünfjährigen Tochter. Lange war Jeff abwesend, nun mischt er sich als Stalker ins Geschehen. Jeff Lane ist ein aggressiver Performancekünstler, besessen von dem Gedanken der Endlichkeit fotografiert er sein Leben und alle, die darin vorkommen. Er wird selbst zum Objekt seiner Kunst. Hier wird deutlich, wie nah nicht nur die eigene Literatur, sondern auch die darin evozierte Bildende Kunst bei Hustvedt an der Neurose angesiedelt ist.

    " In der englischen Sprache differenzieren wir nicht ganz exakt zwischen der Erinnerung und der Vorstellung. Ich denke darüber viel nach. All unsere Erinnerungen sind vorgestellt, und all unsere Vorstellungen beruhen auf Erinnerungen. Trotzdem, wenn es so weit kommt, dass jemand seinen Selbsttäuschungen erlegen ist, dass er hat nicht mehr teil hat an der Wirklichkeit, dass er halluziniert oder lügt, dann muss man die Dinge beim Namen nennen. Die meisten von uns tragen Narben und Wunden. Man geht nicht ungestört durch das Leben. Ich glaube aber auch, dass diese Verletzungen uns erst zu Menschen machen. Daher kommt meine Faszination mit neurologischen Zuständen. "

    Auch wenn dieser Roman deutlich überfrachtet ist, wenn er mehr Schwierigkeiten zeigt, auf den Punkt zu kommen als der schlankere und elegant gefasste Bestseller "Was ich liebte": Siri Hustvedts Romane gehören zum Aufregendsten, was die amerikanische Literatur derzeit zu bieten hat. Wie kaum einer anderen gelingt es ihr, einen Querschnitt zu legen durch das Bewusstsein der Nation. Man kann "Die Leiden eines Amerikaners" auch als Parabel lesen auf den Zustand dieser Nation, die große Schwierigkeiten hat, ihre Projektionen von der Realität zu trennen, und die sich wie keine andere in der virtuellen Welt verirrt hat. Nun wird Amerika gejagt von den Geistern, die es rief. "Zwischen Erinnerung und Einbildung verläuft keine klare Grenze", so formuliert es der Psychoanalytiker Erik Davidsen. "Wir schaffen uns unsere Geschichten selbst, und die sind untrennbar mit der Kultur verbunden, in der wir leben." (S. 122).