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Die geraubten Kinder Spaniens

In "Der Feind meines Vaters" beschäftigt sich Almudena Grandes mit den 250.000 Kindern, die während der Franco-Diktatur geraubt wurden. Ein Problem, das bis in die Gegenwart wirkt - und trotz krisenbedingter anderer Probleme gerade auch die Jugend interessiert, glaubt Grandes.

Von Mirko Schwanitz | 10.02.2013
    Wie hier in Madrid demonstrieren in Spanien in diesen Tagen immer wieder Menschen gegen den tausendfach organisierten Raub von Kindern. Was wir hier erleben, so erklärt die bekannte Schriftstellerin Almudena Grandes, ist der Kampf gegen die langen Schatten eines Bürgerkrieges, der längst vergessen geglaubt war.

    "Diese Demonstrationen haben damit direkt zu tun. Der Bürgerkrieg in Spanien fand zwar vor dem Zweiten Weltkrieg statt. Die heutige Politik Spaniens gründet jedoch noch immer auf den Infamien von damals. Dazu gehörte auch der Raub von Kindern."

    In ihrem Roman "Der Feind meines Vaters", soeben in deutscher Übersetzung erschienen, beschreibt Almudena Grandes aus der Sicht eines heranwachsenden Kindes die Zeit von 1947 bis 1949. Einer Zeit also, in der nur die Widerstandskämpfer in den Bergen wirklich freie Menschen waren, alle anderen aber in Angst leben mussten.

    "Es begann in den 40er-Jahren. Franco veranlasste damals, dass man politischen Gefangenen, die man als "Rote" bezeichnete, die Kinder wegnahm. Später wurde aus dem Diebstahl ein Geschäft, in das die katholische Kirche tief verstrickt ist. Bis in die 80er-Jahre entschieden Nonnen in einigen Krankenhäusern darüber, welche Mutter ihr Kind behalten darf und welche nicht. Und die Nonnen entschieden auch, an wen die Kinder dann – natürlich gegen Geld – vermittelt wurden. Niemand hatte die Macht, sich diesen Nonnen zu widersetzen."

    Grandes erzählt in ihrem Buch "Der Feind meines Vaters" über die Jahre, in der der Keim für die Wut der Frauen gelegt wurde, die heute auf die Straße gehen. Die Angst vieler Spanier, nicht das Kind der Eltern zu sein, bei denen sie groß wurden, der Schock von "Adoptiveltern", von denen viele nicht wussten, dass die Eltern des Kindes, das sie adoptierten, noch lebten – all das, sagt Almudena Grandes, wurzelt in dieser lang zurückliegenden Zeit.

    "Spanien ist das einzige Land in Europa, in dem die Faschisten plötzlich die Guten und die Demokraten die Schlechten waren. Wir lebten in einer komplett umgedrehten Wirklichkeit. Ich will in meinen Büchern an einzelnen Schicksalen deutlich machen, was das für die Menschen auf beiden Seiten bedeutete und wie sie darauf reagierten."

    Bis heute, so Almudena Grandes, wüssten die Spanier nur sehr wenig über ihre eigene jüngere Geschichte. Die gegenwärtige Krise aber biete auch eine Chance, endlich mit der Aufarbeitung dieses dunklen und von allen bisherigen Regierungen stets unter Verschluss gehaltenen Kapitels zu beginnen.

    "Ich werde sechs Bücher schreiben, um über die Nachkriegszeit, die Jahre 1939 bis 1964, Zeugnis abzulegen. Viele Nicht-Spanier glauben, dass wir, wenn wir über die Franco-Zeit sprechen nur über den Bürgerkrieg sprechen. Das aber ist nicht dasselbe."

    Wie in dem Buch, in dem Marry Poppins die Kinder an die Hand nimmt und in das Gemälde eines Straßenmalers springt, seien die spanischen Politiker nach Franco in eine neue Zeit gesprungen und hätten der Bevölkerung vermittelt: Ab jetzt ist alles anders. So als habe es die Verbrechen der Vergangenheit nie gegeben. Dabei zeigten gerade die Fälle der gestohlenen Kinder, dass vieles einfach weiterlief – nun unter dem Deckmantel der Demokratie. Heute erfährt auch Spanien, dass man sich vor der Geschichte nicht davonstehlen kann. Auf die Frage, wer sich denn angesichts von 54 Prozent Jugendarbeitslosigkeit wirklich noch für diese Zeit interessiere, sagt Almudena Grandes:

    "Der Bürgerkrieg und was ihm folgte, interessiert in Spanien sehr viele Menschen. Denn vieles, was wir heute erleben, hängt mit den ungelösten Fragen aus jener Zeit zusammen."

    Tatsächlich versuchte die spanische Politik stets, den tiefen Riss, der sich seit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur durch das Land und viele Familien zieht, einfach zuzukleistern. Bisher wurde dieses Thema vor allem aus zwei Sichtweisen behandelt. Es gab die offizielle Literatur unter Franco und es gab die Exilliteratur, die Spanien oft idealisierte. Wie "Das gefrorene Herz" verknüpft auch Almudena Grandes neuester Roman "Der Feind meines Vaters" die Vergangenheit mit der Gegenwart und bietet so eine neue Sicht auf die heutige Zeit. Wer Grandes Buch liest, bekommt auch eine Ahnung davon, warum sich Richter in Spanien bis heute scheuen, die Verantwortlichen für den organisierten Raub von geschätzt 250.000 Kindern zur Verantwortung zu ziehen.

    "Es ist im Moment sehr schwierig, in Spanien jung zu sein. Die Jugend hat wirklich große Probleme. Aber die Politiker täuschen sich, wenn sie glauben, sie würden sich deshalb nicht für das interessieren, was damals geschehen ist. Die Geschichte ihres Landes, die neuere Geschichte ist für viele Spanier noch immer ein Geheimnis, etwas vollkommen Unbekanntes. Deswegen interessieren sie sich dafür, weil plötzlich Dinge ans Licht kommen, von denen sie früher nie etwas erfahren haben."