Dienstag, 19. März 2024

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Die Geschichte der Unschärfe

Am Anfang stand der Blick in die Weite der Landschaft, das Verschwimmen ihrer Konturen am Horizont. Die menschliche Sehkraft ist begrenzt, und wenn dieser Defekt durch diffuse Lichtverhältnisse unterstützt wird, fühlt man sich aufgehoben in der Landschaft. Ein Gefühl der Verschmelzung stellt sich ein, dass nicht gestört wird durch die Schärfe der Details, die vom Wesentlichen ablenken. Im Nachvollzug dieses Moment tritt die Unschärfe ein in die Geschichte der Landschaftsmalerei. Was nun das Wesentliche sei, das man bisher übersah, darüber kann man streiten. Es bleibt seinem Wesen nach undeutlich. Es kann hinter dem Bild liegen, in dem, was man sich interpretierend oder einfühlend erschließt, und es kann auf der Oberfläche liegen, in der Technik seiner Herstellung, in der Autonomie seiner Mittel. In der planen Abbildung der Realität, was immer das auch sei, liegt es jedenfalls nicht. Auch die Techniken der ästhetischen Immersion, des Versuchs, den Betrachter in das Bild hineinzuziehen, kommen ohne eine gewisse Unschärfe nicht aus. Allzu scharfe Konturen erhöhen beim Eintauchenden die Verletzungsgefahr. Wolfgang Ullrichs Geschichte der Unschärfe zeigt auch die Nähe von Positionen, die sich zunächst auszuschliessen scheinen. Es gibt in der Geschichte der Photographie den Pikturalismus, die systematische Zurücknahme der Fähigkeit, scharfe Aufnahmen herzustellen, damit es ein Bild werde. Dies wird gern als eine Art Kinderkrankheit der Photographie angesehen, die sich durch Anpassung an graphische Techniken ihre Kunstwürdigkeit zu erkaufen wünschte und dabei in schroffen Gegensatz zu den beginnenden Abstraktionsprozessen in der Bildenden Kunst geriet. Und doch war Alfred Stieglitz, einer der Hauptvertreter dieser Richtung, ein wesentlicher Wegbereiter der europäischen Avantgarde in Amerika. Das Ungenügen an der realistischen Abbildung, die etwas zu verbergen scheint, der Wunsch, durch Reduktion dem Wesentlichen näher zu kommen, ist beiden Richtungen gemeinsam. Auch die Unschärfe ist eine Form der Abstraktion. Natürlich ist die Unschärfe auch ein Mittel der Verklärung. Sie verwandelt die Abbildung konkreter Gegenstände und Personen in Projektionsflächen des Betrachters. Dieser Effekt reicht von der entkörperlichenden Überhöhung symbolistischer Frauenfiguren bis zur Weichzeichner-Erotik eines David Hamilton. Wolfgang Ullrich analysiert die Unschärfe als ein Stilmittel, dessen Verwendung oder Ablehnung immer auch ideologisch begründet worden ist, aus dem je historischen Kontext. So, wie es verschiedene Mittel gibt, sie herzustellen, so wechseln auch ihre Anmutungsqualitäten. Sie steht für die Kontemplation, für die Abschließung von der technisch beschleunigten Welt, deren Reizüberflutung man durch sie ausblenden kann, und für das exakte Gegenteil: die dynamische Bewegung, die so schnell ist, dass sie weder das menschliche noch das Kamera-Auge zu erfassen in der Lage ist. So kann sie, z.B. in der Bewegung der Lomographen, auch zum Ausweis jugendlicher Spontaneität werden, die auf alle Richtlinien der Photographie pfeift. Und da man nicht ständig rennen kann, bedient man sich dazu eines vorsintflutlichen Objektivs, in dem die Unschärfe schon eingebaut ist. Das mag wiederum mit einem Phänomen zusammenhängen, das besonders aus Sensationsberichterstattung bekannt ist. Nur das unscharfe Photo ist authentisch. Der Photograph war so nah am Zentrum der Ereignisse, Auge in Auge mit der Gefahr, dass er die Bildqualität vernachlässigen musste und nur noch auf den Auslöser drücken konnte. Alle diese Spielarten der Unschärfe existieren heute nebeneinander im Fluss der Bilder, in dem es auf das Einzelbild nicht mehr ankommt. Dieser noch immer anschwellende Fluss emanzipiert auch die Pressephotographie von den Pflichten der Berichterstattung. Wir haben es schon gesehen und nur der Effekt kann unser Auge noch kitzeln. Und gerade die Unschärfe-Effekte werden von den digitalen Bildbearbeitungsprogrammen jedermann zur Verfügung gestellt. So ist nicht zuletzt in den Lifestyle-Magazinen die Inflation der photographischen Unschärferelationen unübersehbar. Wie sie dort ineinander greifen und die Selbstfeier der dynamischen Leichtigkeit des Seins inszenieren, auch das kann man in Wolfgang Ullrichs Geschichte der Unschärfe nachlesen. Fast scheint es so, als sei die Kombination der Techniken der Unschärfe eine Koalition eingegangen mit den Protagonisten der New Economy , um ihrem dynamisch verschwommenen Lebensgefühl ein ästhetisches Äquivalent zu verschaffen. Diese These wäre Wolfgang Ullrich vermutlich zu eindimensional. Wir wollen jetzt auch nicht darüber spekulieren, inwieweit der Niedergang dieses Wirtschaftszweigs wieder schärfer konturierte Riffs in den Fluss der Bilder wird einfügen können. Doch eine Vermutung sei gewagt: Irgendwo da draußen liegt Wolfgang Ullrich bereits auf der Lauer und macht sich Notizen.

Joachim Büthe | 24.03.2003