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Die Geschichte des Biers
Der Wille zum Rausch

Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Schritt vom Jäger zum Ackerbauern und dem Wunsch der frühen Menschheit, sich kollektiv zu betrinken? In dem Sachbuch "Bier. Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute" können Leser auf eine packende Zeitreise gehen; von der Craft-Beer-Szene heute bis zu den prähistorischen Anfängen bei den Sumerern, Babyloniern und Altägyptern.

Von Eva Gritzmann | 22.04.2016
    Bierflaschen stehen am 18.06.2015 auf der Abfüllanlage für Flaschenbier in der Köstritzer Schwarzbierbrauerei GmbH in Bad Köstritz (Thüringen). Foto: Sebastian Kahnert/dpa
    Bierflaschen stehen am 18.06.2015 auf der Abfüllanlage für Flaschenbier in der Köstritzer Schwarzbierbrauerei GmbH in Bad Köstritz (Thüringen). Foto: Sebastian Kahnert/dpa (picture alliance / dpa)
    Am Anfang steht der Wille zum Rausch. Was bringt Menschen in der Steinzeit dazu, ihre über Jahrzehntausende praktizierte Gesellschaftsform radikal zu verändern und den Schritt vom Wildbeuter zum Ackerbauern zu gehen? Auf den ersten Blick zahlte die Mehrheit der Menschheit dafür einen hohen Preis: Jäger und Sammler lebten länger und ernährten sich besser als Ackerbau und Viehzucht betreibende Bauern.
    Manche Anthropologen erklären diese bis heute nicht befriedend beantwortete Frage nach der Sesshaftwerdung des Menschen in der sogenannten neolithischen Wende vor rund zwölftausend Jahren mit dem Wunsch der frühen Menschheit, sich kollektiv zu betrinken. Die durchschnittliche Lebenserwartung ging damals für rund achtzig Prozent in der steinzeitlichen Gesellschaft durch die Veränderung ihrer Lebensweise um satte zwanzig Prozent zurück - lediglich in der Oberschicht blieb sie gleich. Ging es damals also wirklich nur um Party?
    "Warum gaben Jäger und Sammler eine gesicherte Ernährung auf?"
    Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer erzählen solche blitzartig Erkenntnis stiftenden Fakten äußerst unaufgeregt in ihrem Streifzug durch die Kulturgeschichte des Bieres. Aber gerade deshalb ist ihr Buch "Bier. Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute" auch nicht auf die Räuberleiter des fünfhundertsten Jahrestags des deutschen Reinheitsgebots angewiesen, um aufmerksame Leser zu finden.
    "Warum gaben Jäger und Sammler (…) eine gesicherte nährstoff-, fleisch- und proteinreiche Ernährung auf und vollzogen den Schritt zu einer extrem aufwendigen und – angesichts mangelnder Anbau- und Ernteerfahrung – auch äußerst riskanten Ernährung auf der Grundlage domestizierter Gräser? (…) Doch unabhängig von der Frage, ob das Bedürfnis nach Bier den Anbau von Getreide beflügelte, oder – wovon die meisten Forscher heute ausgehen – der vergärte Gerstensaft ein Begleitprodukt der neolithischen Revolution um 10.000 v. Chr. bildete, markiert der Beginn der Brau- und Bierkultur einen markanten Punkt in der Geschichte der Menschheit: Die frühen Gesellschaften beginnen, sich über eine komplexe Verarbeitung von Ernährung kulturell auszudifferenzieren. Biergeschichte gerät zur Zivilisationsgeschichte."
    Und damit ist der Quellcode dieses Sachbuchs offengelegt: Lässt sich tatsächlich aus der Geschichte des Bieres die Geschichte der menschlichen Zivilisation erzählen?
    Erstaunlicherweise gelingt dem Autorenduo genau dies. Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer folgen der Spur des Gerstensafts und nehmen ihre Leser mit auf eine packende Zeitreise von der Craft-Beer-Szene heute bis zu den prähistorischen Anfängen am Göbekli Tepe in der Türkei und auf ein Bier zu Sumerern, Babyloniern und Altägyptern.
    Auch im Mittelmeerraum trank man ursprünglich Bier
    Präzise zeichnen sie die Ursprünge der bis heute nachwirkenden Spaltung der antiken Welt in Wein trinkende zivilisierte Griechen und Römern und Bier saufenden Barbaren nach – um ironischerweise diese Klischeevorstellungen sogleich als solche zu enttarnen, denn ehe dem Wein Distinktion zugeschrieben wurde, trank auch der Mittelmeerraum Bier.
    Großzügig befriedigen die Autoren unseren Wissensdurst über die Privilegierung des Biers als von den Regeln des Fastenspeiseplans ausgenommener "Heiltrank" auf dem Aachener Konzil von 817 und spannen weite Wissensbögen etwa zu den sogenannten Grutbieren des Mittelalters, die mit Gagel in Nordwesteuropa, mit Berg-Laserkraut in südlicheren Biergegenden gewürzt wurden, außerdem je nach regionaler Tradition zum Beispiel mit Wacholder, Ingwer, Anis, Lorbeer und Kümmel.
    Anschaulich schildern Hirschfelder/Trummer die Bierrevolution an der Wende zum zweiten Jahrtausend, als sich die Zugabe von Hopfen immer mehr durchzusetzen begann und Bier dadurch haltbarer und gesünder wurde.
    War dem Hochmittelalter regelmäßiger Bierkonsum quer durch alle Bevölkerungsschichten noch selbstverständlich, änderte sich die Einstellung dazu mit der Reformation. Insbesondere Martin Luther schmähte wortgewaltig die Folgen von Völlerei und Trunksucht:
    "Es muss aber ein jeglich Land seinen eigen Teufel haben. Unser deutscher Teufel wird ein guter Weinschlauch sein und muss Sauff heißen, dass er so durstig und hellig ist, der mit so großem Saufen Weins und Biers nicht kann gekühlet werden. Und wird ein solcher ewiger Durst Deutschlands Plage bleiben bis an den jüngsten Tag."
    Bierkonsum deutscher Erwachsener pro Kopf bei 106,9 Liter in 2014
    Mit dieser Prophezeiung sollte Martin Luther recht behalten: Im Jahr 2014 lag der Bierkonsum deutscher Erwachsener pro Kopf bei 106,9 Liter, Tendenz allerdings leicht rückläufig. Im Spätmittelalter ruft die Forschung für eine reiche Stadt wie Köln Zahlen von bis zu 400 Litern pro Kopf auf – allerdings sind damit im Wesentlichen alkoholarme Dünnbiere gemeint.
    Solche konjunkturellen Dellen im Bierkonsum werden die Leser von Hirschfelders und Trummers Biergeschichte nicht schrecken. Wissen sie doch, dass das Auf und Ab im Bierkonsum mal ausgelöst wird durch globale Phänomene wie Kleine Eiszeiten und Phasen der Erderwärmung wie im Hochmittelalter ab dem 11. und bis zum 14. Jahrhundert, mal schlicht menschengemacht ist wie etwa zu Zeiten der Prohibition in den USA.
    Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer sind durchaus nicht blind für die Unterschiede im Trinkverhalten der Geschlechter. So beschreiben sie drastisch, wie Frauen beispielsweise vom 15. bis zum 18. Jahrhundert immer mehr vom Bierkonsum ausgeschlossen wurden. Auch gehen die Autoren der Rolle der Frau im Braugewerbe nach, sei es durch die Erwähnung der von verwitweten Frauen geführten Braubetriebe, die im München des 18. Jahrhunderts immerhin 20 Prozent ausmachten, sei es durch die Erinnerung an die im Spätmittelalter zu aberhunderten verbrannten Brauhexen, die beschuldigt wurden, den Gärungsprozess mit Hilfe teuflischer Zauberkräfte zu sabotieren.
    Wir lernen die psychotropen "Dollbiere" des Spätmittelalters kennen und erfahren von den Auswirkungen der Französischen Revolution auf den Biermarkt. Wir verwechseln nach der Lektüre dieses Sachbuchs nie mehr Obergäriges mit Untergärigem und wissen um die Bedeutung der Dampfmaschinen der industriellen Revolution fürs Bier, die Pumpen und Rührwerke antrieben, vor allem aber eine Kühltechnik gewährleisteten, die erstmals ganzjähriges Brauen ermöglichte.
    Tee anstelle von Morgenbier
    Sehr nachteilig für das Bier als "Sozialgetränk des bürgerlichen Milieus", wie Hirschfelder/Trummer ihren Gegenstand einmal in einer einprägsamen Formulierung nennen, erwiesen sich etwa die aus der Neuen Welt importierten Modegetränke Kaffee und Tee, die sich in einem Trickle-down-Effekt von den europäischen Adelshöfen im 18. Jahrhundert im Bürgertum verbreiteten. Berühmtes Zeugnis davon legt die Klage des Schotten Mackintosh of Borlum ab:
    "Wenn ich morgens ins Haus eines Freundes kam, wurde ich gefragt, ob ich schon mein Morgenbier gehabt hätte. Jetzt werde ich gefragt, ob ich schon Tee getrunken hätte. Und anstelle des großen Bechers mit starkem Ale und Toast, und danach ein Schluck von gutem, gesunden schottischen Schnaps, wird nun der Teekessel aufs Feuer gesetzt."
    Haben Sie schon einmal ein "postgender beer" getrunken? Oder mit einem Craft Beer namens "Hitachino Nest Espresso Stout" angestoßen? Dann sind Sie angekommen im Biermarkt des 21. Jahrhunderts!
    Teilten im Jahr 1979 89 Brauereien den gigantischen US-amerikanischen Biermarkt unter sich auf, so sind dort bis 2013 wieder 2416 Brauereien entstanden, darunter über zweitausend sogenannte Mikrobrauereien, die mit ihrer Experimentierlust und Sortenvielfalt der Marktmacht von Konzernen wie AB Inbev, dem größten Bierproduzenten der Welt, mutig ihre Kreativität und ihren Sachverstand entgegensetzen.
    In Europa und Deutschland sieht es nicht anders aus. Fünfhundert Jahre, nachdem die Herzöge Ludwig X. und Wilhelm IV. am 23 April 1516 in Ingolstadt gemeinsam verfügten.
    "Ganz besonders wollen wir, dass fortan überall in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gerste, Hopfen und Waser verwendet und gebraucht werden sollen."
    … wissen wir um die Beschränktheit menschlichen Regelungswahns. Und stoßen darauf mit einem schönen Weizen an. Oder darf es doch ein Bamberger Rauchbier, ein Münchner Helles oder gar ein "No Label non-binary postgender beer" sein, gebraut mit Hopfen unmittelbar nach dem Geschlechterwechsel der Pflanzen? Für Gunther Hirschfelders und Manuel Trümmers Kulturgeschichte des Biers gilt jedenfalls: Niet lang schnacken, Kopp in Nacken: lesen!