Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Die Geschichte eines verlorenen Kindes

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, kam 1983 als Studentin nach Paris - und blieb. Ihr Roman "Luft und Liebe" wurde zum Erfolg. Jetzt hat sie zum ersten Mal einer historischen Gestalt das Wort erteilt. Aber ganz anders als man erwarten würde.

Von Beatrix Langner | 30.05.2011
    "Mit dem einen Fuß an die/Mutter-Kugel mit dem andern/an das Goethe-Gestirn gekettet", stand das Leben des August von Goethe, des einzigen Sohns des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe, unter einer schweren Hypothek. Nicht nur, dass es ihm, wie seine spätere Gattin Ottilie von Pogwisch, aus altem preußischem Adel, herausgefunden zu haben meinte, an Genie fehlte. Was viel schwerer wog in einer Zeit, da Geburt und Stand den Lebensweg eines Menschen bestimmten: Dass seinem Aufdieweltkommen von Anfang an die Legitimation der Freiheit, das Recht auf persönliche Autonomie, bestritten wurde.

    Anne Weber:

    "Es ist eine absolut tragische Figur, tragisch auch im Sinne, dass er unter einem Stern geboren wurde, der ihm nicht erlaubte, glücklich zu werden oder es vielleicht sogar zu etwas zu bringen im Leben, also diese Zerrissenheit. Es ist ja nicht nur, dass er geboren wurde als Sohn des größten lebenden Dichters, als welcher Goethe damals angesehen war, sondern eben auch als Sohn der Christiane Vulpius, die verachtet war in der ganzen besseren Weimarer Gesellschaft, und dass er ein unehelicher Sohn war. Das heißt er hat sowohl zu leiden gehabt unter diesem enormen Gewicht der Vaterfigur, die ihn erdrückte als auch unter der Verachtung, unter der die Mutter zu leiden hatte."

    Anne Weber hat sich mit diesem sechsten, auf deutsch geschriebenen Buch neue Sprachräume geöffnet: Ihre szenische Novelle ist durchsetzt von kleinen Liedern, die das Leise dieser Existenz wunderbar instrumentiert. Ein "Chor aus alten Weimarern" übernimmt die Rolle der "Zeit-und Parkbankzeugen", jener schmähenden, immer anwesenden Öffentlichkeit, unter deren Augen August aufwächst. Christiane, Goethes Haushälterin, ist in dessen Augen das "tanzwütige Trampeltier", die "tolle Blutwurst". August der Bastard und Wildling. "Er weiß noch nicht einmal," so heißt es einmal, "so unwahrscheinlich das aus heutiger Sicht auch klingen mag, wer Goethe ist."

    Anne Weber:

    "Die Idee zu diesem Buch oder die Idee vielmehr, mich mit der Figur August von Goethes zu beschäftigen, kam bei mir durch die Lektüre oder wieder neue Lektüre von Lotte von Weimar, von Thomas Mann. Da kommt August vor als eine Nebenfigur, und ich hatte den starken Eindruck, dass Thomas Mann sich mit Goethe identifiziert oder dass er jedenfalls sich hineindenkt in Goethe, und ich dachte mir, dass ich das nie könnte, dass ich mir das nie vorstellen könnte. Ich hatte aber gleich das Gefühl, in den August könnte ich mich gut hineinfühlen; das könnte ich wirklich versuchen, und dann habe ich angefangen, mich mit der Figur zu beschäftigen, und so kam es dann zu dem Buch."

    Es ist die Geschichte eines verlorenen Kindes. Anne Weber romantisiert das petrifizierte Weimar, das heißt sie zeigt eine natürliche, gefühlvolle Mutter und ihr Kind voll Sinnlichkeit und scheuer Naivität, rührend in ihrer Arglosigkeit, ein Meretlein auf dem deutschen Parnass, ein dickes, falsch platziertes Kuckucksei.

    Der Philosoph Fichte schreibt dem heranwachsenden August in sein Stamm- oder Poesiebuch das erdrückende Menetekel eines zum Misslingen verurteilten Lebens: "Einziger Sohn des Einzigen in unserem Zeitalter! Zählen Sie mich unter diejenigen, die am aufmerksamsten beobachten werden, ob Sie würdig sich bilden des Vaters Platz einst würdig auszufüllen."

    Ein natürliches, ungezwungenes Kind darf August nicht sein; als Sohn des Einzigen ist er umgeben von Einzigen - oder die sich dafür halten. Erwachsen geworden, darf er kein Held werden, weil ihn der Vater, Geheimrat und Minister am sachsen-weimarischen Hof, von den Freiwilligenlisten im Krieg gegen die Franzosen 1812 streichen lässt und ihm verbietet, sich zu duellieren. Als Aktuarius, Assistent, Archivar, also eine höhere Art von Hausmeister und Hilfsbuchhalter, verbringt er sein ganzes Leben als Angestellter in der väterlichen Kunstfabrik. Im vierten Aufzug ist August schließlich verheiratet und, wie es sich für ein Trauerspiel gehört, im fünften tot.

    Anne Weber:

    "2Tatsächlich ist ja verbunden mit der Vorstellung von deutscher Literatur und aus der Romantik, von der Romantik her die Wichtigkeit des Gemüts oder der Emotionen, und das ist auch eine Tradition, der ich mich mehr verbunden fühle als der französischen rein intellektuellen geistigen Tradition, und ich denke, dass das auch in einem Buch wie August zum Ausdruck kommt, dieses Gefühlvolle. Natürlich in einem Gewand, des Spielerischen, aber trotzdem habe ich gerade in dem Schreiben meiner kleinen Verse, da hab ich sehr viel mein ganzes Herzblut hineingelegt, und das war ein besonderes Glück für mich, die ich mich nicht als Lyrikerin sehe, diesen beiden Figuren hauptsächlich, August und Christiane Vulpius, solche kleinen Verse in den Mund legen zu können, denn die beiden waren ja keine großen Geister, und trotzdem hatte ich die Möglichkeit, ja, alle meine Liebe zu diesen beiden Figuren und zu August hineinzulegen in diese gereimten Verse.""

    Inspiriert von Maurice Blanchot, hat Anne Weber in "Erste Person" und "Am Anfang war" eine eigene Poetik des Sagbaren und der Existenz entwickelt, die in diesem bürgerlichen Puppentrauerspiel zum ersten Mal in historischen Kostümen erscheint. "August" ist ja keine historische Erzählung, kein statisches Tableau, sondern ein "dance macábre", in dem die Spieler mit grell geschminkten Gesichtern, in bunte Lumpen gekleidet, jederzeit als Tote erkennbar bleiben - "falsche Tote".

    Thomas Mann ersucht um eine kleine Nebenrolle und wird auf offener Bühne stehen gelassen. Bettine von Arnim schneit herein; eine Furie wie Alma Mahler, wirft sie sich dem Vater-Genius an den Hals, behandelt den Sohn wie einen Lakaien. Christiane, die Mutter-Kugel, singt ihre kleinen Lieder im Rampenlicht der Verachtung. Sie behält ihre gesunde Skepsis gegenüber all den Fliegen, Nichtsen und Schmetterlingen, die vom Nektar des Ruhms angezogen werden. Schwiegertochter Ottilie wittert mit ihrem aristokratisch gerümpften Näschen beim Schwiegervater und ihren vielen Verehrern jede Gelegenheit, neben dem phlegmatischen August schön und klug aufzuleuchten.

    Als es zu arg wird, springt sogar Anne Weber selbst auf die Bühne, ihrem unheroischen Helden in höchster Bedrängnis beizustehen - und holt sich ein paar wütende Ohrfeigen. August wehrt sich, zum ersten Mal seit 200 Jahren, gegen das Mitleid der Nachwelt. Er spielt nicht mit im Possenspiel des deutschen Kunstwesens. Bravo August!

    Anne Weber:

    "Das war ein unglaubliches Glücksgefühl beim Schreiben, weil ich das Gefühl hatte, ich hab eine ganz, ganz große Freiheit hier, in diesem Raum, den ich mir geschaffen hab. Dieser Raum ist, ich nenne es, ein bürgerliches Puppentrauerspiel, ein Puppenspiel im Kopf, ein Theaterspiel im Kopf. Puppenspiel im übertragenen Sinne, es ist nicht gedacht für wirkliche Marionetten, sondern zum Selbstaufführen von Lesern im Kopf."

    Denn das eigentliche Geschehen vollzieht sich auf der Bühne der Worte. Die Bewegung der Sprache, der Wechsel der Sprecher ist das Element, von dem August getragen wird, eine leise, permutierende Wellenbewegung, in der er zuletzt, im Golf von Neapel in einem Boot schaukelnd, einmal im Leben seinen Himmel findet, eine Art innerer Befreiung. Mit ihrer ganz eigenen, klangvollen Stimme führt Anne Weber, deren literarisches Werk man eine poetische Grammatik der ersten Person nennen könnte, August aus der dritten Person der erzählten Figur behutsam in die erste Person, zu sich selbst zurück. Sie gibt ihm sein Ich, seine Freiheit wieder.

    Es war ein erbitterter Kampf um Liebe, den August mit seinem Vater führte, ein Kampf auf Leben und Tod. Am 22. August 1830, eine Woche vor Goethes 81. Geburtstag, begleitet dessen Sekretär Eckermann den 41-jährigen Sohn auf eine Reise nach Italien, von der August nicht zurückkehren wird. "Der Helden Söhne werden Taugenichtse", wird Goethe in seinem Wilhelm Meister II schreiben. Aber Anne Weber kämpft um Augusts Seele: komisch, drastisch und himmelausmessend - doch immer mit dem wissenden Lächeln der großen Essayistin: sie kommt nicht rein - in diese weimarische Totengruft, in diesen armen August, der mit hängenden Schultern abseits unter Bäumen steht. Ein bisschen Ich, ein bisschen Unsterblichkeit, das ist alles, was sie ihm mitgeben kann. Oder anders gesagt: "Wir waren nicht dabei, mehr können wir nicht sagen."

    Anne Weber: "August. Ein bürgerliches Puppentrauerspiel". S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 160 Seiten, 16,95 Euro.