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Die Getrennten

An solche Sätze ist man gar nicht mehr gewöhnt in unseren Tagen, da Zeitungs- und Buchautoren vor allem eines vermeiden wollen: den Leser anzustrengen. Anstrengend sind Alan Pauls' Sätze auch nicht unbedingt; allerdings sind sie lang, vielfach untergliedert, voller Einschübe und Abschweifungen.

Von Martin Ebel | 25.06.2010
    Man muss sie langsam und aufmerksam in sich eingehen lassen. Aber wenn man das tut, dann merkt man, wie schön sie schwingen, und dann, wie man selbst ins Schwingen kommt mit diesen Sätzen.

    Alan Pauls schreibt eine wundervolle Prosa, was auch in der geradezu musikalischen deutschen Übersetzung von Christian Hansen noch sehr gut spürbar ist. Seine Sätze sind so lang und verzweigt, weil sie sich komplizierten Sachverhalten widmen: menschlichen Verhältnissen und Gefühlen, vor allem dem kompliziertesten und rätselhaftesten, der Liebe.

    "Die Vergangenheit" ist eine Enzyklopädie der Liebe in Form einer langen Erzählung. Sofia und Rimini kennen sich schon von der Schule, haben gemeinsam die Liebe entdeckt, früh geheiratet und zwölf Jahre lang eine Ehe geführt, die ihrer Umgebung ungläubiges Staunen abnötigte. "Wir waren ein Kunstwerk", finden sie selbst. Eine Freundin kommentiert, leicht ironisch: "Ihr wart Weltkulturerbe". Wart - denn die beiden haben sich getrennt; nicht wegen eines Dritten, nicht im Streit, aus Gewöhnung, Desinteresse, nein: als Krönung ihrer Liebe. Ein Paradox.

    Als Getrennte erst macht der Autor uns mit Sofia und Rimini bekannt - wohl, weil man über Glück schlecht schreiben kann, über Unglück dagegen sehr gut. Wir folgen ihnen auf getrennten Wegen: Denn die Wege, Werte und Wahrnehmungen des einstigen Wunderpaars gehen jetzt radikal auseinander. Es trennt sie vor allem das Verhältnis zur Vergangenheit. Sofia konserviert die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, materialisiert auch in 1564 Fotos; Rimini dagegen tut alles, um sie zu vergessen.

    Als hätte er mit der Frau jeden Halt verloren, stürzt er sich in Räusche und Ekstasen, konsumiert Kokain, masturbiert wie ein Verrückter und betreibt sogar seinen Beruf, er ist Übersetzer, exzessiv-ausschweifend. Dann verliert er über Nacht seine Sprachkenntnisse, lässt sich hängen, verkommt, wird von einem Fitnesstrainer gerettet, mutiert zum Tennislehrer. Er lernt andere Frauen kennen und, als serieller Monogamist, lebt nacheinander mit ihnen. Mit Vera, die ihn mit rasender Eifersucht verfolgt und die bei einem Autounfall stirbt; mit Carmen, die ein Kind von ihm bekommt und ihn verlässt; mit Nancy, die ihn mit derselben Gier aussaugt wie alles im Leben.

    Mit jeder erlebt er eine neue Spielart der Liebe - die paranoide Welt der Eifersüchtigen, die Kleinfamilie, die Pornografie. Und immer wieder begegnet er Sofia, die ihn bedrängt, provoziert, ihn auf ihre gemeinsame Vergangenheit stößt: Wer sich davon lossagt, meint sie, tötet alles, was einmal war - also auch ein Stück von ihr. Ihr Kampf um die Vergangenheit ist ein Kampf um ihr Leben. Und am Schluss wird sie ihn gewinnen.

    Alan Pauls ist ein Kenner des menschlichen Herzens (und seines Verstandes und seiner Neigung, das eine mit dem anderen zu täuschen). Er ist auch ein Könner, im Kleinen wie im Großen: Sein Stil hat selbst etwas rauschhaftes, und er läuft geradezu über an Geschichten. Manche sind sogar umwerfend komisch, wie die vom Homöopathen, der von seinem Patienten gar nichts wissen und ihn eigentlich auch gar nicht behandeln will.

    Mit diesem Roman hat sich Alan Pauls an die besten lateinamerikanischen Autoren der vorangehenden Generation heran geschrieben. Aber sein literarischer Abgott ist unverkennbar ein (noch älterer) Europäer: Marcel Proust. Wie dieser interessiert sich Pauls besonders für die Eifersucht - jenes Gefühl, das die Wirklichkeit umschreibt und das, was es erhalten, fixieren, monopolisieren will, unweigerlich zerstört. Eifersucht ist bei Pauls eine extreme Form des Kontrollwahns, bei der der Eifersüchtige sein Liebesobjekt von der Umgebung isolieren und gefangen halten will (der entsprechende Roman Prousts heißt "Die Gefangene"). Pauls beschreibt das, was dann folgt, als "Verpuppung": Das lebende Objekt wird in eine Art Puppe verwandelt - aber die Puppe entzieht sich mit der einfachsten vitalen Geste, etwa wenn sie sich die Schuhe bindet, der Fixierung und signalisiert dem Gefangenenwärter damit, dass sie ihm entgleitet - und dass sie ihn irgendwann verlassen wird.

    Zu dem, was Sofia und Rimini einst verbunden hat, gehört ihre Begeisterung für den englischen Avantgardekünstler Riltse (auch das eine Hommage an Proust, dessen Malerfigur Elstir ein Anagramm von Riltse ist, oder vielmehr umgekehrt). Mit der Kunst schlägt Pauls ein zweites Hauptthema an, einen Kontrapunkt zur Liebe. Das passt: Liebe und Kunst sind Extremisten; beide wollen alles und gehen dabei drauf. Die Liebe will Totalität, kann aber keine Dauer gewähren; die Kunst will das Absolute und frisst den Künstler auf.

    Bei Riltse ist das wörtlich zu nehmen: Der radikale Avantgardist praktiziert am Ende die selbst entwickelte "Sick Art", kranke Kunst, bei der er sich Teile seines Körpers entfernen und auf die Leinwand tackern lässt. Diese Kunstwerke heißen dann, was sie sind: "Prostata", "Ekzem" oder "Rektum"; zu ihrer Realisierung muss sich der Künstler, weil sich reguläre Ärzte weigern, immer dunklerer Kanäle bedienen. Der ultimativen Konsequenz dieses Ansatzes, nämlich sich das Herz entnehmen zu lassen, kommt er durch den Suizid zuvor.

    Liebe, Kunst - was fehlt zu einem Dreiklang? Die Gesellschaft. Alan Pauls lässt neben seinen Helden ein umfangreiches Personal auftreten, nur die Politik, die Argentinien in den Neunziger Jahren, um die es hier vor allem geht, schrecklich gebeutelt hat, bleibt außen vor. Das ist bezeichnend. Es ist ein privatisierendes Personal, traumatisiert durch die Folterdiktatur der Militärs, desillusioniert über jede Form der Mitwirkung in der ständig kriselnden Demokratie. Es beschäftigt sich mit sich selbst: Vergnügen, Affären, Kunst. "Die Vergangenheit" ist auch die Chronik dieser Epoche.

    Alan Pauls, geboren 1959, ist in Argentinien schon ein bekannter Autor und Intellektueller. Bei uns muss er das erst noch werden. "Die Vergangenheit" ist sein achtes Buch und das erste, das der von ihm auf deutsch erschienen ist. Die Chancen stehen gut: Das nächste Buchmessengastland heißt Argentinien. Die Erwartungen an lateinamerikanische Literatur sind längst nicht mehr so eng wie einst; man hat begriffen, dass "dort unten" nicht nur magischer Realismus produziert wird, sondern auch politische Literatur, gute Krimis - oder, wie hier, ein enzyklopädischer Liebesroman.

    Alan Pauls: "Die Vergangenheit". Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 560 S., 24.90 Euro.