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"Die Grenze ist erreicht"

Nach Ansicht des Publizisten Meinhard Miegel hat sich die Wachstumsphilosophie erschöpft. Die Grenze der wirtschaftlichen Steigerung sei erreicht. Daher müsse anstelle des materiellen ein immaterieller Wohlstandsbegriff treten.

Meinhard Miegel im Gespräch mit Jochen Spengler | 18.03.2010
    Jochen Spengler: Gestern Abend wurde die Leipziger Buchmesse feierlich eröffnet, seit heute Morgen sind die Tore in Leipzig geöffnet und wir im Deutschlandfunk wollen dies zum Anlass nehmen, mit Autorinnen und Autoren zu sprechen, die in diesen Wochen bemerkenswerte Neuerscheinungen auf den Markt gebracht haben.

    Heute haben wir den Sozialwissenschaftler Professor Meinhard Miegel zum Interview gebeten, den Vorstandsvorsitzenden des Denkwerks Zukunft in Bonn. Guten Tag, Herr Miegel.

    Meinhard Miegel: Schönen guten Tag!

    Spengler: Anlass unseres Interviews ist Ihr in diesen Tagen neu erschienenes Buch "Exit - Wohlstand ohne Wachstum", und dazu würde ich zunächst gerne ein Zitat der Bundeskanzlerin aus ihrer Regierungserklärung einspielen.

    O-Ton Angela Merkel: "Ich will, dass wir alles versuchen, jetzt schnell und entschlossen die Voraussetzungen für neues und stärkeres Wachstum zu schaffen. Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung, meine Damen und Herren."

    Spengler: So weit also die Bundeskanzlerin. Herr Miegel, geben Sie ihr Recht?

    Miegel: Wachstum ist eine feine Sache, unter der Voraussetzung, dass dieses Wachstum nicht größere Schäden verursacht als die Vorteile, die aus diesem Wachstum erwachsen, und das ist genau das Problem.

    Wir sehen ja in diesen Monaten, in diesen Jahren der Krise, welches Unheil aus diesem Wachstum entstanden ist. Das gilt es erst einmal zu überwinden, und das Wachstum, so wie wir es in den zurückliegenden Jahrzehnten hatten, ist nicht zukunftsweisend. Dieses Wachstum können und sollten wir nicht länger anstreben.

    Spengler: Nun würden Wirtschaftswissenschaftler sagen, nun gut, das liegt nicht am Wachstum, sondern an dem Missbrauch bestimmter Regeln.

    Miegel: Das ist genau der Punkt. Das heißt, Missbrauch bestimmter Regeln. Nur diese Regeln sind ja Teil des Systems. Die Wirtschaft sollte wachsen, und das war schon in den 70er-Jahren nicht mehr ausreichend aus der Sicht der Politik.

    Infolgedessen hat man zu allen möglichen Hilfsmitteln gegriffen. Die Verschuldung, die seit diesem Zeitpunkt in praktisch allen westlichen Industrieländern immer nur zugenommen hat, ist ja Ausdruck der Tatsache, dass man versucht hat, ein Wachstum zu erzeugen, was aus sich selbst heraus nicht mehr stattfand.

    Spengler: Das heißt, Ihre These ist, wir haben das Wachstum bislang nur durch immer mehr Schulden machen erreicht?

    Miegel: Nein, das ist nicht der einzige Grund für dieses Wachstum. Natürlich hatten wir Produktivitätsgewinne, natürlich hat der verstärkte Kapitaleinsatz dazu geführt, dass mehr erwirtschaftet worden ist. Aber zwei Faktoren kommen hinzu, und die sind außerordentlich problematisch geworden. Das ist zum einen der immense nicht Gebrauch, sondern Verbrauch von Natur, von Bodenschätzen, von Böden, die Belastung der Umwelt.

    Und das andere ist die gewissermaßen vorweggenommene Wachstumsaktivität der Zukunft in Form der Schulden. Und sowohl was die Natur, die Umwelt angeht, als auch was die Verschuldung angeht, sind zwei tragende Säulen des Wachstums entfallen, und infolgedessen votiere ich nicht gegen Wachstum, sondern ich sage, wir werden dieses Wachstum, von dem die Bundeskanzlerin und viele andere sprechen, schlechterdings in Zukunft nicht haben.

    Spengler: Das heißt, es gibt eine Grenze für dieses Wachstum?

    Miegel: Es gibt eine Grenze, die Grenze ist erreicht. Man kann die immer wieder mal ein bisschen verschieben, aber das würde ja nicht genügen, wenn wir jetzt sagen, bei großen Anstrengungen werden wir 1, 2 Promille mehr Wachstum haben, sondern die Auguren sagen uns, wir brauchen zwei bis drei Prozent jährliches Wachstum und das auf unabsehbare Zeit hinaus, wenn die gesellschaftliche, die wirtschaftliche Ordnung so bleiben soll wie sie ist, und dieses Wachstum werden wir nicht haben.

    Spengler: Herr Professor Miegel, Sie reihen sich ja nun in eine illustre Reihe von Pessimisten ein. Schon vor 30 Jahren hat der Club of Rome von den Grenzen des Wachstums gesprochen, ohne dass die erreicht worden wären. Wieso sollten wir jetzt an die Grenzen gestoßen sein?

    Miegel: Der Club of Rome hat ein bisschen anders formuliert, als das in der Öffentlichkeit dargestellt worden ist. Er spricht von dem Erreichen der Grenzen des Wachstums in etwa 40 Jahren, und das aus der Perspektive des Jahres 1972. Im Übrigen ist die Welt weitergegangen. Die Probleme haben ja immens zugenommen.

    Wir hatten vor 40 Jahren noch keine Kopenhagener Konferenz, wo sich praktisch alle Regierungschefs und Vertreter von Regierungen darin einig waren, dass der bisherige Trend nicht fortzusetzen ist, dass die Klimaerwärmung enorme Probleme aufwirft, dass die Verteuerung der Rohstoffe mittlerweile an einen Punkt gekommen ist, wo man sagen kann, in dieser Form lässt sich nicht weiter wirtschaften, wo ganz deutliche Verschleißerscheinungen an der Gesellschaft zu beobachten sind, Stichwort Demografie, und vieles andere mehr.

    Spengler: Müsste die Menschheit eigentlich mit ihrer bisherigen Entwicklung brechen? Das heißt, hatten wir immer Wachstum?

    Miegel: Nein, wir hatten nicht immer Wachstum. Während des allerlängsten Teils der Menschheitsgeschichte hatten wir wirtschaftliche Entwicklungen, die vom einzelnen oder auch von Gesellschaften nicht als Wachstum wahrgenommen werden konnten. In der Zeit von Karl dem Großen bis Napoleon, also in diesen 1000 Jahren, schätzt man, hat sich in Europa die pro Kopf erwirtschaftete Gütermenge verdoppelt, in 1000 Jahren. Das nimmt man nicht mehr als Wachstum wahr.

    Was wir seit Mitte des vorigen Jahrhunderts - also seit Ende des Zweiten Weltkrieges - erlebt haben, das ist menschheitsgeschichtlich völlig einzigartig, und es wäre höchst verwegen, jetzt so zu tun, als könne man von diesem Wachstumstrend auch für die Zukunft ausgehen.

    Spengler: Aber wir haben natürlich in diesen letzten Jahrzehnten einen enormen Wohlstand jedenfalls hier bei uns erreicht. Heißt das nicht, Wohlstand braucht Wachstum?

    Miegel: Das ist vollkommen richtig. Wenn ich diesen Typ Wohlstand als Wohlstand, als einzigen Wohlstand anerkenne, wie wir ihn in den zurückliegenden Jahrzehnten gehabt haben, dann brauchen wir dieses Wirtschaftswachstum. Aber das nützt ja alles nichts.

    Ich sagte eben, wir werden dieses Wachstum, ob gut oder schlecht, nicht haben, aus den angedeuteten Gründen, und infolgedessen müssen wir einen neuen Wohlstandsbegriff definieren. Wohlstand der zurückliegenden zwei, drei Generationen war materieller Wohlstand; jetzt beginnt eine Phase, wo neben diesem materiellen Wohlstand der immaterielle Wohlstand gebildet werden muss.

    Spengler: Entscheidend wird ja sein, wie das, was Sie da als Vision schildern, politisch durchsetzbar wird. Bislang, wenn ich es richtig sehe, setzen alle Parteien auf das herkömmliche Wachstum, vielleicht bis auf ein paar versprengte Grüne oder Konservative. Wie soll das politisch durchgesetzt werden?

    Miegel: Noch einmal: Das ist im Grunde gar nicht die Frage, kann die Politik, wird die Politik es durchsetzen, sondern die Bevölkerung wird sehr schnell merken, dass sie das Wachstum, von dem man bisher ausgegangen ist, nicht mehr hat.

    Insofern braucht die Politik sich nicht hinzustellen und zu sagen, schnallt den Gürtel enger - das wird die Bevölkerung schon von selbst merken, dass die Hose immer schlabberiger wird -, sondern die Politik muss Alternativen zu dem anbieten, was sie bisher gesagt und getan hat.

    Spengler: Und warum tut sie es nicht?

    Miegel: Weil sie sehr daran gewöhnt ist, mit diesem materiellen Wohlstandsversprechen gut auszukommen. Die Bevölkerung war damit zufrieden, es wurde in jedem Jahr eine Verbesserung des Materiellen für das kommende Jahr in Aussicht gestellt. Das hat auch über lange Zeit gut funktioniert. Soziale Spannungen konnten auf diese Art und Weise relativ problemlos überwunden werden, und das war eine Form sehr einfachen Regierens. Die Zeit ist vorüber, aber das muss die Politik erst noch lernen.

    Spengler: Der Vorstandsvorsitzende des Denkwerks Zukunft, Professor Meinhard Miegel, der Autor des Buches "Exit - Wohlstand ohne Wachstum", im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Herr Miegel.

    Miegel: Ebenfalls. Vielen Dank!

    Meinhard Miegel: Exit - Wohlstand ohne Wachstum
    Propyläen, 304 Seiten, 22,95 Euro