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Die großen Blondinen

Sommerzeit, Ferienzeit. Strandlektüre wird gesucht: span-nend oder amüsant, am besten beides. Warum also nicht mit Detektiv Kastner nach einer großen Blondine fahnden, nach der Klischeeschönheit Gloria Stella, dem einstigen Fernsehsternchen? Schließlich ist der Autor - glaubt man der Pariser Literaturkritik - ein Repräsentant der legendären französischen Leichtigkeit. Dem 1947 in Orange geborenen Jean Echenoz schmeichelt diese Einschätzung allerdings ganz und gar nicht:

Christoph Vormweg | 26.07.2002
    Ich muss schon sagen: Die Leichtigkeit ist eine Plage. Über Jahre hinweg tauchte das Wort in den Rezensionen meiner Bücher immer wieder auf. Auch wenn es jetzt seltener vorkommt: Ich kann es nicht mehr hören. Denn Leichtigkeit ist ja wohl nur die Mindestvoraussetzung für Eleganz. Selbst wenn meine Bücher einen ironischen Einschlag haben, weil ich gar nicht anders kann, empfinde ich diese Schreibhaltung als defensiv. Wenn man die Geschichten, die ich erzähle, nämlich einmal genauer betrachtet, sind sie eher düster. Pathos mag ich so wenig wie Psychologie, ganz gleich, ob sie nun tiefschürfend ist oder nicht. Mein Ansatz ist eher behavioristisch. Ich suche den Zugang zu meinen Figuren lieber über ihr Verhalten als über ihre Seelenzustände.

    Ihr einstiges Image als Strahle-Blondine pflegt Gloria Stella längst nicht mehr. Im Gegenteil: Um nicht erkannt zu werden, "richtet" sie sich bewußt "häßlich her". Wer ihr dennoch zu nah tritt wie Detektiv Kastner, muß teuer bezahlen: den schubst sie, wie einst ihren Agenten, kaltblütig in den nächstgelegenen Abgrund. Gäbe es das Literarische Quartett noch, wäre spätestens jetzt - bei Kastners Tod auf Seite 18 - Schluß mit lustig, würde Jean Echenoz´ Roman Die großen Blondinen - wie schon sein 1999 mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneter Roman Ich gehe jetzt - gleich mit in besagten Abgrund entsorgt. Nicht einmal die Tatsache, daß alle der mittlerweile neun Romane von Jean Echenoz in den "Editions de Minuit" erschienen sind, also dem Verlag Samuel Becketts, Alain Robbe-Grillets und Claude Simons, hatte die Quartett-Kritiker stutzig gemacht. Solche Betriebsblindheit erklärt sich zweifellos auch damit, daß Jean Echenoz ein begnadeter Bluffer ist, daß er im Leser durch sein Spiel mit den Genre-Mustern des Abenteuer- und Kriminalromans systematisch Erwartungshaltungen aufbaut, um sie anschließend zu unterlaufen. Daß er die Kolportage im Roman "Die großen Blondinen" bewußt auf die Spitze treibt, heißt aber nicht, daß er unsere Lebensrealitäten ausblendet. Das zeigt sich vor allem in seinen Beschreibungen skurriler Örtlichkeiten. Nachdem er uns in früheren Romanen wie "Cherokee" oder "See" in die Geheimnisse von Paris und Umgebung eingeweiht hat, wagt er seit einiger Zeit auch den Sprung auf andere Kontinente:

    Da ich gerne Romane schreibe, in denen gereist wird, die also oft - wenn auch nicht immer - in großer Ferne spielen, stellt sich für mich die Frage: Fahre ich hin oder nicht? In meinem Roman "Die großen Blondinen" ist das Indien gewesen, ein Land, das mir sehr am Herzen liegt. Ich bin also zwei, drei Monate hingefahren, um die Örtlichkeiten zu erkunden. Doch ich habe feststellen müssen, daß einen Orte in gewisser Weise gefangen nehmen, daß sie einem eine soziale, eine ökonomische Wirklichkeit aufzwingen. Im Nachhinein hatte ich daher den Eindruck, es wäre im Grunde besser gewesen, sich eine möglichst genaue Dokumentation der Örtlichkeiten zu beschaffen und auf dieser Grundlage seine Phantasie spielen zu lassen.

    Die Phantasie von Jean Echenoz zeigt sich vor allem in seiner Beschreibung der - oft abseitigen - Details. Da hängen "anämische Wandleuchten" in einer Küche; da werden "dis-tinguierte Straßen" durchquert, "die sich zu benehmen wissen"; da präsentiert ein Hoteldirektor ein "Lächeln in Aspik"; oder eine "Instantberühmtheit" wird reaktiviert. Es sind solche schrägen, verqueren Tonlagen, die den Reiz seiner Prosa ausmachen. Denn sie führen die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten permanent in die Irre. Man könnte auch sagen: Jean Echenoz klopft das Reale nach seinen absurden Substanzen ab. Im Roman "Die großen Blondinen" gilt das vor allem im Hinblick auf unsere Wahrnehmung der Kino- und Fernsehfiktionen. Dabei erteilt er uns nicht als Moralist Lektionen, sondern als Meister einer unaufdringlichen, klammheimlichen Ironie. So schwerelos seine Prosa auch dahingleitet: sie steckt voller Widerhäkchen, die den Blick auf unsere Alltagswirklichkeit verunsichern und damit resensibilisieren. Das hat ihm - wider Erwarten - die bedeutendste literarische Auszeichnung Frankreichs, den Goncourt-Preis, eingebracht:

    Alle Welt sagt, das sei ein traumatisches Ereignis. Es gibt Leute, die sich scheiden lassen, andere ziehen um, kurz, ich weiß nicht, warum das bei mir anders gelaufen ist - vielleicht, weil es nicht mein erstes Buch war, ich hatte ja schon seit 20 Jahren publiziert. Abgesehen davon war mir bewußt, dass der Goncourt-Preis eigentlich gar kein Preis für einen wie mich war. Aber dann hab´ ich ihn eben bekommen, schön, umso besser, aber für mich hatte das nichts Schockierendes. Gut, ich mußte im Radio und im Fernsehn über meine Bücher reden, aber das hatte ich auch schon vorher getan. Verändert hat er nichts. Ich habe nur meine Wohnung vergrößert - das ist alles.

    Und Gloria Stella, die große Blondine? Für sie verändert sich weit mehr. Aber es ist hier nicht der Ort, das zu verraten.