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Die Grünen im Wahljahr
Auf der Suche nach dem verlorenen Ziel

Abstürzende Umfragewerte, eine chronische Schwäche beim Thema innere Sicherheit, der Dauerstreit an der Parteispitze: Die Grünen wirken verunsichert. In dieser Verfassung stellt die Partei am Freitag ihr Programm für die Bundestagswahl vor. Noch unklar ist, wie die konservativ-grüne Parteispitze den Wählern die eher linken Inhalte verkaufen wird.

Von Nadine Lindner und Barbara Schmidt-Mattern | 09.03.2017
    Cem Özdemir, Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, und die Fraktionsvorsitzende der Partei im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, kommen am 18.01.2017 in Berlin als Spitzenkandidaten ihrer Partei für die Bundestagswahl zur Pressekonferenz.
    Wie wollen die beiden konservativ-grünen Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt als Spitzenduo für die eher linken Programmpunkte stehen? (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Die nächste Haltestelle der Kölner Verkehrsbetriebe KVB ist nur ein paar Gehminuten entfernt vom Herbrands. In dieser recht überschaubaren Veranstaltungshalle steht auf einer kleinen Bühne eine Drei-Mann-Kapelle namens Theken-Terzett, und besingt Kölns Öffentlichen Nahverkehr: "…Uuuuh, KVB …"
    Die Grünen hören das natürlich gerne, zum Auftakt ihres Politischen Aschermittwochs. Bus und Bahn statt Autowahn, das gefällt auch dem Ehrengast des Tages. Cem Özdemir, aus Berlin eingeflogener Spitzenkandidat der Grünen bei der kommenden Bundestagswahl, gibt zum satirischen Anlass den "Gutmenschen":
    "Ich bin leidenschaftlicher Körnerfresser. Ich denke die ganze Zeit an nichts anderes, Tag und Nacht. Meine Frau nennt mich liebevoll ihren Hirsekolben. Die einen leben in Dunkeldeutschland, unser Zuhause ist Dinkeldeutschland, liebe Freundinnen und Freunde …"
    Der Auftakt gelingt launig – das ist viel wert für eine Partei, bei der ausgerechnet jetzt im Wahljahr nichts mehr rund läuft. Also versucht es der Parteichef und Spitzenkandidat mit Selbstironie:
    "Ich bin ein Anhänger des Genderwahns. Der Homo-Lobby. Des Multikulti-Fetisch. Der Lügenpresse!"
    Ratlos und verunsichert: Bei den Grünen läuft im Wahljahr nichts mehr rund
    Seit mittlerweile zwölf Jahren schmoren die Grünen im Bundestag in der Opposition. 2013 platzte der Traum von Schwarz-Grün – für manche ein Alptraum – schon in der Sondierungsrunde. 2017 sollte alles besser werden. Ein klares Profil, überzeugende Spitzenkandidaten. Doch bisher klappt nichts davon. Stattdessen atmet die Partei Ratlosigkeit aus. Abgestürzt in den Umfragen, und dann auch noch eiskalt erwischt vom sogenannten "Schulz-Effekt", wirken die Grünen verunsichert.
    Der Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir in Köln auf der politischen Aschermittwochs-Veranstaltung. 
    Der Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir rezitiert das Mantra der grünen Eigenständigkeit. (dpa)
    Missmut zwischen den Anhängern des rechten und des linken Parteiflügels, ein wachsender Graben zwischen Parteiführung und der Basis – und in erster Reihe das Spitzenduo Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt, die neulich im "Spiegel" als so verloren wie "Hänsel und Gretel" verspottet wurden.
    In dieser Verfassung stellen die Grünen morgen ihr Programm für die Bundestagswahl vor. Der Zeitpunkt könnte kaum schlechter sein. Robert Habeck, grüner Vize-Ministerpräsident aus Kiel, sucht nach Gründen:
    "Die eine Antwort – wer die geben kann, würde wahrscheinlich den Politik-Oscar bekommen. Aber insgesamt ist es uns über den Lauf der letzten drei Jahre offenbar nicht gelungen, die relative Stärke, die wir ja in bestimmten Regionen, in bestimmten Themen haben, so an Menschen heranzutragen, dass sie uns abnehmen, dass wir es ernst meinen mit einem Führungsanspruch für diese Gesellschaft."
    Im Sommer 2016 schien eine Regierungsbeteiligung 2017 noch greifbar
    Habeck unterlag im Herbst bei der parteiinternen Urwahl für die Spitzenkandidatur mit gerade einmal 75 Stimmen Unterschied dem Parteichef Cem Özdemir. Viele an der Basis sagen: Ein verschenkter "Habeck-Effekt". Der 47-Jährige hört’s gern, und lässt in geübtem Understatement durchblicken, dass er weiter eine wichtige Rolle spielen wird:
    "Hätte, wenn und aber - ist alles nur Gelaber. Ich hab die Urwahl nicht gewonnen. Cem und Katrin haben sie gewonnen. Die haben meine volle Unterstützung, und meine nächste Aufgabe ist, die Landtagswahl in Schleswig-Holstein möglichst so erfolgreich abzuschließen, dass daraus auch ein Impuls für Nordrhein-Westfalen und dann für Berlin erfolgt."
    Vor den Grünen liegt ein aufreibendes Wahljahr mit drei Landtagswahlen und einer Bundestagswahl. Die Stimmung ist gedrückt. Noch vor wenigen Monaten sah das ganz anders aus. Im Sommer 2016 schien eine Regierungsbeteiligung 2017 greifbar, sei es schwarz-grün, sei es rot-rot-grün.
    Ein heißer, sonniger Spätsommertag im September 2016. In Berlin-Mitte findet das erste Schaulaufen der Kandidaten fürs Spitzen-Duo statt. Cem Özdemir kommt auf die Bühne. Ohne Jackett, in Turnschuhen und im Plauderton:
    "Ja, liebe Freundinnen und Freunde, ich komme gerade von der Einschulung meines Sohnes …"
    Özdemir warnt seine Partei vor einem Richtungsstreit
    Özdemir spricht viel von seinen Kindern. Nicht nur in dieser Rede. Es ist sein Versuch, weniger glatt zu erscheinen. Kritiker innerhalb wie außerhalb der Partei werfen ihm vor, unnahbar zu wirken. Özdemir rezitiert das Mantra der grünen Eigenständigkeit. Er warnt seine Partei vor einem Richtungsstreit, er will die Grünen über das eigene Milieu hinaus wählbar machen:
    "Ich habe ja gar nichts gegen Koalitionsüberlegungen. Aber bitte nach der Wahl und nicht vor der Wahl. Vor der Wahl konzentrieren bitte alle ihre Kräfte darauf, Wählerinnen und Wähler für Bündnis 90/Die Grünen zu gewinnen und nichts anderes."

    Nein, sagt Özdemir, man wolle nicht den gleichen Fehler machen wie 2013 und mit dem Bekenntnis zu einem Partner, also der SPD, in den Wahlkampf ziehen. Rot-rot-grün und schwarz-grün, oder die Ampel – da soll es um Gottes Willen dieses Mal keine Ausschließeritis geben. Alles ist möglich. Die Atmosphäre im Saal – hoffnungsvoll, euphorisch, wie zum Beispiel nach Anton Hofreiters Rede:
    Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, beim Bundesparteitag im November 2016 in Münster.
    Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, trat nicht für das Spitzenduo an. (imago - Rüdiger Wölk)
    "Und das kriegen wir Grünen hin! Und das will ich gemeinsam mit euch schaffen!"
    Und doch – schon damals im September zeigen sich zwei Konflikte, die später zum Ausbruch kommen. Da ist zum einen die Führungsschwäche: Parteichefin Simone Peter tritt nicht fürs Spitzen-Duo an. Sie verkündet die Entscheidung beim Länderrat:
    "Liebe Leute, ich bin bei dem Spitzenteam nicht dabei, aber ich kann euch nur eins sagen. Mein Mut, mein Enthusiasmus, der bleibt auch als Bundesvorsitzende."
    Ein wunder Punkt ist die Sicherheitsdebatte
    Peter befürchtete offenbar, dass sie zu wenig Rückhalt innerhalb der Partei hat:
    "Vielleicht beim nächsten Mal, das entscheidet ihr dann."
    Wie häufig erntet Peter höflichen, aber keinen begeisterten Applaus. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist bei der Spitzenkandidatenkür die einzige Frau auf dem Wahlzettel. Ein großer Kritikpunkt - besonders schmerzhaft für eine Partei, die auch aus der Frauenbewegung heraus entstanden ist.
    Den zweiten wunden Punkt, der sich schon 2016 zeigt, spricht der Umweltminister von Schleswig-Holstein, Robert Habeck an. Es ist die Sicherheitsdebatte:
    "Im Haushalt von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, andere haben das auch gemacht, wurden Polizeistellen erhöht. Warum stehen wir nicht dazu? Warum müssen wir uns dafür verstecken?"
    Innere Sicherheit, soziale Sicherheit, es sind Großthemen – für die Grünen sind sie zäh, sie finden dafür keine eigene Sprache. Irgendwann im Herbst, spätestens zum Jahreswechsel geht der Schwung verloren. Das zeigt sich auch bei der Bundesdelegiertenkonferenz, dem Parteitag Mitte November in Münster. Groß prangt das Motto in der Halle Münsterland "Wir bleiben unbequem." Aber es wirkt schräg, trifft nicht.
    Sieben Stunden wird über den sozialpolitischen Kurs debattiert. Dabei geht es nicht nur um Details beim Ehegattensplitting, oder die Abschaffung von Sanktionen für Hartz IV-Empfänger, sondern auch um die Frage, wie links die Partei eigentlich noch ist.
    Welche Rolle soll soziale Gerechtigkeit im Wahlprogramm spielen?
    Das Streitthema mit Symbolwert: die Vermögenssteuer. Eigentlich, so der ursprüngliche Plan, hätte die Parteispitze um Peter und Özdemir längst eine Einigung finden sollen. Aber das misslang. Nun müssen die Delegierten in Münster entscheiden. Winfried Kretschmann, ganz in seiner Rolle als Ministerpräsident, ist dagegen:
    "Wisst ihr alle, dass ich da ein entschiedener Gegner davon bin. Das schwächt den Mittelstand, und der ist eine der stärksten Säulen gegen den Raubtierkapitalismus."
    "Deutschland ist ein Steuersumpf für Vermögen. Gemessen an anderen Industriestaaten erzielen wir gerade mal die Hälfte des Steueraufkommens durch Steuern auf Vermögen. Und das geht so nicht!"

    Jürgen Trittin, der Spitzenkandidat von 2013 vom linken Parteiflügel, wirbt leidenschaftlich für die Vermögenssteuer. Kretschmann und Trittin, zwei Alphatiere, die für ihre Positionen eintreten, egal, was die Parteispitze so vorhat. Am Ende entscheidet der Parteitag sich für eine Art Gummi-Vermögenssteuer für eine unbestimmte Gruppe sogenannter Super-Reicher – der berühmte wachsweiche Kompromiss, der niemanden überzeugt.
    Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen)
    Jürgen Trittin, früherer Umweltminister und Spitzenkandidat von 2013 vom linken Parteiflügel, wirbt leidenschaftlich für die Vermögenssteuer. (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
    Im Wahlprogramm, das die Grünen am morgigen Freitag vorstellen, wird sich zeigen, welchen Rang die Vermögenssteuer – und damit auch die soziale Gerechtigkeit - für die Grünen zur Wahl spielen soll. Mit besonderem Interesse werden sicherlich auch die Passagen zur inneren Sicherheit gelesen.
    Rückblick. Die Tagesschau vom 2. Januar 2017. "Gezielte Kontrollen von Nordafrikanern zu Silvester in Köln haben eine Debatte über den Polizeieinsatz ausgelöst."
    Parteichefin Simone Peter verknüpft innere und soziale Sicherheit
    Die Neujahrsnacht 2017. Wieder kommt es am Kölner Hauptbahnhof zu einem massiven Polizeieinsatz, im Fokus stehen hunderte junge Männer mit vermeintlich nordafrikanischen Wurzeln. Zwei Tage später fragt Parteichefin Simone Peter, ob es verhältnismäßig sei, wenn Personen allein aufgrund ihres Aussehens kontrolliert würden: "Ich halte den Begriff ‚Nafri‘ für diskriminierend und inakzeptabel."
    Es hagelte massive Kritik innerhalb und außerhalb der Partei. Die Grünen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, der Polizei in den Rücken zu fallen und nicht genug für innere Sicherheit zu tun. In den Tagen darauf – und unter dem Eindruck des islamistischen Anschlags vom Berliner Breitscheidplatz im Dezember - versucht die Partei, beim Thema Sicherheitspolitik wieder sprechfähig zu werden, arbeitet an der Definition eines eigenen "grünen" Sicherheitsbegriffs. Doch auch hier driften die Auskünfte aus der Parteispitze auseinander. Parteichefin Simone Peter verknüpft die innere Sicherheit Anfang Januar mit der sozialen Sicherheit:
    "Wobei die Sicherheitsdebatte um Terroranschläge vom Islamismus bis zum Rechtsextremismus für uns immer ein zentrales Thema ist. Dazu gehört aber in der gesamten Sicherheitswahrnehmung auch eine Verunsicherung durch andere Aspekte. Zum Beispiel durch die mangelnde Ausstattung der sozialen Sicherungssysteme."
    Ihr Co-Vorsitzender Özdemir dreht es anders. Die Skepsis der Grünen vor Polizei und Staatsorganen – das sei eine Sache der Gründergeneration, längst passé:
    "Während andere vor uns, die Generation davor, noch aufgewachsen ist mit den alten Kämpfen. Ich hatte diese Kämpfe nicht mehr. Ich kam meistens zu spät zu den Demonstrationen, weil ich die Erlaubnis von meinen Eltern nicht bekam, hinzugehen. Da waren dann die Schlachten mit der Polizei immer schon vorbei."
    Wahlkrimi-Nacht vor der Entscheidung der Spitzenkandidatur
    Die Voraussetzungen sind also nicht unbedingt die Besten, als am 18. Januar die Entscheidung der Spitzenkandidatenkür verkündet wird:
    "Ja guten Morgen und herzlich willkommen."
    Scheinwerfer strahlen die Banner mit den grünen Parteilogos an. Alles ist bereit, nur die müden Gesichter der Parteispitze erzählen von einer langen Wahlkrimi-Nacht:
    "Das zeigt einfach: Demokratie ist spannend. Wir haben halb drei in der Nacht hier gezählt. Und ich sage ihnen, seitdem meine Kinder durchschlafen, habe ich keine so nervenaufreibende Nacht mehr erlebt wie die letzte."

    Entsprechend klein sind die Augen des Bundesgeschäftsführers Michael Kellner, als er das Ergebnis der Urwahl am Vormittag in Berlin verkündet:
    Der Bundesvorsitzende Cem Özdemir (l-r, alle Bündnis 90/Die Grünen), der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der schleswig-holsteinische Umwelt- und Landwirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt am 22.10.2016 beim Urwahlforum 
    Der Bundesvorsitzende Cem Özdemir (l-r, alle Bündnis 90/Die Grünen), der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der schleswig-holsteinische Umwelt- und Landwirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt wollten alle die Grünen in den Bundestagswahlkampf führen. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    "Die Partei, sie hat sich entschieden, sie hat sich für ein Spitzen-Duo aus Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir entschieden."
    Ein nicht vollkommen überraschendes Ergebnis, jedoch mit einem überraschenden Detail: Robert Habeck liegt nur 75 Stimmen hinter Cem Özdemir. Das zeigt, wie groß die Sehnsucht nach einem frischen Gesicht an der Spitze ist. Es ist ein Dämpfer für den langjährigen Parteivorsitzenden Özdemir, den er aber nicht so nennen will, selbstkritische Töne fehlen:
    "Also erstens ist es ein Sieg. Das ist eine Entscheidung. Das mal als Erstes."
    "Wir müssen ins Gespräch mit den Leuten kommen"
    Katrin Göring-Eckardt, die, obwohl einzige Kandidatin, auch nur 70 Prozent Zustimmung bekam, dementiert schnell, dass zwei Realos als Spitzenduo eine Präferenz für eine schwarz-grüne-Koalition bedeuteten:
    "Wir haben entschieden als Partei gemeinsam, dass wir in diesen Wahlkampf gehen und einen Grünen-Wahlkampf führen, und nicht vorher Koalitionsoptionen festlegen. Das geht in diesen Zeiten auch nicht mehr, das weiß auch jeder."
    Das groß angelegte Urwahlverfahren hat ein altbekanntes Spitzenduo hervorgebracht, dem es schwerfällt, Begeisterung auszulösen. Dazu kommt ab sofort das Problem, wie die Grünen die beiden Realo-Kandidaten und ein eher links ausgerichtetes Wahl-Programm glaubwürdig in Übereinklang bringen können.
    Michael Kellner, dem obersten Wahlkampf-Strategen der Partei, bereitet diese Frage zurzeit ziemlich Kopfzerbrechen. Die Mobilisierung während der Urwahl hat zwar gut geklappt, und die Grünen verzeichnen, vor allem seit der Wahl von Donald Trump, auch einen Mitgliederzuwachs. Aber die Umfragen sinken dennoch seit Monaten. Michael Kellner sieht im Moment nur einen Weg – er plant eine sogenannte "Dialog-Tour" der Spitzenkandidaten:
    "Also kämpfen und raus aus der Blase. Das ist eine Aufgabe für die nächsten Wochen und Monate, auch mit unserem Wahlprogramm. Und der zweite Punkt ist: Wir müssen ins Gespräch mit den Leuten kommen. Das ist eine Zeit, in der es auch Verunsicherung darüber gibt, welchen Weg geht dieses Land eigentlich weiter."
    Özdemirs Kritik am System Erdogan ist auch ein Angriff auf die Kanzlerin
    Doch wie wollen die beiden konservativ-grünen Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt den Wählern die eher linken Programmpunkte verkaufen – also keine Sanktionen für Hartz IV-Empfänger, oder auch ein Ende des Ehegattensplittings? Das Dilemma ist so offenkundig, dass die Grünen nun sogar über mehr "Beinfreiheit" diskutieren – wie vor vier Jahren die SPD, die 2013 aber daran scheiterte, ihren Kandidaten Peer Steinbrück und ihr Wahlprogramm zusammenzubringen.

    Einzig ein Thema gibt es, bei dem Cem Özdemir seit Jahren schon ganze Säle zum Kochen bringt: seine messerscharfen Analysen des politischen Islam, über Fehler in der deutschen Integrationspolitik und – ganz aktuell – seine Kritik am System Erdogan. Erst leise, dann wütend:
    Der Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, sitzt am 19.11.2016 bei der baden-württembergischen Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Schwäbisch Gmünd (Baden-Württemberg) im Saal. 
    Cem Özdemirs Plädoyer gegen Erdogans Willkürjustiz ist auch eine Kritik an Angela Merkel. (dpa / picture alliance / Lino Mirgeler)
    "Wenn Erdogan hier reden möchte, dann lasst Selahattin Demirtas, den Vorsitzenden der HDP, frei, lasst die Oppositionspolitiker frei, lasst die 150 Journalisten frei, dann darfst du hier gerne reden, aber dann reden die hier auch. Bin mal gespannt, ob Berlin das so sagt."
    Es ist der stärkste Part in Özdemirs Aschermittwochs-Rede vor wenigen Tagen. Sein Plädoyer gegen Erdogans Willkürjustiz ist zugleich ein Angriff auf die Kanzlerin – was man von Özdemir bisher eher selten gewöhnt war:
    "Die Zeit des Wattebäuschchen-Weitwurfs in Richtung Ankara, die muss jetzt mal vorbei sein. Wir brauchen klare Ansagen. Nicht wir wollen Mitglied in der Türkei werden, die Türkei will Mitglied in der Europäischen Union werden, dann muss aber auch klar sein, wer sich wem anzupassen hat, da darf es auch kein Vertun geben."
    Uneinigkeit bei den Grünen zwischen Bund und Ländern und Nord und Süd
    Katrin Göring-Eckardts Aufzählung der grünen Wahlkampfthemen dagegen erinnert bisweilen an ein Proseminar:
    "Also sprich, wir werden reden über die ökologische Modernisierung der Wirtschaft, wir werden reden über die Verbindung von Klimakrise und Solidarität, über die Verbindung von Klimakrise und Sozialpolitik. Über die Verbindung von Klimakrise und Fluchtbewegungen weltweit."
    Außerdem werben die Grünen für eine kohlefreie Energiepolitik, für Elektroautos und eine ökologische Wirtschaftspolitik. All das soll nun im Wahlprogramm morgen konkretisiert werden. Doch es geht noch um viel mehr, sagt Robert Habeck, der anders als Özdemir und Göring-Eckardt jahrelange Regierungserfahrung in Schleswig-Holstein hat. Habeck stört sich weniger an den Themen, als an der Kommunikation:
    "Die Botschaften sind immer nur die Träger von Emotionen. Und nur, wenn beides zusammenpasst, funktioniert ein Wahlkampf. Und all die kleinen Unterpunkte, wie viel Artenverlust haben wir, und wie wollen wir den stoppen? Wie viel CO2 wollen wir einsparen, und wie hoch muss dafür eine Mindeststeuer sein. Das ist alles nur dann interessant, wenn es verbunden wird mit einer Idee von Gesellschaft: Wo kommen wir her, wo wollen wir hin?"
    Das weiß die Parteiführung derzeit wohl auch nicht so genau. Was die Grünen eigentlich als Stärke verkaufen wollen – dass sie in elf Bundesländern mitregieren -, führt oft genug zu einer Kakofonie. Nicht nur zwischen Opposition im Bund und grünen Ministern in den Ländern, auch zwischen Stuttgart und Kiel ist man sich etwa beim Thema Afghanistan-Abschiebungen oder auch bei den sicheren Herkunftsstaaten vollkommen uneins. Robert Habeck:
    "Auch diese komplizierten Grünen haben einen Anspruch, gern gemocht zu werden."
    "Der Anspruch der Grünen muss sein, deutlich über das eigene Milieu zu wachsen"
    Doch während die SPD mit Martin Schulz einen Kanzlerkandidaten stellt, der den Reiz des Neuen versprüht, wirken Göring-Eckardt und Özdemir wie alte Bekannte. Die Pläne der Sozialdemokraten für eine Reform der Agenda 2010 findet die grüne Parteiführung nicht ganz schlecht, aber auch nicht ganz gut. Katrin Göring-Eckardt:
    "Wen Herr Schulz aber nicht im Blick hat, das sind Frauen, die in Teilzeit arbeiten, das sind Leute, die in Start-ups arbeiten, mit wenig Geld, und die tatsächlich darauf angewiesen sind, eine soziale Absicherung zu haben."

    Doch trotz der Kritik, und trotz aller Beteuerungen der grünen Eigenständigkeit: Seit Martin Schulz im Rennen ist, betonen beide Spitzenkandidaten auffällig oft, dass die SPD ihnen naturgemäß näher stehe als die Union.
    Martin Schulz (SPD) reckt beide Daumen in die Höhe
    Seit SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz im Rennen ist, betont das grüne Spitzenduo auffällig oft, dass die SPD ihnen naturgemäß näher stehe als die Union. (dpa/picture alliance/Kay Nietfeld)
    Womit die Grünen aber, was die Machtperspektive angeht, faktisch zurück auf Null geworfen sind. Rot-Grün: eher unwahrscheinlich. Eine Koalition mit der Union angesichts von Horst Seehofer an der Spitze der CSU: mehr als schwierig. Rot-rot-grün mit Sahra Wagenknecht: Für viele Grüne ebenfalls abschreckend. Katrin Göring-Eckardt fasst zusammen:
    "Also ich halte relativ wenig davon, sozusagen immer dreiwochenweise zu sagen, jetzt ändern wir mal die Strategie. Sondern ich halte sehr viel davon, die Strategie, die wir haben, anzupassen an die jeweiligen Verhältnisse. Wir werden nicht für eine Koalition gewählt. Wir werden dafür gewählt, für das, was wir wollen. Und das wird die Aufgabe sein, zu sagen: Wofür wählt man Bündnis90/Die Grünen?"
    Für den Kieler Robert Habeck bemisst sich die Aussicht auf Erfolg vor allem an der Haltung. Zunächst mal müssten die Grünen ihre Angst vor dem Anecken ablegen. Seit der Veggieday-Debatte sitzt dieser Stachel tief. Habeck wünscht seiner Partei deshalb mehr Frechheit – schließlich wurden die Grünen fast schon mal als Volkspartei gehandelt, zumindest tief im Südwesten der Republik:
    "Natürlich muss der Anspruch der Grünen sein, deutlich über das eigene Milieu zu wachsen. Passt nicht zurzeit, weil wir ja wirklich gerade mit dem Rücken zur Wand kämpfen, aber klar, wenn man nicht weiß, wo man hin will, wie soll man dann gute Laune bekommen, wie soll man sich motivieren. Und klar, meine Ansage ist: Baden-Württemberg möcht ich öfter sehen."