Donnerstag, 28. März 2024

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Die Halbstarken

Die Jugendkultur ist dem Mainstream der übrigen Gesellschaft stets um einige Schritte voraus. In den 1950er-Jahren sind es die sogenannten Halbstarken, die den Trend markieren. Sie tragen Lederjacke, Jeans und eine Frisur, die als Ente bezeichnet wird. Der Rock´n Roll ist ihre Hymne. Ihr Ziel: gesellschaftliche Emanzipierung und Teilhabe.

Von Meinhard Stark | 27.12.2014
    US-Schauspieler Marlon Brando in einer Szene seines Films "The Wild One" (Der Wilde) von 1953.
    US-Schauspieler Marlon Brando in einer Szene seines Films "The Wild One" (Der Wilde) von 1953. (picture-alliance / dpaweb / epa Handout)
    Am Ende der 60er-Jahre erlebt man eine Jugend, die lange Haare, Jeans oder Minirock trägt, Spaß an Rock und Beat hat und sich für gesellschaftliche Veränderungen engagiert, allen voran die 68er. In den 70er-Jahren wird alles noch bunter, vielfältiger und lauter - die Musik, die Jugendlichen, ihre Gedanken und ihr Handeln. Viele junge Leute entwickeln ein neues Gespür für die eigene gesellschaftliche Teilhabe.
    Jeweils fünf damals junge Leute aus West und Ost erzählen über ihre ganz individuellen Erfahrungen. In ihren Statements, gemischt mit Musik und Originaltönen, werden die Erinnerungen an jene wilden Jahre in einer Langen Nacht wieder lebendig.
    Auszug aus dem Manuskript der ersten Stunde:
    !!Stationsansage Berliner Rundfunk
    DDR-Rundfunk, 22.10.1956:!!
    Guten Abend allerseits. Am vergangenen Mittwoch trafen sich im Zentralen Klubhaus der Berliner Jugend, in der Klosterstraße, junge Freunde aus ganz Berlin zu einer interessanten und zeitweilig hitzigen Diskussion. Kein Wunder: Zur Debatte standen die sogenannten Halbstarken.
    Jugendlicher I: Wenn man sich so umsieht auf sogenannten Laubenpieperbällen: Diese Jungs mit den schmalen Hosen, weiße Absätze an den Schuhen, die benehmen sich doch auch wie die Halbstarken.
    Ihre Meinung, bitte schön. Ja bitte schön, sie sind dran.
    Jugendlicher II: Halbstarker. Was der Begriff überhaupt heißt, oder ist, das wissen sie doch gar nicht. Genauso, wie er sagt, mit der Mode und so. Es gab früher unmögliche Moden, und es gibt heute unmögliche Moden. Das hat doch mit dem Begriff Halbstarker gar nischt zu tun.
    Bernd: Mein Name ist Bernd Feuerhelm. Ich bin 1943 geboren in Seeburg/Ostpreußen und bin in Berlin, Kreuzberg groß geworden. Und mein Spitzname in der Clique war Bernte oder Feuermütze.
    Stationsansage SWR
    Zur Fortsetzung des Programms schalten wir um nach Baden-Baden. (Pausenzeichen).
    SWR, 08.12.1956
    Einen Halbstarken kann man auf den ersten Blick erkennen. Die Bekleidung besteht meistens aus Texashose, schweren Schuhen, Buschhemd und Halstuch. In vielen Fällen sind es Jungens im Alter von 16 bis 20 Jahren. Nichtstuer, die zu faul zum Arbeiten sind und demnach viel Zeit und Langeweile haben.
    Bernd: Wenn man sich nicht konform des bürgerlichen Verhaltenskodexes benahm, war man automatisch, bekam man irgendwie aufge- halbstark. Um Jugendliche, die einfach sich nicht anpassen - aus welchen Gründen auch immer - sie zu diffamieren, zu kriminalisieren, und so moralisch als Außenseiter hinzustempeln.
    Dorit: Mein Name ist Dorit, bin Baujahr '45 und hatte den Spitznamen Putzi.
    !!Bayerischer Innenminister, 27.08.1956
    August Geislhöringer:!! Das jugendliche Rowdytum hat sich bei uns besonders unangenehm bemerkbar gemacht seit etwa zwei Monaten.
    Dorit: Wir waren jung, wir waren hübsch, wir waren kess. (lacht) Vor allen Dingen war'n wir kess frech, ja, schlagfertig, sagte man damals. Wir war'n eben nicht schüchtern.
    !!Bayerischer Innenminister, 27.08.1956
    August Geislhöringer:!! Wir haben auch dann sofort durch unsere zuständige Abteilung die Organe unserer Polizei aufmerksam gemacht, dass sie diesen Dingen ihre besondere Aufmerksamkeit widmen muss und mit aller Entschiedenheit, und wenn es sein muss - wie ich gesagt habe - auch brutal vorzugehen.
    Wolf: Ich bin Wolf, und ich bin in Berlin geboren 1942. Und als ich dann so in diese Zeit kam, wo man tanzen konnte, war ich vielleicht halbstark, oder ganz bestimmt. Und meine Freunde haben mich Kulicke genannt, weil Kulicke eben auch'n besonderer Typ ist.
    !!Bayerischer Innenminister, 27.08.1956
    August Geislhöringer:!! Wenn man die mit Glacehandschuhen anfasst, dann macht man sich ihnen gegenüber lächerlich.
    Wolf: Meine Jugenderfahrung, die ist relativ kurz zu beschreiben: Weil, ich weder aus meiner Familie, noch aus der Gesellschaft konnte ich irgendwelche Energien für mich ableiten. Mir war ziemlich schnell klar: Was ich mache - nur aus mir selbst kommen muss.
    Marion: Wir haben nicht in dieser - ich sag mal so - spießigen Welt unserer Eltern gelebt. N'bisschen rebellisch.
    SWR, 08.12.1956
    Als Gegenmittel für diese Jugendlichen wüsste ich im Moment nur die Wehrpflicht, in der sie hoffentlich etwas Schliff bekommen würden.
    Musiken der Langen Nacht:
    Bill Haley, Land Of A Thousand Dances
    Elvis Presley, Tutti Frutti
    Peter Kraus, Susi Rock
    Little Richard, Jenny
    Chuck Berry, Johnny B. Good
    Elvis Presley, Hard Headed Woman
    Elvis Presley, Wooden Heart
    Bill Haley, R-O-C-K
    Ted Herold, Rock n Roll & Petticoat
    CD Little Richard, All Around The World
    Elvis Presley, One-Sided Love Affair
    Bill Haley, Don' Knock the Rock
    Bill Haley Rock Around The Clock
    Auszug aus dem Manuskript der zweiten Stunde:
    Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung, Oktober 1963:
    Es muss das Ziel unserer Politik bleiben, den Kalten Krieg beenden zu helfen, den die Sowjets vor allem durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen in der Zone seit eineinhalb Jahrzehnten führen.
    Pedro: Ich bin Pedro, aufgewachsen an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Jahrgang 1941.
    Dorit: Dorit, Baujahr 45 und als Jugendliche lebte ich im Westteil Berlins.
    Bernd: Mein Name ist Bernd, Jahrgang 1947. Und meine Jugend habe ich in einer Kleinstadt im Osten verbracht zwischen Berlin und Leipzig.
    Barbara: Mein Name ist Barbara. Ich bin 1953 geboren und habe meine Jugend in einer norddeutschen Kleinstadt verbracht.
    Matthias: Ich heiße Matthias. Jahrgang 1951. Und meine Jugend habe ich überwiegend in verschiedenen Teilen Norddeutschlands verbracht.
    Reportage über Gruppensex
    Reporter: Haben sie schon einmal Gruppensex erlebt?
    Man: Ja.
    Reporter: Warum haben sie daran teilgenommen?
    Man: So aus Neugierde.
    Reporter: Was glauben sie, warum viele Leute am Gruppensex teilnehmen?
    Man: Aus Langeweile. Irgendwie ist es denen zu langweilig allein. Neugierde auch.
    Reporter: Was hat ihnen am Gruppensex den meisten Spaß bereitet?
    Man: Überhaupt nix!
    Matthias: Das Gefühl so in den 60ern war, irgendwie alles unheimlich spannend zu empfinden, was da gerade passierte - irgendwie hatte man so im Unterbewusstsein: Irgendwas wird jetzt losgetreten, was anders ist, was irgendwie neu ist, aber für die Zukunft hatte ich irgendwie nicht wirklich einen Plan.
    Pedro: Die 60er-Jahre leben ja noch in Hierarchien. Und ein Jugendlicher hat in den 60er Jahren nicht hinterfragt, warum ihm der Meister eine hinter die Ohren gegeben hat. Die Hierarchien waren noch relativ klar abgesteckt.
    Dorit: Es gab auch Ältere, die uns wohlgesonnen waren, die irgendwie schon damals mit der Jugend - wie man so sagte - mitgegangen sind. Und die mochten wir. Aber es gab Nachbarn, die uns angefeindet haben, die uns auch angepöbelt, beschimpft haben. War nicht so toll.
    Barbara: Ich hatte dann auch noch eine Großmutter, die bei uns im Haus wohnte. Und die hatte nun überhaupt kein Verständnis, wie man mit so kurzen Röcken gehen kann. Und als sie mich mal an der Nähmaschine sitzen sah, meinte sie: Ach, machst du den Rock länger? Das war für mich Anlass, noch n Zentimeter kürzer zu machen.
    Auszug aus dem Manuskript der dritten Stunde:
    "Von Fehmarn nach Erfurt City" - Jugendkultur im Deutschland der 70er Jahre
    Matthias, West: Die Vorstellungen in den 70ern, die ich hatte, die war'n eher gegensätzlich.
    Gabriele: Wir machten all das, was unsere Eltern nicht wollten.
    Matthias, Ost: Wir waren Träumer,
    Matthias, West: Einerseits, muss ich ehrlich sagen, überhaupt keinen Plan für irgendwas –
    Matthias, Ost: Wir waren Blumenkinder,
    Matthias, West: weder für Job, für Geld, für Familie, noch sonst was.
    Gabriele: Also wir waren in Opposition im Familienkreis, aber auch (so) der Gesellschaft gegenüber.
    Matthias, Ost: Wir waren Revolutionäre (lacht). Das wechselte manchmal wöchentlich.
    Matthias, West: Alles ist möglich.
    Lorenz: Ich habe mich als Punk definiert, Punkt.
    Nina Hagen, SFB am 25.02.1978: Wir machen Musik, und ich spinne dazu oder ich spinne nicht. Ich spiele oder ich spiele nicht. Ich bin eben so wie ich bin. Mach immer irgendwas oder rede mit den Leuten oder sag irgendwas oder so.
    Lorenz: No Future, no Future - wie es bei den Sex Pistols hieß.
    Matthias, Ost: An dem Tag, als ich aufgefordert wurde durch Abteilung Inneres, verlassen Sie die DDR, wir legen keinen Wert, habe ich mein Schild – das war 1976 – an die Wohnungstür gemacht "Bleibe im Lande und wehre dich täglich".
    Lorenz: Ich und sozusagen meine Freunde waren eben eher gegen die 68er, gegen diese ... gegen Hippies, sozusagen "Never trust a Hippie". Weil, wir mit 17 uns nicht von 30-Jährigen sagen lassen wollten, was Jugendkultur ist.
    Nina Hagen, SFB am 25.02.1978:
    Moderator: (Aber) irgendwie machst du aber den Leuten auch was vor, nicht? Das kann ja auch n Selbstschutz sein.
    Nina: Das ist ja mein Beruf, es ist ja mein Beruf, den Leuten was vor zu machen. Dazu kommen sie ja ins Konzert, weil sie was vorgemacht kriegen wollen. Das mach ich, und das versuch ich gut zu machen, OK.