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Die Handgriffe der Poeten

Ein Lehrbuch zu schreiben - und Alexander Nitzbergs Lyrik-Baukasten ist ein Lehrbuch mit 47 Übungen für den fleißigen Lyrik-Eleven -, gehört normalerweise nicht zu den Aufgaben, denen sich Lyriker und Übersetzer gern unterziehen, zumindest nicht im deutschen Sprachraum. Insofern ist Nitzbergs Buch ein Novum. Er will die angehenden Dichter nicht mehr den Volkshochschul- und Ferienkursen überlassen, sondern ihnen etwas zur Verfügung stellen, was sie dort nicht vermittelt bekommen, nämlich Handwerkszeug.

Von Joachim Büthe | 23.10.2006
    " Ich finde, das ist eine sehr wichtige Aufgabe. Ich stehe damit auch in einer gewissen Tradition, vielleicht nicht so sehr in Deutschland, aber in Russland, wo ich auch herkomme. Da haben sich Lyriker, gerade der Moderne, sehr viel mit dem Vermitteln von literarischen Verfahren, von lyrischen Methoden beschäftigt. Es ist auch so, dass meine Motivation aus einem Mangelgefühl heraus entstanden ist. Ich habe einfach festgestellt, dass es da sehr viel Nachholbedarf gibt und dass, wenn sich jemand ernsthaft, intensiv und professionell mit dem Verfassen von Lyrik beschäftigen will, dass er völlig auf sich gestellt ist und dass ihm da sehr wenig geholfen wird. Es gibt diese unselige Institution des kreativen Schreibens. Ich weiß, dass es woanders, in Amerika möglicherweise, anders funktioniert und auch einen anderen Stellenwert hat. Aber in Deutschland ist dieses Konzept nach meiner Meinung nicht aufgegangen. Es ist eine Art von Dilettantismus und Beliebigkeitskultur, oder auch Unkultur. Es werden auf diese Weise, wie ich auch selbst gesehen habe, viele Talente nicht nur nicht gefördert, sondern geradezu im Keim erstickt. "

    Handwerk und Tradition sind nicht zu trennen. Nitzberg entwickelt seine Übungen anhand von Beispielen aus dem Welterbe der Lyrik – von den Anfängen bis zur Gegenwart. Insofern liefert er eine kleine, notwendig lückenhafte, Geschichte der Lyrik gleich mit, allerdings aus einem unüblichen Blickwinkel, gleichsam von innen her. Er zeigt die Dichter bei der Arbeit. Aus dieser Perspektive geht es weniger um historische Entwicklungslinien, sondern mehr um Kontinuitäten: Um die Handgriffe eines gut gebauten Gedichts, die sich zwar verändern und erweitern, aber doch erstaunlich gleich bleiben.

    " Ich habe immer versucht in meinem Buch klarzumachen, dass dieses lyrische Handwerk, von dem dort die Rede ist, alles andere ist als eine stupide Technik, dass es nicht etwas ist, dass nicht bereits schöpferisch wäre... Handwerk, das betrachtet man mit so einer gewissen Abfälligkeit. Aber wir hatten ja Epochen, vor allem im Mittelalter und in der Renaissance, da gab es diese Trennung überhaupt nicht. Gutes Handwerk ist im Grunde auch schon Kunst, und die Übergänge sind da sehr fließend. In jedem Fall ist das eine ohne das andere überhaupt nicht möglich. Denn wie soll sich der Künstler überhaupt ausdrücken, wie soll er seine Substanz ausdrücken, wenn er feststellt, er hat in diesem Moment überhaupt kein Instrumentarium, das ihm zur Verfügung stehen würde. Wenn er es aber beherrscht oder wenn er sich damit intensiv beschäftigt, dann merkt er, dass die handwerklichen Griffe, dass es eigentlich nur Schlüssel sind, die ihm dieses Feld öffnen. Ich sag immer, so als Formel: Stellen Sie sich vor, die Göttliche Komödie schwebt in der Luft, und Sie sind nicht in der Lage sie aufzuschreiben. "

    Vor diesem Dilemma will Nitzberg die künftigen Dichter bewahren, vorausgesetzt, ihr Talent ist groß genug. Es stellt sich allerdings die Frage, ob seine Methode für alle Spielarten der Lyrik gleich gut geeignet ist. Von der reinen Gedankenlyrik, speziell in ihrer politischen Ausformung, hält Nitzberg nicht viel. Auch die karge deutsche Nachkriegslyrik kommt nicht allzu gut weg. Beide sitzen am Katzentisch, an dem die Lautpoesie und die konkrete Poesie als Randerscheinungen bereits Platz genommen haben. Solche Setzungen sind nicht zu vermeiden, wenn man ein Lehrbuch schreiben will, selbst wenn man sich bemüht, und Nitzberg tut es, dem Nutzer möglichst wenig inhaltliche Vorgaben zu machen. Ein Lehrbuch setzt Normen, und Nitzberg ist davor nicht bange.

    " Ich habe eigentlich gar keine Angst vor normativer Poetik. Und ich glaube, dass gerade jetzt eine normative Poetik sehr wichtig ist. Wir befinden uns in einer großen Gefahr, dass man, wenn man über Lyrik spricht heutzutage, dass man über gar nichts spricht, über nichts Konkretes, dass es sehr, sehr beliebig wird. Wir sind dann in dem Moment sehr schnell bei den Personen. Sie sind dann möglicherweise wichtig oder haben eine interessante Meinung usw. Wir entfernen uns ganz schnell von den Texten. Und ich denke, um über Texte reden zu können, sie auch beurteilen zu können, muss eine gewisse Grundlage da sein, eine Basis, ja vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner. Wo man bestimmte Dinge auch ausspricht und sagt, diese Dinge sind für ein Gedicht relevant. Daher habe ich gar keine Angst vor der normativen Poetik, zumal ich ja niemanden zwingen kann, sie zu befolgen. Es ist eine Basis, die ich legen möchte, und es ist auch mein ganz inniger Wunsch, demjenigen, der mit Lyrik arbeitet, ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, im Umgang mit dem Material. Ob er sich dann im einzelnen daran hält, das ist schließlich ihm überlassen und auch wie weit er sich daran hält. Ich habe z.B. auch viele Dinge, die ich in diesem Buch schreibe, an meiner eigenen Lyrik überprüft und habe festgestellt, dass auch ich selbst mich nicht immer daran gehalten habe."

    Gerade die Abweichung setzt eine Norm voraus. Und wer das dichterische Handwerk beherrscht, der wird es bei seiner Arbeit auch wieder vergessen können und müssen. Aber erst, wenn er es beherrscht. Der Lyrik-Baukasten ist ein überaus nützliches Instrument, um dorthin zu gelangen und, wie bei Baukästen üblich, muss man nicht alle Bauteile mit der gleichen Intensität nutzen. Der Lehrer Nitzberg verlangt Fleiß und Ausdauer von den künftigen Dichtern, aber er ist kein Pedant. Auch ich, der ich die erbsenzählenden Verslehren nie so recht habe lesen können, konnte noch einiges lernen aus diesem Buch. Und vielleicht sind wir Rezensenten nicht die unwichtigste Zielgruppe des Lyrik-Baukastens. Damit in künftigen Lyrikbesprechungen etwas weniger gefaselt wird.

    " Das ist gar nicht so falsch gedacht, weil, um es einmal ganz deutlich zu sagen, im Feuilleton über Lyrik manchmal purer Blödsinn geschrieben wird, purer Blödsinn! Es sind einfach Leute am Werk, die über Lyrik schreiben, die einfach keine Ahnung haben von diesem Metier, die vielleicht Germanistik studiert haben, aber überhaupt nicht wissen, was ein Gedicht ist, was für ein Gedicht relevant ist, woraus es überhaupt gemacht ist. Und die Dinge, die dann verbalisiert werden, sind eigentlich lauter Unterstellungen, Missverständnisse und Attitüden. Es wird z.B. vom Gedicht immer behauptet, ich habe in fast allen Lyrikrezensionen der letzten Zeit gelesen, dass der Dichter Dinge beobachtet. Es geht immer um Wahrnehmungen, als sei ein Dichter eine Wahrnehmungsmaschine, als sei ein Dichter ein besserer Beobachter als andere Leute. Ich kann nur sagen, und ich kenne eine Menge Dichter, kein einziger von ihnen, und es sind sehr bedeutende darunter, ist überhaupt ein Beobachter. Der würde noch nicht einmal bemerken auf welchem Boden er gerade geht und was sich um ihn herum befindet. Die Beobachter, das sind Journalisten z.B., das sind professionelle Beobachter. Aber ein Lyriker, ich bitte Sie... Dem setzte ich entgegen, ein sprachliches Bild entsteht meistens nicht aus der Beobachtung heraus, sondern aus der sprachlichen Substanz. Ein Dichter muss das, was er da schreibt, überhaupt nicht selbst gesehen haben."

    Alexander Nitzberg: Lyrik-Baukasten - Wie man ein Gedicht macht
    DuMont Verlag, 220 S., geb., EUR 19,90