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Die Heldin ist mit der ersten Zeile tot

Ida, eine 67-jährige Dienstmagd, wird von einem Lastwagen erfasst und stirbt. Darüber ist vor allem ihre Herrin, Madame Besson, bestürzt. Denn durch ihren Tod gerät nicht nur der Alltag durcheinander, sondern es kommt Zweifel an ihrem Umfalltod auf.

Von Gisa Funck | 12.11.2010
    "Als ich von einer französischen Kollegin in Berlin eine Seite vorgelesen bekommen habe, habe ich gesagt: 'Diese Autorin mache ich vollständig!' Also, ich war so berührt, dass ich gesagt habe: 'Das muss man hier in Deutschland haben!'"

    Christian Ruzicska ist ein leidenschaftlicher Verleger mit Mission. Während die großen Publikumsverlage vorrangig auf konventionell gebaute und eher leicht verständliche Titel setzen, versucht er seine Leser für eine innovative, experimentelle Literatur zu gewinnen. Secession – übersetzt: Abspaltung – heißt nicht umsonst sein neuer Verlag, den er zusammen mit Susanne Schenzle gegründet hat. Denn Ruzicska, der vorher schon, den mittlerweile an Klett-Cotta verkauften Independent-Verlag Tropen mit aus der Taufe hob, möchte vor allem eines: Ganz bewusst eine Gegenposition zum literarischen Mainstream einnehmen:

    ""Das Ambitionierte ist etwas, wo ich das Gefühl gehabt habe, das ist in dieser Zeit extrem reif, dass man Punkte bezieht, Stellungen bezieht und dann auch wirklich sagt: 'Das ist eine Literatur, die wollen wir vertreten sehen – die können wir vertreten, weil das uns entspricht.' Ich glaube, es gibt auch eine Funktionsaufteilung. Häuser unserer Art werden auch so ein bisschen als Trüffelschweine so nicht gezüchtet, das machen wir dann selber, aber die Funktion dafür ist wahrscheinlich auch innerhalb des Buch-Geschehens da."

    Trüffelschweine spüren verborgene Kostbarkeiten auf. Und genau so eine lange verborgen gebliebene Kostbarkeit der Literatur ist zweifellos das Werk der Französin Hélène Bessette, das Ruzicska jetzt erstmals auf Deutsch herausbringt. "Ida oder das Delirium" ist der letzte Roman dieser ebenso anspruchsvollen wie tragisch gescheiterten Schriftstellerin, die mehrmals erfolglos für den renommierten Prix Goncourt vorgeschlagen war:

    "Sie ist Prä-Avantgarde gewesen. Und in der Zeit, als Raymond Queneau als Leitfigur der Avantgarde galt damals, hat er über Michel Leiris den Hinweis bekommen, man möge sich doch mal genauer die Manuskripte von Madame Bessette ansehen. Und man kann mit gutem Gewissen sagen, in dieser Anfangsperiode sind alle großen Geister der damals wortführenden Literatur komplett auf ihrer Seite gestanden. Also, es gab dann, als sie komplett verarmt war, Bittschreiben an den Staat, dass man Helene Bessette wirklich fördern müsste."

    Es liegt auf der Hand, warum vor allem die Avantgarde-Schriftsteller des Nouveau Roman von Hélène Bessette so begeistert waren. Denn das, was dessen Wortführer ab den späten 50er-Jahren propagierten – ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Sprachkonventionen und hergebrachten Erzählweisen – genau dieses Misstrauen erhob auch Bessette, geboren 1918 im Pariser Vorort Levallois, schon zehn Jahre früher zu ihrem Schreib-Credo:

    "Was man halt sehen kann, ist, dass sie in einer Form, die man vielleicht vom späten Beckett her kennt oder von Gertrud Stein her kennt, mit der französischen Sprache in einer Art und Weise umgeht, die jetzt nicht die Grammatik auf den Kopf stellt, sondern das Thema des Schreibens selbst oder die Form, in der ein Roman geschrieben wird, komplett untersucht, selbst zum Gegenstand macht. Was nehmen wir nicht wahr? Welche sprachlichen Floskeln haben wir, um Wahrnehmungen einfach zu verschleiern, wegzustecken, nicht zu Bewusstsein kommen zu lassen? Was verbirgt sich hinter der Sprache? Das ist glaube ich das, was sie hauptsächlich als Arbeitsgrundlage hat."

    "All diese verfilzten Worte. Diese vermengten. Diese vordergründigen Unterhaltungen.
    Die künstlichen Stimmen.
    Um Idas Tod zu erklären.
    Viele Erklärungen.
    Wenn die Erklärungsversuche eine Art Entschuldigung sind, dann muss man sich eingestehen, dass es einen Fehler gibt.
    Idas Tod ist ein Fehler. Oder Idas Tod ist das Ergebnis eines Fehlers.
    Und,.... der Fehler ist bei wem?
    Madame Perrot, der Fehler ist bei niemandem.
    Wir haben damit nichts zu tun.
    Arme Ida, es war nicht ihr Fehler. Man kann nichts gegen sie sagen. Sie war ein Arbeitstier. Sie arbeitete für vier.
    Oder aber war genau das ein Fehler?"

    "Ida oder das Delirium" ist von Helene Bessette zwar selbst als "Roman" betitelt worden. In Wahrheit aber könnte man ihren 120 Seiten langen Text besser als einen rezitativen Stream of Consciousness mehrerer Stimmen charakterisieren. Oder auch als poetisches Langedicht, bei dem man als Leser nie genau weiß, wer eigentlich gerade spricht. Sind das nun Bekannte oder Freundinnen der zentralen Figur Ida, um die sich alles dreht? Oder ist es ihre Arbeitgeberin Madame Besson, die im Text mehrmals direkt angesprochen wird? Oder sind diese verschiedenen Stimmen vielleicht sogar nur unterschiedliche Tonlagen ein und desselben, gespaltenen Erzähler-Ichs, das von mehreren Seiten Idas Fall rekapituliert? All’ das ist denkbar. Und nichts gewiss. Und letztlich muss der Leser selbst zum Autor von Idas verwirrender Geschichte werden, bei der nur die Ausgangssituation einigermaßen eindeutig wirkt: Ida, eine 67-jährige Dienstmagd, wurde anscheinend beim Versuch die Straße zu überqueren von einem Lastwagen erfasst – und verstarb noch am Unfallort. Darüber ist vor allem ihre Herrin, Madame Besson, bestürzt. Denn schließlich gehörte Ida als Faktotum ihres Hauses schon so gut wie "zur Familie", wie es heißt. Und durch ihren Tod gerät nun nicht nur der gewohnte Gang der Dinge durcheinander, sondern wird auch noch die äußerst unangenehme Frage aufgeworfen, ob der scheinbare Unfall womöglich ein Selbstmord war. Christian Ruzicska:

    "so, die Grundsituation ist ja fast eine theatrale Situation. Es ist fast ein Theaterstück, dass da ein Sarg anscheinend ist, den man nicht sieht. Das ist der Sarg – man könnte sagen – des schlechten Gewissens. Der Kern dieses schlechten Gewissens ist die Ida. Und, dass sie tot ist. Und drum herum sitzen Menschen, trinken Tee oder Whiskey - je nachdem, und können es nicht fassen. Es ist wirklich dieser Kästner-Satz: Sie können es nicht fassen. Und deswegen reden sie."

    Nachdem sie wegen eines Rechtstreits finanziell ruiniert war, hörte Helene Bessette nach 1973 auf, weitere Bücher zu publizieren, obwohl sie beim renommierten Gallimard-Verlag unter Vertrag stand. Völlig verarmt, war sie - ebenso wie ihre Figur Ida – schon vorher gezwungen, Gelegenheitsjobs anzunehmen. Unter anderem arbeitete sie als Dienstmädchen für reiche Leute. Man kann ihr letztes Buch von daher auch wie ein wütendes Vermächtnis lesen. Denn, auch wenn alle Reden der Hinterbliebenen hier Idas potentiellen Selbstmord nicht aufklären können: Das ebenso Verstörende wie Spannende an dieser Lektüre ist doch, dass Bessette darin per Wiederholung, Übertreibung oder Wortspielerei die Alltagssprache so weit aus ihren Konventionen herauslöst, dass dahinter die sprachlichen Selbstbetrugs- und Täuschungsmanöver eines skrupellosen Großbürgertums sichtbar werden. Und je eindringlicher und öfter Madame Besson und die anderen ihre Unschuld am Tod Idas beteuern, desto schuldiger wirken sie tatsächlich. Und desto lauter wird zwischen den Zeilen ein gesellschaftskritischer Unterton hörbar, der das arrogante Gehabe der Oberschicht nicht ohne Spott als inhuman bloßstellt. Christian Ruzicska:

    "Es gibt eine Schuldfrage, weil man sich fragt: Vielleicht hätte ich mit ihr wirklich einmal von Mensch zu Mensch sprechen müssen, nicht von Autorität zu Unterordnung, ja. Sondern von Mensch zu Mensch, eine Freundin möglicherweise. Wer hat denn mit ihr gesprochen? Niemand. Was hat man sie gefragt? Wie viel Geld sie auf dem Konto hat. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Moment für unsere Gesellschaft: Wenn man von Toleranz spricht, kann man das nur machen mit gefüllten Inhalten. Man kann nicht etwas tolerieren, nur weil es da ist – das wäre Ignoranz."

    Hélène Bessette: "Ida oder Das Delirium". Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. 125 Seiten, Secession Verlag, Zürich 2010, 21.95 Euro.