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Die hohe Kunst der Gaukelei

Günter Herburger, bekannt für seine Kindergeschichten über "Birne", ist ein Meister des Fabulierens. Seine "kleinen wilden Romane" entführen den Leser in ein wundersames Reich der Möglichkeiten voll Witz und hoher Sprachkunst.

Von Sabine Peters | 10.04.2012
    Der Schriftsteller Günter Herburger (Archivbild, 1991)
    Der Schriftsteller Günter Herburger (Archivbild, 1991) (picture alliance / dpa / Kupferschmidt)
    Ein Wurm namens Christian Ritter treibt, was Würmer so treiben: schlängelt sich durch die Erde, frisst Erdkrümel, scheidet sie aus. Er scheut den Maulwurf, bohrt sich ans Licht. Dieser "Ritter Christian", dabei ohne Rüstung, wird später von einem Vogel verschluckt. Sofort bei der Lektüre von Günter Herburgers neuem Buch ist man angefasst, gekitzelt von skurrilen Ideen, Gedankensprüngen und Fantasien.

    Günter Herburger, der 1932 im Allgäu geboren wurde, hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Gedichtbände, Hörspiele und Drehbücher veröffentlicht, und seine Geschichten von "Birne" haben Generationen von Kindern begleitet. Er gehört zu den gar nicht so oft anzutreffenden Autoren, die man wiedererkennen kann an der Eigenart ihres Schreibens. Herburger huldigt keinem simplen Realismus, er ist auch kein schlichter Märchenerzähler, vielmehr übt er sich gern und oft in der hohen Kunst der Gaukelei.

    "Haitata", wie eine helle Fanfare kommt der Titel seines neuen Buchs daher, und der Untertitel heißt ganz einfach: "Kleine wilde Romane". Der Band versammelt ganze 45 dieser wilden Miniaturromane, die jeweils nicht mehr Platz brauchen als eine halbe oder vier Seiten. Und was heißt "Haitata"? Wenn man dem Autor Glauben schenken darf, ist das der finnische Ausdruck für "behindern". Dabei geht es in diesem Buch doch gerade um das Gegenteil, es geht darum, so ziemlich alle Stricke der Vernunft reißen zu lassen. "Haitata", das ist wohl auch ein Kitzelwort, und vergleichbare Wörter, Ausdrücke und Sätze finden sich immer wieder: Da gibt es zum Essen einmal Teigröllchen in einer "Klosterbrühe", und bei diesem Neologismus kann sich ein vom Autor entzündeter Leser fragen, ob darin nur Gemüse schwimmt oder auch Mönche. Da schmecken die Kartoffeln so wie "kostbare Geschwüre". Es gibt "Fußwehtropfen" und es gibt Musik, die "erwärmten Glöckchen und rotem Lack" gleicht. Viele dieser schrägen Bilder haben etwas unmittelbar Einleuchtendes; ihr Aufblitzen erweitert das Bewusstsein des Lesers, dem bei der Lektüre klar wird, dass es doch zwischen Himmel und Erde weit mehr gibt, als man es vermutet hat. Gelegentlich wurde dem Autor ein Mangel an erzählerischer Ökonomie vorgehalten, und er verrenne sich in Abschweifungen. Dazu muss man sagen: Für den passionierten Läufer Günter Herburger ist auch beim Schreiben der Weg das Ziel. Das heißt, es gibt keine Botschaft, kein sicheres End-Ergebnis.

    Dass man sich beim Lesen seiner Texte nicht verläuft, hängt mit der disziplinierten, elaborierten Sprache zusammen: kunstvoll geschachtelte Sätze, von denen man sich getrost von einer Absurdität zur nächsten leiten lassen kann. Gerade die Spannung zwischen den manchmal fast kindlich sprühenden Fantasien und der artifiziellen hohen Sprache gibt dem Buch eine eigenartige Würde; dabei stehen die Texte nicht steif auf einem Sockel, sie schweben.

    Bei aller Leichtigkeit tauchen hier auch Bilder von Verzweiflung, Schmerzen, Angst und Gewalt auf. Sie erinnern an die Verletzbarkeit von Mensch und Natur, an die Vergänglichkeit alles Lebendigen. Einmal heißt es, Angst und Schmerzen gehörten mit zu den Voraussetzungen für das Entstehen von Wissenschaft und Künsten.

    Und doch geht manches gut aus, wenn auch auf seltsamen Wegen, wie etwa im wilden Roman über den Wurm Christian Ritter. Der wird, wie gesagt, von einem Vogel verschlungen. Ende und aus? Von wegen. Er wird verdaut, ausgeschieden, fällt als Materie in ein Beet. Die verbliebenen Sporen des Wurms "kümmern" sich im Garten um sich selbst. Und so wird logischerweise aus dem, was also ein "Kümmerling" ist, erneut ein Wurm, der sich auch künftig so verhält, wie es seinesgleichen angemessen ist: Er ringelt sich und, so heißt es, "er speist ohne Angst". Da freut man sich. Günter Herburger ist ein Verwandlungskünstler, und an der Geschichte von Christian Ritter kann man sehr schön sehen, wie das funktioniert; die Metamorphose nimmt den Weg über die Sprache.
    Zugegeben, man begreift nicht jedes Bild und nicht jede Wendung – aber mit der üblichen Ratio soll man dem Buch auch nicht beizukommen versuchen. Die neuzeitliche Vernunft hat eine Tendenz, alles Verrückte, Verquere ins Exil zu verbannen; an die Stelle der Taugenichtse, der Spinner, Träumer und Müßiggänger ist der rationale homo faber getreten, für den die Welt nicht einfach ihren Wert an sich hat. Vielmehr werden Dinge und Menschen hauptsächlich unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit und Verwertbarkeit betrachtet. Man muss nicht in das gefährlich sentimentale Verklären einer vor-aufklärerischen Gesellschaft verfallen, um allerdings in unserer Kultur das Leiden an einer durchrationalisierten, entzauberten Welt festzustellen. Günter Herburger schreibt auf filigrane und leise Art an Gegenentwürfen zu einem logozentristischen Weltbild, darin liegt das utopische Potential seiner Literatur. Lebewesen aller Art, Dinge und Phänomene werden achtungsvoll angeschaut, sie werden "gelassen", und das heißt, sie gewinnen ihr Eigenleben wieder, sie sind beseelt. Daher kann eine gemalte Pfeife das Bild verlassen und aufs Land entweichen, von dort aus ist man bald in China, wo die Pfeife einen Tritt erhält. Aber weil in diesen Texten wie in Träumen alles möglich ist, hilft ein Mädchen der Geschwächten zurück ins Bild, und vor Erleichterung lässt es dann ein Bächlein aufs Parkett rinnen.

    Haitata, das ist ein Buch der Möglichkeiten, die in respektvollem Staunen betrachtet werden. Herburger sagte einmal: "Bann plus Vielfalt gleich Poesie", und diese Gleichung lässt sich auch auf seine kleinen wilden Romane beziehen.

    Günter Herburger: Haitata. Kleine wilde Romane.
    A1-Verlag, 112 Seiten, 11,80 Euro