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Die hundert wichtigsten Dinge
Was der Homo sapiens so braucht

Die Welt auf die hundert wichtigsten Dinge zu reduzieren, das haben die Autoren des selbst ernannten Instituts für Zeitgenossenschaft in einem Buch versucht. Ein Ratgeber ist es nicht geworden und ganz ernst nehmen muss es auch nicht. Dennoch ist es lesenswert - und liefert einige Denkanstöße.

Von Peter Backof | 22.01.2016
    Euro-Geldmünzen
    Ist Geld wirklich wichtig? (pa/dpa/Fellens)
    Wir wollen es uns einfach machen: Jedes Mal, wenn Sie das (!) hören, ist das Ding wichtig. Bei Fell, Haken und Waffe glüht der Lautsprecher. Das scheinen also wichtigste Dinge für das Institut für Zeitgenossenschaft zu sein. Im Gegensatz zu Handy, Bett und Kühlschrank. Immerhin: Internet und Schirm gibt es, pars pro toto für die Medienwelt. Es ist ein lakonisches Foto- und Erklärbuch, das Tilman Mühlenberg und seine Co-Autoren, Berater, Freunde publiziert haben.
    "Es geht natürlich darum - das haben wir im Vorwort geschrieben - Komplexität der Welt zu reduzieren, aufzuräumen, bestimmte Erkenntnisse zu liefern, die Leute - wie wir das mal so salopp gesagt haben - glücklicher zu machen in ihrem Leben."
    Glücklich etwa diejenigen, die sich ein Bett aus Gestell und Fell selber bauen können. Denkbar ist sie, die Welt in hundert Dingen.
    "Die Dinge sind da und der Versuch ist eben, Fragen zu stellen. Da geht es gar nicht so sehr um die Habhaftigkeit."
    Nicht das Besitzen also, sondern eher das Verbinden? Hier kommen die Autoren auf den Niet, besser bekannt als die Niete. Etwas, das zusammenhält, Zusammenhang schafft. Die Texte auf der einen Seite des quadratischen Buchs sind für sich gesehen sachlich und verwandeln sich in Poesie. So schreibt Sophie Hunger über die Rakete:
    Der globalisierte Blick
    "Eine Rakete ist ein Eis auf Stiel, das von Kindern herumgetragen wird im Sommer. Die Mütter dieser Kinder haben alle ihren Job aufgegeben, damit dem Kind die Rakete schmelzend über die Füße tropft und dann dort auf allen Vieren von den unverwirklichten Frauen mit einem Kleenex und den Worten 'Hase!' aufgetupft wird." Zitat Ende.
    Das zugehörige Foto zeigt ein Raketen-Modell, sprich: ganz klares Phallussymbol, vor weißem Hintergrund, wie überhaupt alle Dinge sehr steril abgelichtet werden: "Wie wir uns eine sogenannte zeitgenossenschaftliche Fotografie vorstellen: Das funktioniert in dieser Hohlkehle, also in diesem Raum, in dem man keine Räumlichkeit sieht, weil er so gebogen ist, und mit einer bestimmten Aufsicht, Beleuchtung, bestimmten Brennweite, um das Ding eben möglichst neutral abbilden zu können."
    Ideologisch wird es nie. Dafür ist der Blick zu globalisiert. Und zwischendurch darf geblödelt werden. Bei der Ware Gin gelangt man von der Gentrifizierung über die Gintrifizierung zur Gerontofizierung. Wie ernst sollen wir diese Publikation denn nehmen?
    "Die große Ironielawine, die alles einerlei macht, war uns eigentlich nicht das Anliegen. Also es gibt bestimmte Haltungen, die wir anhand des Textes zu Haken festmachen wollten, wo wir konkret Bezug genommen haben auf ein bestimmtes wissenschaftliches Denken - das ist jetzt eher so für Insider relevant - innerhalb der Soziologie und Philosophie der letzten zehn Jahre: Nämlich, dass das Subjekt immer weiter hinter den Dingen verschwindet. Deswegen ist bei uns eigentlich auch der Mensch ausgeklammert."
    Es sei also kein Schmunzelbuch von Akademikern, die sich jenseits der Uni mal austoben wollten, sagt Tilman Mühlenberg. Eher eine Sammlung von Einwürfen und Spitzen, die aktuell sehr wohl ernste Berechtigung haben.
    Attrappe für gesellschaftlichen Status
    Nehmen wir den Schläger und denken sofort an Baseballschläger, die derzeit in Nachrichtenbildern sehr präsent sind. Im Buch schreibt der Journalist und jetzige Tennislehrer Tom Kummer, wie in den 1970er-Jahren Jimmy Connors und Björn Borg sich mit bestimmten hier auch ganz genau genannten Schläger-Modellen duellierten, also sich schlugen im verfeinerten Sinn. Womit wir dann aber auch gleich bei der Marken-Ware sind, und dem Preis, der etwas zu dem macht, was es ist? Doch, klingt plausibel.
    Ein dingliches Büro hat das Institut für Zeitgenossenschaft übrigens nie gehabt. Die existierenden Fotos der Mitglieder - auffällig korrekt gekleidete junge Männer um die dreißig - wirken ebenso unverortet wie die der Dinge. Damit kokettiert das Institut: sich als Gemeinschaft von Wissenden zu inszenieren. Die Statuette eines Dobermanns darf auf allen Institutsschreibtischen überzeichnet repräsentativ stehen. Wie eine Attrappe für gesellschaftlichen Status.
    Und jetzt sind die "Hundert wichtigsten Dinge" beim renommierten Kunstbuchverlag Hatje Cantz angekommen. Tilman Mühlenberg geht es bei allem Spaß um ernsten Erkenntniswillen, während sein Kollege Timon Kaleyta in einem aktuellen Interview bezweifelte, dass das Buch überhaupt gelesen werde. Es eigne sich aber hervorragend als gehobenes Coffee Table Book für die Wartezimmer von Rechtsanwälten. Die Welt zu reduzieren auf die "Hundert wichtigsten Dinge", wird das scheitern? Na ja, klar. Aber es scheitert genial und absolut lesenswert.