Mittwoch, 24. April 2024

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Die Identität

Für die Versuchsanordnung seines neuen Romans kommt Milan Kundera mit einem Minimum an Handlung aus. Da ist ein mittelaltes Paar, Chantal und Jean-Marc, da ist Chantals beiläufiger, aber folgenschwerer Gedanke, die Männer hätten das Interesse an ihr verloren, und da gibt es eine Handvoll anonymer Liebesbriefe an Chantal. Mehr Intrige ist nicht erforderlich, damit sich das Eheleben von Chantal und Jean-Marc im Handumdrehen in ein Inferno verwandelt. Oder besser: in eine, wie es im Roman heißt, "perfide Phantasie". Denn am Ende bewahrt nur ein allmächtiger Erzähler das Paar vor dem Schlimmsten.

Christoph Bartmann | 17.02.1999
    Seit Kundera auf französisch schreibt, werden seine Romane immer knapper und konzentrierter. Reduktion ist ihr Prinzip. Kunderas Umgang mit der literarischen Zweitsprache erinnert eher an Beckett als beispielsweise an Nabokov. Die französischen Wörter zieht er gleichsam faltenlos über die Dinge und Sachverhalte des Romans. Man muß diese Reduktion aber nicht mit dem Schreiben in der Fremdsprache in Zusammenhang bringen. Schon früher, als er noch tschechisch schrieb, propagierte Kundera eine Mischform aus Roman und Essay. Was ihm als "Kunst des Romans" vorschwebt, ist erstens Komposition im musikalischen Sinne, ist außerdem eine geschärfte psychologische Wahrnehmung und schließlich ein übergangsloses Ineinandergehen von Reflexion und Erzählung. Im Roman "Die Identität" ist ihm die Verwirklichung des eigenen Programms ohne Frage geglückt. Seinem Ansatz entsprechend, überzeugt Kundera mehr als umsichtiger Choreograph seiner Figuren denn als blutvoller Erzähler.

    An Chantal und Jean-Marc, diesem überaus durchschnittlichen Paar, will Kundera, wie es seine Art ist, etwas zeigen. Es geht ihm um eine Moral, um eine humane Moral aus dem Geist der französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts. An Chantals und Jean-Marcs Beziehung nagt die Zeit, und mit der Zeit regt sich in den beiden eine Unlust am Körperlichen, die nicht nur die eigenen Körper betrifft. Als Chantal, die erfolgreich in der Werbebranche tätig ist, schon zum Wochenendurlaub an der normannischen Küste weilt, während Jean-Marc, der einmal Skilehrer war und jetzt privatisiert, in Brüssel einen todkranken Freund besucht, nistet sich in ihr der Ekel ein. Ein erotischer Traum verursacht ihr soviel Unbehagen, daß ihr scheint, es sei in dieser Nacht "ein ganzes Stück ihres Lebens" mit Jean-Marc getilgt worden. Tags darauf, am Strand, registriert sie dort verwundert die hingebungsvoll "papaisierten" jungen Väter und kommt zu der nüchternen Einsicht, in einer Welt zu leben, in der sich die Männer nach ihr nicht mehr umdrehen. Als Jean-Marc eintrifft, sind sich die beiden fremd geworden. Sie haben sich, so scheint es ihnen, ineinander getäuscht. Ihre wahre Identität enthüllt sich mit dem "fortschreitenden Erlöschen des Körpers". Chantal und Jean-Marc finden einander plötzlich alt, häßlich, lächerlich in ihrer Körperlichkeit. Und nicht nur in ihrer eigenen: Kunderas Roman ist voll von illusionslosen, also un-erotischen Beobachtungen über den erotischen Körper. Beim Küssen, muß Chantal denken, geht eine "Mikrobenarmee" vom Mund der Geliebten in den ihres Liebhabers über; und Jean-Marc wird behelligt von der Vorstellung, daß der Körper eines jungen Mädchens eine "Sekretionsmaschine" sei und das Augenlid wie ein Scheibenwischer die verschmutzte Hornhaut reinigt. Es herrscht in Kunderas Roman ein provokant gemeinter Materialismus der Gefühle vor, zu der Chantals Chef, der Werbeagentur-Chef Leroy die treffendsten Beiträge liefert.

    Ihren fixen Ideen zum trotz ist Chantal dankbar und verwirrt, als nach ihrer Rückkehr anonyme Briefe eintreffen, in denen ein Unbekannter Dinge schreibt wie: "Ich folge Ihnen wie ein Spion. Sie sind sehr, sehr schön." Die Briefe, so stellt sich bald heraus, stammen aus der Feder von Jean-Marc. Die Effekte, die seine Briefe auslösen, sind unabsehbar. Jean-Marc, heißt es einmal, "erschuf das Phantom eines Mannes und unterzog Chantal damit, ohne es zu wollen, einem Test, der ihre Empfänglichkeit für die Verführungskunst eines anderen auf die Probe stellte." Weil es diesen anderen gar nicht gibt, fühlt Chantal sich doppelt verraten. Jean-Marc, so argwöhnt sie, hat ihr die Briefe geschrieben, um die Trennung einzuleiten. Die Ereignisse überstürzen sich: Chantal reist, halb auf Geschäftsreise, halb auf Abenteuersuche zu einem verflossenen, vielleicht aber auch ganz imaginären "Britannicus" nach London, Jean-Marc folgt ihr unauffällig. Chantal ist dort Gast bei einer sadomasochistischen "Sexparty", die sich zum Alptraum steigert, ehe sie Jean-Marcs Umarmung erlöst. War alles nur ein Traum? Ja und nein. Mit dem Happy-End, das Kundera anbietet, kann und will sich das Unbehagen nicht legen, von dem sein Roman handelt. Die Identität, auf der Chantals und Jean-Marcs Liebesübereinkunft beruhte, bleibt auch dann zerstört, wenn das Paar zuletzt im "Licht einer kleiner Nachttischlampe" wieder friedlich beieinander liegt. So gründlich haben sich die beiden im Verlauf des Geschehens "aus den Augen verloren", daß auch Chantals finales Versprechen "'Ich lasse die Lampe die ganze Nacht an. In allen Nächten" durchaus bedrohlich wirkt. Kundera weiß, was Paare denken, wenn sie sich zärtliche und fürsorgliche Dinge sagen. Sein luzider kleiner Kammer-Roman stellt das einmal mehr unter Beweis.