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"Die Intelligenz der Pflanzen"
Schlaues Grünzeug

Evolutionstechnisch sind Pflanzen die erfolgreichsten Lebewesen. Sie könnten auch ohne Menschen leben, wir aber nicht ohne sie. Wenn der Mensch aussterben würde - Pflanzen hätten den Lebensraum in ein paar Jahren zurückerobert. Solche simplen, doch bedenkenswerten Fakten offenbart das Buch "Die Intelligenz der Pflanzen" des Biologen Stefano Mancuso und der Journalistin Alessandra Viola.

Von Aureliana Sorrento | 22.01.2016
    Regenwald auf Tasmanien
    Regenwald auf Tasmanien (dpa / picture alliance / Chad Ehlers)
    Unter Wissenschaftlern ist der Begriff Pflanzenneurobiologie umstritten. Denn er suggeriert, Pflanzen würden Neuronen, also ein Gehirn besitzen. Das bestreitet Stefano Mancuso, der das Internationale Labor für Pflanzenneurobiologie in Florenz leitet, jedoch selbst. Ein Gehirn, das dem menschlichen ähnelte, besäßen Pflanzen gewiss nicht, heißt es in dem Buch "Die Intelligenz der Pflanzen", das er zusammen mit der Journalistin Alessandra Viola verfasst hat. Das hieße aber nicht, dass sie keine Intelligenz hätten. Es hinge davon ab, wie man Intelligenz definiere.
    Definiert man sie als Fähigkeit zur Problemlösung, dann besitzen Pflanzen mehr als genug davon. Dies legen Mancuso und Viola in ihrem Buch "Die Intelligenz der Pflanzen" auf anschauliche Weise dar. In diesem Buch präsentiert der Wissenschaftler die Ergebnisse seiner Forschungen. Die Journalistin hat den Stoff in eine allgemein verständliche Sprache und eine ansprechende Form gegossen.
    Ein Gehirn können Pflanzen schon deshalb nicht haben, weil sie gar keine Organe besitzen. Da sie am Boden festgebunden sind und nicht das Weite suchen können, wenn ein Pflanzenfresser sie angreift, könnten sie nicht überleben, wären ihre lebenswichtigen Funktionen in bestimmten Organen gebündelt. Die Evolution hat dadurch Abhilfe geschaffen, dass Pflanzen aus repetitiven Modulen bestehen, in denen potenziell alle Fähigkeiten vorhanden sind, die ihr Organismus zum Leben benötigt.
    Der pflanzliche Geruchssinn ist entwickelter als der menschliche
    Pflanzen haben zum Beispiel keine Augen. Aber da sie zur Fotosynthese Licht brauchen, verfügen sie über Myriaden von Lichtrezeptoren, die nicht nur Licht und Schatten unterscheiden, sondern auch Lichtquantität und -Qualität messen können.
    Der pflanzliche Geruchssinn, erfahren wir in "Die Intelligenz der Pflanzen", ist sogar entwickelter als unserer. Jede pflanzliche Zelle ist mit Geruchsrezeptoren übersät, die Informationen über die Umwelt sammeln. Pflanzen produzieren sogar Düfte, genau genommen: chemische Moleküle, durch die sie Informationen übermitteln. An ihre Nachbarpflanzen etwa, um sie vor einer drohenden Gefahr zu warnen. Oder an Insekten. Die einen locken sie als Bestäuber an. Bei Schädlingsbefall rufen sie hingegen die natürlichen Feinde des Schädlings zur Hilfe herbei.
    Auch Ohren besitzen Pflanzen nicht. Aber in ihren Epidermiszellen befinden sich sogenannte "mechanosensible Kanäle", in denen so etwas wie ein Gehör- und ein Tastsinn zusammengefasst sind, erklärt Mancuso in seinem Buch. Denn diese Kanäle nehmen Schwingungen und Berührungen wahr.
    Die neuere Forschung hat zutage gefördert, dass Wurzelspitzen wie Datenverarbeitungszentren arbeiten, erfahren wir nun in "Die Intelligenz der Pflanzen". Sie können nämlich mehrere chemisch-physikalische Parameter ihrer Umwelt erfassen, sie beurteilen und danach Entscheidungen treffen.
    Zuallererst für die Suche nach Nährstoffen zuständig, können sie winzige Mineralstoffmengen aufspüren und die kleinsten Konzentrationsgefälle wahrnehmen, den Feuchtigkeitsgehalt des Bodens und den Gehalt chemischer Stoffe messen. Einmal diese Daten ermittelt, wachsen sie zur Beute hin. Erkennen sie Schadstoffe, biegen sie ab. Über ein Gefäßsystem, das den Pflanzenkörper durchzieht, leiten sie sowohl Nährstoffe als auch Informationen an die anderen Teile der Pflanze weiter.
    Pflanzliche Schwarmintelligenz
    Das Verblüffendste ist aber, dass die Wurzelspitzen die jeweils gewonnenen Informationen auch untereinander austauschen. Und dass sie nicht als isolierte Datenverarbeitungszentren, sondern als Netzwerk arbeiten. Laut einer Theorie verhalten sie sich wie Schwärme, das heißt: Sie weisen eine ähnliche Form verteilter Intelligenz auf wie Fischschwärme - oder das Internet.
    Am Ende des Buches schlägt Mancuso die pflanzliche Form von Intelligenz als Modell zur Erforschung künstlicher Intelligenz vor. Er meint sogar, die Kenntnis der pflanzlichen Intelligenz könnte uns eines Tages vielleicht dazu helfen, außerirdische Intelligenz zu erkennen. Von Robotern mit pflanzlichen Fähigkeiten sei schon längst die Rede, und es gebe bereits Forschungsprojekte über ein Greenternet, das Erkenntnisse der Pflanzen zeitgleich ins Internet stellt und uns somit vor Naturkatastrophen warnt.
    Das klingt futuristisch, fantastisch sogar. Andererseits: Wäre die Menschheit ohne eine Überdosis Fantasie jemals aus der Höhle herausgekommen? Aber die eigentliche Botschaft dieses Buches lautet: Von der Menschheits-Perspektive sollten wir uns endlich verabschieden.
    Stefano Mancuso und Alessandra Viola : "Die Intelligenz der Pflanzen"
    Verlag Antje Kunstmann. Aus dem Italienischen übersetzt von Christine Ammann. 166 Seiten, 19,95 Euro.