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"Die Kabale der Scheinheiligen"
Castorf haut auf den Putz

Frank Castorf inszeniert nach Michail Bulgakow "Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière" an der Berliner Volksbühne. Das Ende seiner Dienstzeit rückt dabei immer näher - und Castorf haut mit dieser Inszenierung noch einmal mächtig auf den Putz.

Von Michael Laages | 29.05.2016
    Wenn das so weiter geht, beginnt mit dem letzten Jahr jetzt eine Serie der Bilanzen über immerhin ein Vierteljahrhundert in diesem Theater. Mit der Gelassenheit des Künstlers, dem der eigene Stellenwert und Rang in der Theatergeschichte neuerer Zeit ja von niemandem mehr streitig gemacht werden kann, stellt Frank Castorf mehr denn je sich selbst und die eigene Rolle ins Zentrum der Theaterarbeit.
    Warum aus gerade diesem Theaterbau mit gerade dieser 100-jährigen Geschichte mit gerade ihm in der Chef-Etage in 25 Jahren gerade das geworden ist, was jetzt noch eine Weile zu besichtigen sein wird – das wird im verbleibenden Jahr immer öfter, in jedem Fall immer mal wieder zum Thema werden. Wer Lust hat auf diese Art der Reflexion, der findet in Michail Bulgakows Molière-Material aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts jede Menge Steilvorlagen.
    Dem eigenen Sonnenkönig Josef Wissarionowitsch Stalin erzählte ja der ungeliebte sowjetische Künstlersohn Bulgakow die Geschichte dieses anderen Dichters am Hofe: im Frankreich von Ludwig IVX.
    Das ist der Rahmen; Castorf markiert ihn mit Sophie Rois als Bulgakow und dem grandiosen Österreicher Georg Friedrich in beiden Herrscherrollen zu Beginn, dann kurz vor dem Finale, wenn die verzweifelte Unterwerfung des Künstlers unter die Knute menschenverachtender Macht ins kalte Grauen führt, sowie als letztes Grußwort Bulgakows an den Bruder im Geiste und über die Machtmissbräuche der Jahrhunderte hinweg.
    Nach der Stalin-Eröffnung tut sich die Inszenierung eine Weile allerdings recht schwer, weil sie so französisch ist. Jeanne Balibar als die Ältere von Molières Frauen und der noch viel weniger Deutsch sprechende französische Theater- und Kinostar Jean-Damien Barbin steigen tief hinab ins Reich der Klassiker im Nachbarland.
    Einsprengsel aus Racines "Phedra" sind erkennbar und noch einiges mehr auf dem wackligen Bühnchen des monumentalen Theaterkarrens von Herrn Molières Wanderbühne, die Aleksandar Denićriesengroß in den Raum gewuchtet hat, nebst einigen Salons sowie Ludwigs herrscherlichem Schlafzimmer. Diese Räume werden wie so oft schon in Video-Performance bespielt. Alexander Scheer agiert als Frauen verschlingender Theaterdirektor mit aasiger Energie – und wenn er sich gar in den Wahn des Regisseursmonstrums Rainer Werner Fassbinder hinein imaginiert, wird es richtig grandios.
    Dessen neunter Film "Warnung vor einer heiligen Nutte", 1971 der letzte mit der Münchner antitheater-Familie - aber auch mit dem französischen Actionfossil Eddie Constantine -, ist die Folie, auf der Castorf und das Ensemble in hinreißend rabiatem Spiel sämtliche Klischees über das Verhältnis von Ensemble, Produktionsteam und Regisseur herbeifantasieren.
    Dabei ist immer noch alles mit allem verschränkt: Fassbinder mit Castorf mit Bulgakow mit Molière. Aus einem Flügel hervor wird jene Figur gezaubert, der später als Molières Adoptivsohn große Bedeutung zukommen wird – das ist Rocco Mylord, eins von Castorfs Kindern. Mit Alexander Scheers Papa Molière spielt der Junge die berühmte Spiegelszene der Marx Brothers durch, wo zwei Figuren einander immerzu als vermeintliches Spiegelbild imitieren.
    Überhaupt: die Kinobrüder Marx. Die und nicht der deutsche Philosoph gleichen Namens seien Leitsterne gewesen für 25 Jahre Castorf-Theater. Wie der Clown auf der Bananenschale ausrutscht: Das sei der zentrale Spielgedanke gewesen. An der Tragödie hingegen sei sein Theater stets gescheitert, konsequent und absichtsvoll, lässt der Regisseur mitteilen.
    In der Tat agiert das höchst animierte Ensemble - mit, neben vielen vertrauten Bekannten, einer erstaunlichen Entdeckung: Hanna Hilsdorf als jüngerer Frau Molière - mehr als sonst wie Väter und Mütter der Klamotte, etwa, wenn dem 14. Ludwig vom diensthabenden Erzbischof die Vokale beigebracht werden. Auch alles Französische wird immer zugänglicher, immer munterer rotiert Castorfs szenisches Schnitzelwerk.
    Der Abend mag noch lange nicht zu Ende inszeniert sein; aber das ist ja öfter so. Er macht allerdings mächtig viel Appetit auf ein entspanntes letztes Jahr.