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"Die Kinder sagen A statt Amoklauf"

Wie ein Schatten liege der Amoklauf von vor zwei Jahren noch immer über der Stadt, sagt Jochen Kalka, Journalist und Buchautor aus Winnenden. Die Gewalttat wird nur vorsichtig angesprochen, die Kinder plagen Albträume, der Schüleraustausch ist ins Stocken geraten.

Jochen Kalka im Gespräch mit Peter Kapern | 10.02.2011
    Peter Kapern: 16 Menschen starben beim Amoklauf in Winnenden vor annähernd zwei Jahren. Ein Jugendlicher hatte damals schwer bewaffnet eine Schule gestürmt und wild um sich geschossen. Anschließend verübte er auf der Flucht Selbstmord. In Stuttgart stand in den vergangenen Monaten der Vater des Amokläufers vor Gericht, ein passionierter Sportschütze, mit dessen nicht sicher verwahrten Waffen sich der Sohn auf den Weg gemacht hatte. Heute wurde das Urteil verkündet. Mitgehört hat der Journalist und Buchautor Jochen Kalka, der in Winnenden lebt. Guten Tag, Herr Kalka!

    Jochen Kalka: Guten Tag, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Kalka, was denken Sie, wie das Urteil in Winnenden aufgenommen wird?

    Kalka: Nun, ich denke, vor allem die Angehörigen werden enttäuscht sein von dem Urteil. Man hatte sich doch deutlich mehr erhofft. Es war ja von bis zu drei Jahre Haft die Rede, und es gab eine ganze Argumentationskette im Laufe der letzten fünf Monate, solange der Prozess lief, wo sehr viel zum Vorschein kam, wo man sich nun doch sehr stark wundern wird über das relativ milde Urteil.

    Kapern: Wollten die Menschen in Winnenden unbedingt einen Schuldigen, der hart bestraft wird?

    Kalka: Ich glaube, es ging überhaupt gar nicht um Genugtuung oder um einen Schuldigen suchen. Das wurde in den Medien oft auch sehr hochgespielt. Auch Stellvertreterprozess war oft ein Wort, das gefallen ist. Darum ging es nicht im Bezug auf den Vater oder auf den Täter. Ich glaube, es ging mehr um die Verantwortung, vielleicht sogar grundsätzlicher Art, dass es ein Verantwortungsproblem vieler Schützen ist, dass einem oft nicht klar ist, welche Folgen es einfach hat, eine Waffe zu haben. Das ist kein Spielzeug, sondern es ist ein unglaubliches Instrument mit unter Umständen eben folgenreichen Auswirkungen, und darum, glaube ich, ging es den Menschen viel stärker als um die Verurteilung des Vaters von dem Täter.

    Kapern: Wie eng hatten die Menschen in Winnenden eigentlich diesen Prozess verfolgt? Waren Einwohner von Winnenden im Gerichtssaal?

    Kalka: Ja. Es sind vereinzelt Einwohner in den Gerichtssaal gefahren. Ansonsten versucht man, fast eher zu vergessen. Ich glaube, der Prozess, dass der jetzt vorbei ist, das sorgt in Winnenden irgendwo aber auch für ein gewisses Aufatmen, weil jedes Mal, wenn es thematisiert wird, dann werden wieder Wunden aufgerissen. Diese ganze Geschichte liegt natürlich wie ein Schatten über der Stadt, und es war schon Gesprächsthema, aber mit Vorsicht. Es gab auch unterschiedliche Meinungen zu dem ganzen Prozessverlauf. Zum Beispiel das Wort "Amoklauf" hören sie in den Straßen überhaupt nicht. Die Menschen sprechen von "damals", "wie fandest du es", "was sagst du dazu?", allerhöchstens wird "A" gesagt. Auch die Kinder sagen "A" statt "Amoklauf".

    Kapern: Würden Sie das für eine Form von Verdrängung halten?

    Kalka: Ja, es ist natürlich eine Form von Verdrängung. Es ist auch Hilflosigkeit. Man merkt aber auch, dass im Laufe dieser knapp zwei Jahre, die das jetzt her ist, einige anfangen, immer öfter oder immer freier darüber zu sprechen. Man sieht es auch bei Kindern, die Geschwisterkinder zum Teil von betroffenen oder auch von befreundeten Kindern, die in eine Isolation gegangen sind am Anfang und jetzt erst langsam anfangen, darüber zu sprechen. Man sieht aber schon noch ganz viele Reaktionen in der Stadt, die deutlich machen, dass es noch nicht verdrängt wurde, zum Beispiel auch bei meinen Kindern. Die hatten plötzlich Ketchup in ihr Schülermäppchen reingetan. Ich frage, was hast du Ketchup dabei, und dann hieß es als Antwort, wenn wieder so was passiert, dann spritze ich mich damit voll und stelle mich tot, damit der Täter denkt, ich sei schon getroffen.

    Kapern: Gehört das zu dem, was Sie eben andeuteten, als Sie sagten, dass das Geschehen, der Amoklauf, wie ein Schatten über der Stadt liegt?

    Kalka: Ja, es gehört definitiv zu dem. Sie merken es an vielen weiteren Dingen. Andere Städte aus dem Ausland tun sich schwer mit Schüleraustausch. In England, in Norwegen findet jetzt kein Schüleraustausch statt. Mit Frankreich ist man noch dran. Albertville ist ja die Partnerstadt von Winnenden, nach deren Namen ja auch die Realschule benannt wurde. Das sind alles Folgen, die noch nicht verarbeitet wurden.

    Kapern: Was haben Sie den Kindern gesagt, als Sie das Ketchup in den Etuis entdeckt haben?

    Kalka: Gar nichts. Man ist eigentlich entsetzt, man ist eher selbst überfordert auch als Eltern. Es gibt 4.500 Schüler in Winnenden, also noch mehr Kinder, die mehr oder weniger unmittelbar oder mittelbar betroffen wurden, weil die fast alle in einem großen Schulzentrum sind. Man führt sehr viele Gespräche, oder hat sehr viele Gespräche geführt mit den Kindern zu dem Thema. Man kann es aber auch nicht zwanghaft natürlich aufsetzen und zwanghaft thematisieren. Die Kinder kommen auch durchaus öfters nachts immer noch mit Albträumen, sie haben wiederkehrende Albträume tatsächlich zu einem Amoklauf, das eine Kind von mir mit einem vergifteten Becher. Das ist auch für uns schwer, damit umzugehen. Es gibt ja psychologische Betreuung in der Stadt, die sehr stark genutzt wurde von den Einwohnern, die auch dann, wenn der erste Jahrestag war, extrem stark genutzt wurde, oder eben, wenn gewisse Anlässe sind wie Weihnachten oder so, stark genutzt werden. Aber richtige goldene Empfehlungen im Umgang mit den Kindern gibt es da kaum, außer dass man zuhört und doch immer wieder spricht, um es zu verarbeiten.

    Kapern: Gibt es diese psychische Betreuung noch immer?

    Kalka: Sie ist jetzt stark reduziert worden. Es ist aber nicht nur die psychiatrische Betreuung in dem Containerdorf, das jetzt im Prinzip weitgehend abgebaut wurde, sondern es geht auch über Vertrauenslehre. Es gibt einen sehr gut ausgebildeten, sogar auf solche Fälle spezialisierten Vertrauenslehrer in dem Schulzentrum, das ist ein ganz toller, beeindruckender Mann. Ich habe auch mit ihm gesprochen, der war auch zu dem Zeitpunkt Klassenlehrer meiner Tochter, er ist auch in der Klasse der Schwester des Täters gewesen, und er hatte dann daraufhin sogar Herzprobleme bekommen, musste ins Krankenhaus, ist monatelang ausgefallen, weil ihm das auch so nahe gegangen ist, die ganzen Gespräche eben mit den Kindern. Er ist jetzt Gott sei Dank wieder im Einsatz. Also man hat natürlich bis heute Betreuung. Es war übrigens eine sehr umfassende, große Betreuung. Da hatte man aus Erfurt gelernt, wo nur zehn Betreuer waren. In Winnenden waren es zeitweise um die 70 Betreuer.

    Kapern: Herr Kalka, damals löste der Amoklauf ja auch hektische politische Betriebsamkeit aus. Es wurde über eine Reform des Waffenrechts debattiert, über Sicherheitsmaßnahmen an Schulen, über eine bessere Sozialarbeit an Schulen. Wie beurteilen Sie das, was in diesen Bereichen sich getan hat seither?

    Kalka: Das Ergebnis der ganzen Verhandlungen - es ist ja immer so: Es wird dann viel diskutiert und Politiker spielen dann ein bisschen auf Zeit, habe ich das Gefühl, und das ist auch bei Winnenden sehr gelungen. Man hat natürlich auch wieder was beschlossen. Hier ist die Altersgrenze für das Schießen großkalibriger Waffen von 14 auf 18 Jahre erhöht worden, das war eine Maßnahme, großartig. Ich meine, bei dem Amoklauf in Lörrach haben sie gesehen, dass sie auch mit kleinkalibrigen Waffen Menschen töten können. Und das zweite, was geändert wurde ist, dass Waffenbesitzer unkontrolliert von den Kommunen kontrolliert werden können. Da gab es dann einige Kontrollen auch im Großraum Winnenden, aber auch in anderen Gemeinden, und dann lese ich die Zeitungen, das ist eine Kollegenschelte, wo dann in der Überschrift steht 'Erfolgreiche Waffenkontrolle', und dann lese ich weiter und sehe, dass 20, 30, zum Teil 40 Prozent der Kontrollierten ihre Waffen nicht ordnungsgemäß aufbewahrt hatten, dass sie auch irgendwo im Schlafzimmer oder irgendwo herumlagen. Dann, denke ich mir, hat das Gesetz doch versagt, es ist kein Erfolg, es ist sogar ein großer Misserfolg.

    Kapern: Jochen Kalka! Ihr Buch mit dem Titel "Winnenden" - darauf sei noch hingewiesen - erscheint am 21. Februar. Danke für das Gespräch.

    Kalka: Vielen Dank, Herr Kapern.