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Die kleinsten Gewerkschafter der Welt

Sie schuften in Bleiminen, ruinieren ihr Gesundheit auf Müllhalden und prostituieren ihre kleinen Körper auf den Straßen der Hauptstädte: Rund eine Million Kinder arbeiten in Bolivien täglich über viele Stunden informell und ohne gesetzlichen Schutz. Eine Gewerkschaft verlangt nun ein Kinderrecht auf Arbeit.

Von Elisabeth Weydt | 04.08.2012
    Auf dem Friedhof in der Silberminenstadt Potosí. Cristina läuft zwischen den betenden Blinden zur Eingangstür. Für 50 Cent schicken die gute Wünsche ins Jenseits. Sie selbst hat gerade für eine Kundin ein Grab gepflegt: vertrocknete Blumen gezupft, die Inschrift poliert. Jetzt wischt sie sich mit dem Handrücken die pechschwarzen, langen Haare aus dem Gesicht und setzt sich zu ihrer Freundin und Kollegin Jovana auf die Bank. Von Neuem bietet sie ihre Dienste an.

    Hin und wieder blitzt eine kleine Lücke in ihrem sonst ebenmäßigen, indianisch anmutendem Gesicht auf: Cristina fehlt der rechte Schneidezahn. Sieben Bolivianos, knapp 70 Cent kostet diese Rundumversorgung. Am Ende von guten Tagen, hat Cristina knapp fünf Euro verdient. Aber heute wird kein guter Tag: Das war ihre erste Kundin und es ist schon fast Mittag. Gleich muss sie in die Schule. Cristina ist gerade mal 15 Jahre alt, kann aber schon auf viele Jahre Arbeitserfahrung zurückblicken. Sie ist eine von einer Million Kinderarbeitern in Bolivien. Auf dem Weg ins Gymnasium erzählt sie, warum:

    "Wir arbeiten, weil wir müssen. Manche haben keine Eltern mehr, andere brauchen das Geld für die Schule, weil sie aus armen Familien kommen. Ich zum Beispiel brauche es auch für die Schule und für Essen, weil meine Mutter vor ein paar Jahren gestorben ist. Jetzt arbeiten meine Schwester und ich für uns und unseren kleinen Bruder, auch für die Miete. Unser Vater unterstützt uns kaum. Er hat eine neue Frau."

    Cristina ist stolz auf ihr selbst verdientes Geld, sie arbeitet vormittags und am Wochenende, nachmittags geht sie in die Schule. Lehrerin möchte sie später einmal werden, oder Ingenieurin. In Bolivien geht es vielen Kindern und Jugendlichen wie ihr: 30 Prozent arbeiten. Doch weil das für unter 14-Jährige verboten ist und weil 14-18-Jährige wenig Macht haben, werden sie oft ausgenutzt und hintergangen. Denn: Wer illegal oder schwach ist, der hat auch keine Rechte. Damit sich das ändert, geht Cristina jeden Samstagabend zur Versammlung der Kindergewerkschaft.

    Die Union der Kinder- und Jugendarbeiter Boliviens, UNATSBO, hat in allen größeren Städten eine Regionalgruppe. Die Gruppe in Potosí heißt CONATSOP und ist die erste und stärkste Kindergewerkschaft Boliviens. Eine Handvoll Minenkinder gründete sie schon 1992. Mittlerweile vertritt die CONATSOP circa 850 der gut 6000 Kinderarbeiter von Potosí: kleine Schuhputzer, Marktverkäuferinnen, Mechaniker, Minenarbeiter und eben Friedhofsgärtner.

    "CONATSOP hilft uns sehr. Unsere Rechte zu verteidigen, bei unserer Arbeit oder auch in der Schule."

    Die Kindergewerkschaft kämpft für ein Kinderrecht auf Arbeit, für schulkompatible Arbeitszeiten, faire Arbeitsbedingungen und eine Krankenversicherung. Auf nationaler Ebene haben die kleinen Gewerkschaftler schon viel erreicht: Als die Verfassung 2009 unter Evo Morales an verschiedenen Punkten geändert wurde, strich Bolivien als erstes Land der Welt das Verbot von Kinderarbeit. Stattdessen heißt es nun "Ausbeutung von Kindern ist verboten".

    Guillermo, der oberste Gewerkschaftsvertreter ist 17 und arbeitet seit zehn Jahren in verschiedenen Jobs. Schmächtig ist er und wirkt auf den ersten Blick nicht gerade wie eine Führungspersönlichkeit. Seine gegelten Haare und das Schweißarmband mit dem Totenkopf scheint er zu tragen, um sich selbst ein wenig Mut zu machen. In seinen Vorstellungen aber ist er klar und fordernd.

    "Einige Kinderarbeiter schämen sich dafür, dass sie arbeiten. Aber das ist die Schuld der Gesellschaft. Denn die diskriminiert die Kinderarbeiter und denkt, sie hätten einen schlechten Charakter, würden klauen und trinken. Aber das stimmt nicht. Wir brauchen würdige Arbeit. Die Arbeit formt schließlich den Menschen und macht ihn selbst würdig. Durch unsere Arbeit haben wir eine Vorstellung von der Zukunft und wissen, was wir wollen."

    Mit Hilfe eines Anwalts haben sie einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der Kinderarbeit erlauben und Ausbeutung verhindern soll. Im Laufe des Jahres entscheidet die Regierung über das neue Arbeitsgesetz Boliviens und die Kinder wollen mitreden.

    "Wir hoffen, dass der Präsident uns unterstützt, wir hoffen mit ihm über unsere Forderungen und Vorschläge sprechen zu können. Damit die Kinderarbeit eine würdige Arbeit sein kann, damit sie keine Ausbeutung ist und damit kein Kinderarbeiter diskriminiert wird. Kinderarbeiter sollen geschützt werden und anerkannt von der Gesellschaft."

    Die Kindergewerkschaft wird von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen unterstützt, finanziell, mit Ratschlägen oder Kontakten. In Potosí sind das die Caritas und Terres des Hommes. Luz Rivera arbeitet seit zehn Jahren mit den Kindern. Die mollige, kleine Frau ist für sie Ersatzmutter, Nachhilfelehrerin und Ansporn in einem.

    "Seit zehn Jahren gibt es einen Plan zur Abschaffung von Kinderarbeit und nichts hat sich verändert. Es sind heute sogar mehr. Wenn wir mit diesen fürsorglichen Wohlfahrtsprojekten weiter machen und den Familien und Kindern keine wirklich hilfreichen Werkzeuge an die Hand geben, wird das genau so weiter gehen. Die Leute müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. Ihnen für eine befristete Zeit Essen und Geld für Schulzeug zu geben hilft da nicht."

    Die Kindergewerkschaft hat hochrangige Unterstützer, den Vizepräsidenten Alvaro Garcia Linera zum Beispiel. Aber: Würdige Arbeitsbedingungen für Kinder statt Abschaffung von Kinderarbeit, das kratzt an der Moral vieler Erwachsener. UNICEF, die internationale Arbeitsorganisation und manch Abgeordneter Boliviens sehen in einem Kinderrecht auf Arbeit eine Verletzung der Menschenrechte. Für sie ist Arbeit von Kindern gleichbedeutend mit der Ausbeutung von Kindern. So sieht es auch Elisabeth Reyes, die Präsidentin der Kommission, die in einigen Monaten den Entwurf für das neue Arbeitsgesetz vorlegen wird:

    "Wir dürfen Kinderarbeit unter keinen Umständen erlauben. Es ist eine psychologische und soziale Verletzung der Kinder, es ist Gewalt gegen die Kinder. Wir müssen den Eltern gute Jobs geben, mit denen sie auch ihre Familien ernähren können, und ein funktionierendes Sozialsystem aufbauen. Ich glaube, das ist besser als Kinderarbeit mit einem Gesetz aufzuwerten."

    Noch haben die Eltern der Kinder aber keine guten Jobs. Deshalb wollen sie heute die Bevölkerung für ihr Anliegen begeistern. Es ist der Tag des Kindes in Potosí. Die kleinen Gewerkschaftler bauen einen Informationsstand auf dem Rathausplatz auf. Cristina erklärt zwei Mitgliedern des Stadtrates, um was es hier geht. Stünde da der Präsident Morales, würde sie Forderungen stellen:

    "Ich würde sagen, dass sie unser Gesetz genehmigen sollen. Wir wollen nicht, dass sie uns diskriminieren, aber die Mehrheit der Leute diskriminiert uns, weil wir arbeiten. Sie denken unsere Arbeit ist etwas Schlechtes, aber das ist nicht wahr."

    Das hat sich anscheinend auch der Bürgermeister gedacht. Als Höhepunkt des Tages überreicht er CONATSOP eine Anerkennungsurkunde. Darin steht, dass in Potosí nun an jedem neunten Dezember der Tag der Würde der Kinderarbeiter gefeiert wird.