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Die Knastmauken bleiben

Sibylle Plogstedt hat für ihr Buch "Knastmauke" mehr als 800 frühere DDR-Häftlinge nach ihrem Schicksal befragt hat. Viele von ihnen leiden bis heute an posttraumatischen Störungen und haben Probleme im Alltag. Sie leiden unter Knastmauken - Macken aus der Haftzeit.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 23.09.2010
    "Wenn jemand an der Wohnungstür klingelt. Dann gibt's immer noch dieses unangenehme Gefühl: Ist es der Postbote oder die Staatssicherheit? Nicht rational aber emotional. Und meine Freunde wissen, die müssen sich eben anmelden. Mir ist es auch ganz wichtig, dass unser Haus eine Video-Gegensprechanlage hat. Und auch wenn ich über zehn Jahre psychotherapeutische Aufarbeitung hinter mir hab, ist es eben halt doch noch so, dass bestimmte Macken immer eben noch da sind, wie grad genannte."

    Mario Röllig wurde in der DDR politisch verfolgt. Er hatte Kontakte zu Westdeutschen, weigerte sich für die Staatssicherheit zu spionieren und wurde bei einem Fluchtversuch 1987 verhaftet. Drei Monate lang saß er in Untersuchungshaft im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen. Dann kam er durch eine Amnestie frei.

    Ähnliche und ganz andere Schicksale beschreibt die Journalistin Sibylle Plogstedt in ihrer umfassenden Studie zur heutigen Situation von ehemaligen politischen Gefangenen der DDR. Dafür hat sie nicht nur 800 Frauen und Männer per Fragebogen interviewt, sondern mit mehr als 20 Betroffenen intensive Gespräche geführt. Die aus den Fragebögen gewonnenen Daten verschränken sich mit den persönlichen Berichten zu einem soliden und beeindruckenden Gesamtbild.

    Plogstedt will in ihrem Buch "Knastmauke" zeigen, welchen Preis diese Menschen heute noch für ihr politisch abweichendes Verhalten zu DDR-Zeiten zahlen: Knastmauke - damit bezeichnen die Leidtragenden selbst die großen und kleinen Macken, die sie aus der Haft davon getragen haben. Viele von ihnen sind psychisch immer noch sehr belastet. Sibylle Plogstedt:

    "Von den Häftlingen, die ich interviewt habe, waren unglaublich viele suizidgefährdet, haben sehr viele auch Tabletten genommen gegen Suizid, also Psychopharmaka. Und es hatten auch einige Suizidversuche gemacht, und da wussten zum Teil nicht mal die Verwandten, dass es die gegeben hatte. Einer der Häftlinge hat auf dem Turm in Jena gestanden und wurde dort runtergeholt. Also sehr auffällig und sehr sichtbar. Er wurde gerettet, aber es ist nie klar, wann er es wieder tut. Und das ist das Drama und der Druck, unter dem die dann weiterhin stehen. Das zeigt sehr deutlich, wie lange das wirkt."

    Der Psychotherapeut Stefan Trobisch-Lütge bestätigt diesen Befund. Er leitet in Berlin eine bundesweit einzigartige Beratungsstelle für politisch Verfolgte aus der DDR-Zeit. Bei "Gegenwind" steht all jenen die Tür offen, die etwa unter der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Diese tritt – bei manchen auch erst viele Jahre nach dem verstörenden Erlebnis - als Depression, Angsterkrankung oder in Form verschiedener körperlicher Symptome zutage.

    Rund 200.000 Menschen sind in der DDR zwischen 1949 und 1989 aus politischen Gründen inhaftiert worden – manche, weil sie in den Westen fliehen wollten, andere, weil sie nicht systemkonform dachten oder handelten. Heute noch lässt ihre "Knastmauke" die Betroffenen im Alltag häufig scheitern. Stefan Trobisch-Lütge:

    "Das drückt sich dann für diese Menschen so aus, dass sie im sozialen Bereich große Schwierigkeiten haben, sprich meist nicht arbeitsfähig sind. Im familiären Bereich große Probleme haben, dauerhafte und befriedigende Beziehungen zu führen, und da versuchen wir dann natürlich Hilfen zu geben."#

    Während sich andere Studien bisher auf weniger Teilnehmer gestützt haben, regional begrenzt waren oder sich inhaltlich auf einen Schwerpunkt konzentrierten, versucht Sibylle Plogstedt ein breites Bild zu entwerfen. Sie wertet nicht nur die gesundheitliche, sondern auch die finanzielle Situation der politisch Verfolgten aus, fragt ob und welchen Berufen sie heute nachgehen und wie sich ihre sozialen Netze gestalten:

    "Die finanzielle Situation war eigentlich das Dramatischste. Dass ein großer Teil dieser Häftlinge von Hartz IV lebt. Ein Beispiel ist für mich da eine junge Frau, die damals unbedingt zu einem Konzert der Rolling Stones in die Waldbühne wollte. Die ist unter dem Stacheldraht durch gerobbt, hat sich völlig blutig gemacht, war bei diesem Konzert. Und dann hat sie Heimweh gepackt und sie ist wieder zurückgegangen in die DDR und daraufhin ist sie verurteilt worden wegen zweifachen gewaltsamen Grenzdurchbruchs. Also diese Frau hat dann gearbeitet als Toilettenfrau ganz lange. Dann kam irgendwann Hartz IV. Es sind Bedingungen, wo man sagen kann: Das ist unwürdig."

    Die berufliche Reintegration nach der Haftzeit hing davon ab, ob jemand nach den psychischen und physischen Belastungen in der Lage war, einer geregelten Arbeit nachzugehen - nach der Unterbringung in Einzelhaft, in Dunkel- und Nasszellen, nach zermürbenden Verhören und Bespitzelung. Außerdem, sagt Plogstedt, war entscheidend, wohin man nach der Haft entlassen wurde. 49 Prozent der befragten politischen Nachrichten kamen in den Westen:

    "Das ist wichtig, wie die Gesellschaft auf die Haft reagiert hat. Die westliche Gesellschaft hat erstmal keine Barrieren gebaut. Sie hat versucht, einige in Berufen unterzubringen."

    Anders in der DDR. Sibylle Plogstedt:

    "Diejenigen, die in normalen Berufen unterkommen wollten, die wurden von einem Beruf zum anderen geschickt und oft gar nicht genommen. Da kam immer wieder eine Ablehnung. Ich habe einen Einzigen gefunden, der sogar nach der Haft noch Karriere gemacht hat, der wurde dann quasi Leiter einer Brotfabrik und dem geht es heute mental noch recht gut. Alle anderen, weil sie sich dann auch in der DDR immer schon rumgeschlagen haben, haben damit weiterhin Probleme."

    Der 42-jährige Mario Röllig erzählt, er habe "großes Glück" gehabt. Zwar stieß er 1999 unerwartet auf seinen ehemaligen Peiniger von der Stasi, brach daraufhin zusammen und kam in die geschlossene Psychiatrie.

    Doch weil er dann häufig stationär behandelt werden musste, erreichte er 2003, was nur wenigen politisch Verfolgten vergönnt ist: Seine Haftschäden wurden anerkannt. Seitdem bekommt er außer der Rente für Erwerbsunfähige einen Ausgleich für den entgangenen Lohn. Mario Röllig:

    "Ich bin ja nach wie vor berentet und das hat den Grund, dass ich nicht in der Lage bin, mich mehr als zwei Stunden täglich so halbwegs wenigstens zu konzentrieren. Diesen Luxus haben eben andere nicht. Es ist eben ein starker Kampf, diese Haftschäden begutachtet zu bekommen, dass es auch einigermaßen gerecht ist."

    Deshalb fährt die Beratungsstelle Gegenwind mehrgleisig. Sie hilft nicht nur mit Therapie und Selbsthilfegruppen, sondern auch, den Alltag auf pragmatische Weise besser zu meistern: Rentenanträge auszufüllen oder Gutachten einzuholen. Weil infolge der Haft außerdem viele Beziehungen kaputt gehen, beziehen die Therapeuten auch die Angehörigen in die "soziale Stabilisierung" mit ein.

    Allerdings hätten seine Klienten nicht nur mit ihren persönlichen Problemen zu kämpfen, sie müssten auch einem gesellschaftlichen Umfeld voller Vorurteile die Stirn bieten, sagt Stefan Trobisch-Lütge:
    "Es gibt durchaus Menschen, die mittlerweile soweit sind, dass sie sagen können: Ich bin stolz darauf, dass ich mir nicht alles hab gefallen lassen. Ich bin auch stolz darauf, dass ich diese großen Schwierigkeiten auf mich genommen haben. Aber bei vielen ist es doch so, dass im Grunde das Potential an Beschämung, dass man überhaupt mal im Knast gesessen hat, das ist schon sehr groß. Und das kriegt man auch nicht so schnell weg."

    Mario Röllig schreibt ein Buch über seine Geschichte. Mehrmals im Monat führt er Besucher durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen - sein früheres Gefängnis. Das heilt, wie er sagt. Aber nach wie vor bestimmt die gescheiterte Flucht aus der DDR sein Leben – und seine Träume:

    "Und dummerweise wache ich morgens immer noch auf und hab's nicht geschafft. Und ich hoffe, irgendwann kommt mal der Moment, wo ich morgens aufwache und dann bin ich endlich über diese Grenze rüber. Und ich glaube, das wäre das größte Glück für mich."


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