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"Die Koalition hat den erwarteten Kuhhandel geliefert"

Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, bemängelt, dass die Regierungskoalition sich in ihren Gesprächen nicht auf einen ausgeglichenen Haushalt einigen konnte. Gegen das nun beschlossene Betreuungsgeld will die SPD vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Thomas Oppermann im Gespräch mit Friedbert Meurer | 05.11.2012
    Friedbert Meurer: Jetzt haben wir die Verbindung zu Thomas Oppermann, dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Wir wollen wissen: Wie reagiert denn die Opposition auf die Beschlüsse von gestern Abend im Bundeskanzleramt, die der Koalitionsausschuss nach einer Marathonsitzung gefunden hat? Guten Morgen, Herr Oppermann!

    Thomas Oppermann: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Müssen Sie eingestehen, die Koalition kann doch noch liefern?

    Oppermann: Die Koalition hat den erwarteten Kuhhandel geliefert, nach dem Motto: Schenkst du meiner Tante was, kriegt auch deine Tante was. Das ist keine große Leistung, die da gestern Nacht vollbracht worden ist, sondern wir müssen ernüchtert feststellen: Es gibt trotz zwei Jahren von Rekordsteuereinnahmen in Folge keinen ausgeglichenen Haushalt. Stattdessen wird ein bisschen getrickst beim Gesundheitsfonds und bei der Bank für Gemeinwirtschaft, um einen strukturell ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen. Stattdessen wird in die Kasse gegriffen. Zulasten der Steuerzahler werden Wahlgeschenke finanziert. Das Betreuungsgeld kommt, gegen den Rat der Experten, gegen den Willen der Wirtschaft, gegen die Interessen der Menschen.

    Meurer: Bevor wir über die einzelnen Punkte reden - Entschuldigung, Herr Oppermann: die Neuverschuldung. Die Schuldenbremse sagt, ab 2016 das strukturelle Defizit auf null ziehen; jetzt soll das ab 2014 der Fall sein. Muss man da nicht doch sagen, immerhin, ab 2014 die schwarze Null?

    Oppermann: Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass wir im Augenblick, was die Steuereinnahmen betrifft, die beste aller Zeiten haben. Wir hatten Rekordsteuereinnahmen im letzten Jahr, wir haben einen neuen Rekord in diesem Jahr. Und wenn es in solchen Jahren nicht einmal gelingt, den Haushalt echt auszugleichen und nicht nur strukturell, wie es die Koalition sagt, nicht nur die Erfordernisse der Schuldenbremse zu erfüllen, sondern wirklich einen ausgeglichenen Haushalt, das heißt, es werden keine Ausgaben mehr mit zusätzlichen Krediten finanziert, das muss eigentlich das Ziel sein. Das wäre möglich gewesen, wenn die Koalition insgesamt in dieser Wahlperiode auf Klientelpolitik und Wählergeschenke verzichtet hätte. Aber das hat sie nicht gemacht. Das heißt, sie ist nicht solide, sie mogelt sich durch, sie will irgendwie sehen, wie sie an das Ende der Wahlperiode kommt. Und deshalb ist ihr nichts Besseres eingefallen, als jetzt noch mal den Rollgriff in die Steuerkasse zu machen.

    Meurer: Mag ja sein, dass vor allen Dingen die CSU vor allen Dingen das Betreuungsgeld wollte. Haben aber nicht viele Eltern etwas davon?

    Oppermann: Am Ende nicht, denn es gibt ja keine Wahlfreiheit. Es fehlen in Deutschland noch mehrere Hunderttausend Kitaplätze. Die könnten wir übrigens finanzieren mit dem Geld, das jetzt für das Betreuungsgeld ausgegeben wird. Für die Mütter, die berufstätig sind, ist es wichtig, dass sie eine verlässliche Betreuungs- und Bildungseinrichtung für ihre Kinder haben. Wir geben jetzt Geld aus für Kinder, die zuhause bleiben. Das ist nicht vernünftig. Wir verschenken Förderchancen und Entwicklungschancen für die Kinder, die sie in solchen Betreuungseinrichtungen haben. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung. Und im Übrigen: Es entspricht dem Familienbild der CSU, und das ist ein Familienbild der 50er-Jahre und nicht des 21. Jahrhunderts.

    Meurer: Manche empfinden das aber einfach als fairen Ausgleich: Die einen bekommen Elterngeld, schicken die Kinder in die Kitas, die anderen das Betreuungsgeld. Was soll daran so falsch sein, dass Sie vor das Bundesverfassungsgericht gehen?

    Oppermann: ..., weil wir nicht genügend Geld für Kitaplätze haben. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, jetzt Milliarden für Betreuungsgeld auszugeben. Das ist bildungspolitisch völlig verkehrt. Außerdem beeinträchtigt es die Wahlfreiheit der Eltern. Es gibt ja keine echte Wahlfreiheit.

    Meurer: Wird das der Hebel für Karlsruhe sein?

    Oppermann: Für Karlsruhe ist der Hebel ein Gutachten, das wir zum Betreuungsgeld in Auftrag gegeben haben. Und das sagt ganz klar: Hier ist ein Eingriff in die Wahlfreiheit der Eltern. Man darf den Eltern nicht zusätzliche Anreize geben, damit ihr Kind von Bildungseinrichtungen fern bleibt. Im Übrigen gibt es keine echte Wahlfreiheit, weil wir nicht genügend Kitaplätze haben.

    Meurer: Anderes Thema, Herr Oppermann: Sind Sie froh, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird?

    Oppermann: Das ist jedenfalls eine richtige Entscheidung. Die habe ich erwartet, die haben wir auch gefordert. Die Praxisgebühr hat am Ende die Patienten und die Arztpraxen nur noch belastet, sie war überflüssige Bürokratie. Die zwei Milliarden den Patienten zurückzugeben, das ist eine richtige Entscheidung. Das haben wir aber seit Wochen auch schon gefordert. Dass die Koalition das jetzt endlich auch macht, was vernünftig ist, nun gut. Das müssen wir zugestehen, das haben sie immerhin geschafft. Aber es war nur möglich als Gegenleistung zur Einführung des unsinnigen und falschen Betreuungsgeldes.

    Meurer: Thomas Oppermann, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk zu den Ergebnissen gestern Abend des Koalitionsausschusses in Berlin. Herr Oppermann, besten Dank und auf Wiederhören.

    Oppermann: Ich danke auch, Herr Meurer.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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