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"Die Korruption ist nur noch schlimmer geworden"

Die Kommunistische Partei Chinas sei fast erstarrt in einem Status quo, kommentiert der Publizist Shi Ming. Das Volk fordere aber Veränderungen, es wolle nicht mehr warten.

Shi Ming im Gespräch mit Doris Simon | 09.11.2012
    Doris Simon: Wir haben es gerade gehört: Kontrollwahn in Peking. Die Angst der Kommunistischen Partei Chinas, irgendetwas könnte den von vorne bis hinten durchorchestrierten Ablauf des 18. Parteitages stören, die ist allgegenwärtig in der chinesischen Hauptstadt in diesen Tagen. Dennoch ist nicht bestätigt, was längst beschlossene Sache ist: Xi Jinping soll der neue starke Mann im Land werden, also Staats- und Parteichef. – Bei mir im Studio ist jetzt Shi Ming, Journalist und China-Kenner. Schön, dass Sie da sind. Guten Morgen!

    Shi Ming: Guten Morgen.

    Simon: Repression, Kontrollwahn, Angst vor Überraschung – ist das alles wie immer bei kommunistischen Parteitagen in China, oder ist da doch deutlich mehr Nervosität im Staats- und Parteiapparat dieses Mal? Was ist Ihr Eindruck?

    Shi Ming: Es ist deutlich nervöser geworden, dieser Apparat. Dieser Apparat fühlt sich auch schon am ersten Tag bestätigt bei dieser Nervosität. Da war eine einzelne Frau auf dem Platz des himmlischen Friedens. Sie hatte eigentlich nur einen Satz, fast nur einen halben ausgerufen, nämlich: "Ich habe Sehnsucht nach ihm." Und sie konnte nicht benennen, nach wem sie Sehnsucht hatte, schon wurde sie verhaftet, denn sie könnte meinen, sie habe Sehnsucht nach dem Vorsitzenden Mao, der ja auf dem Platz liegt, sie habe vielleicht Sehnsucht nach dem abgestürzten oder gestürzten Generalsekretär Cao Zeyang, ein Reformer, sie habe vielleicht Sehnsucht nach irgendjemandem, nach ihrem verstorbenen Mann. Und dieser Einzelfall zeigt, wie nervös die Partei schon geworden ist. Man darf also an empfindlichen Stellen die Leute gar nicht zu Ende reden lassen, und schon muss man sie abführen. Dass die Angst so groß ist, das kennzeichnet auch diesen Parteitag in seinem Inhalt drinnen. Als der politische Bericht vorgelesen wurde, da saßen die alten Männer von den Vor-Vorregierungen alle noch auf Ehrenplätzen. Sie achteten mit Argusaugen darauf, dass da nichts schiefgeht und dass da niemand aus der Reihe tanzt.

    Simon: Eins der großen Probleme der KP Chinas: vor allem in den letzten Monaten sind ja etliche Skandale bekannt geworden, ist die überall grassierende Korruption. Der scheidende Staats- und Parteichef Hu Jintao hat ja eine flammende Rede gehalten und hat gesagt, das müsse man energisch bekämpfen, sonst werde das zum Kollaps von Partei und Staat in China führen. Erwarten Sie von den neuen starken Leuten, dass die wirklich was tun, denn die müssten ja zuerst in der Partei anfangen?

    Shi Ming: Ich erwarte erst mal nichts, was sie gegen die Korruption tun werden, denn das, was Hu Jintao von sich gegeben hat, hatte vor ihm sein Vorgänger Jiang Zemin tausendmal besser dargestellt, der Kampf gegen die Korruption, wie wichtig das alles ist. Die Korruption ist nur noch schlimmer geworden und wird auch schlimmer. In diesen Tagen kursieren jetzt wieder neue Gerüchte, welche Kaderfamilien wie große Vermögen wo wieder angehäuft haben über welche Wege. Noch sind es die Gerüchte, aber wie oft in der Vergangenheit werden diese Gerüchte später als Wahrheit bestätigt, wie jetzt beim noch amtierenden Ministerpräsidenten, auch bei Xi Jinping, der neue Mann. Über ihn liegt ein Bericht bei dem Fernsehsender Blomberg vor, auch seine Familie habe schon eine halbe Milliarde Dollar angehäuft. Also wie sollte der neue Mann jetzt die Partei anführen, genau in diesem Punkt gegen sich selber anzukämpfen?

    Simon: Erwarten denn die Chinesen irgendetwas von dem neuen Mann?

    Shi Ming: Lassen Sie es mich vielleicht so formulieren: Die Chinesen sind nicht mehr in der Erwartung, sondern sie fordern. Und die Forderungen sind sehr gespalten. Die einen fordern eine gewisse egalistische Gesellschaftsordnung, weil das Gefälle zwischen Arm und Reich zu groß geworden ist. Sie fordern bessere Sozialvorsorge, soziale Absicherungen, wo die Staatskassen alle nur leer sind, die Verschuldung steigt und steigt. Die anderen fordern genau eine radikalere Liberalisierung der Märkte, zum Beispiel von Privatisierung von Grund und Boden war lange Zeit die Rede. Weder das eine, noch das andere kann der Parteitag, kann die Parteiführung, kann der neue Mann irgendwie noch in die Wege leiten. Die Partei bleibt fast erstarrt in einem Status quo, von dem alle nur fordern, das muss jetzt anders werden. Aber niemand erwartet wirklich, dass das anders wird.

    Simon: Der scheidende Staats- und Parteichef hat ja noch mal betont, man werde niemals ein westliches System kopieren. Sucht China noch die Konfrontation mit dem Westen in Sachen Modell, Gesellschaftsmodell?

    Shi Ming: Wenn man ganz genau seinen Bericht liest, dann fällt einem, der vielleicht China seit zwei, drei Jahren verfolgt, richtig auf: Der Parteichef sagte zwar deutlich, wir übernehmen kein Modell, aber er betont mit keinem Wort noch, was vor ihm und mit ihm wahrscheinlich auch jeder chinesische Spitzenpolitiker seit Jahren betont hat, nämlich ein chinesisches Modell hochzuhalten. Von dem chinesischen Modell ist keine Rede mehr, allenfalls noch ganz leise von einem chinesischen Weg. Das mag vielleicht eine Wortklauberei sein, aber dahinter steckt eben die schwindende Zuversicht, wirklich in der Art zu bleiben, wie man die Sache immer schon angegangen ist. Man verspricht jetzt Dinge, die man eindeutig nicht einhalten kann. Man verspricht zum Beispiel eine Verdoppelung der Einkommen aller Chinesen. Das ist utopisch, das geht gar nicht, außer wenn man eine Hyperinflation riskiert, wenn man die Notenpresse anschmeisst. Diese nach außen donnernde Stimme, wir übernehmen von euch kein Modell mehr, ist eine angstvolle Bestätigung, wir könnten das Schicksal gar nicht vielleicht vermeiden, irgendwann doch von eurem Modell etwas abzuschneiden.

    Simon: Ist denn China noch irgendwie sozialistisch? Es geht ja um den 18. Parteitag der Kommunistischen Partei.

    Shi Ming: China ist mit keinem einzigen Deut noch sozialistisch. Die sozialen Versicherungen, die scheitern alle, die Rentenkasse hat jetzt schon eine Lücke, die der Staat gar nicht schließen kann, trotz der Devisenreserven. China ist auch deswegen nicht mehr sozialistisch, weil niemand wirklich daran denkt, für die Schwächeren noch zu sorgen. Auch wenn die Partei es erklärt, sie wollen den Armen unter die Arme greifen - das hat ihre Vorgängerregierung tausendmal erklärt -, die Armen werden nur noch immer ärmer.

    Simon: Ganz kurz zum Schluss: Das klingt so, als ob der Staat längst nicht so stabil ist, wie wir oft meinen.

    Shi Ming: Ja. Der Staat ist auch deswegen so nervös geworden, weil der Staat sich auch instabil fühlt.

    Simon: Ganz herzlichen Dank für diese Einschätzung. Das war bei uns im Studio der Journalist und Publizist Shi Ming.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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