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Die Kultur der Niederlage

Es war wohl an der Zeit für die Grundsatzfrage, wie wir mit Niederlagen umgehen - nachdem der liberale Zweckoptimismus zwei Jahrzehnte lang solche Themen an die Miesmacher delegiert hatte. Arbeitslose, Börsencrashs, Währungskrisen, der neue Markt und der 11. September haben am Selbstbewusstsein der Industrienationen genagt - jede Menge Handbücher hatten angestiftet zum positiven Denken, aber was wissen wir über den Umgang mit Niederlagen?

Eike Gebhardt | 10.04.2002
    Zwei Typen des Niederlagendenkens unterscheidet Schivelbusch: die 'betroffene' Selbstreflexion des Verlierers und die beobachtende Reflexion des unbeteiligten Dritten.

    Diese Selbstreflexion des Verlierers ist ungemein facettenreich - von Verdrängungskünsten bis zur Mythenbildung, von moralischer Selbststilisierung bis zu Lerneffekten und Aufbruchstimmung.

    Und offenkundig gibt es vergleichbare Phasen in der kollektiven Psyche nach einem verlorenen Krieg in fast allen westlichen Kulturen - S untersucht drei davon: den amerikanischen Bürgerkrieg, den deutsch-frz. Krieg 1870/71, und den ersten Weltkrieg.

    Überraschend sei dabei die oft beobachtete kurze Dauer der Verlierer-Depression und ihr Umschwung in eine eigentümliche Euphorie. Die Ursache hierfür ist in der Regel der dem militärischen Zusammenbruch folgende innere Umsturz. Die Absetzung des alten Regimes und seine Umwandlung in den Sündenbock für die Niederlage werden dann als Sieg sui generis erlebt.

    Typisch dafür sei z.B. die Weimarer Zeit mit ihrer kulturellen Dichte und Turbulenz, bis hin zu den Tanzmanien. Zwar deckt sich diese Diagnose nicht ganz mit Ss Beobachtung, diese Übergangs- bzw. "Traumlandperiode" dauere gewöhnlich einige Wochen oder Monate", dennoch macht dieses Raster viele Phänomene der Zeiten nach einer Niederlage erklärlich: Die Entladung von Spannungen ins Motorische, wie ein zeitgenössischer Arzt diagnostizierte. Dazu gehört wohl auch die Tatkraft, mit der überfällige Umstürze bewerkstelligt werden - bequemerweise lassen sie sich ja mit der Niederlage legitimieren: Die Herrschenden haben uns ins Unglück geführt. Allerdings funktioniert just dieses Muster auch spiegelbildlich bei der Reaktion, wenn die Umstürzler scheitern - die Dolchstoß-Legende bietet das beste Beispiel; später wird die Reaktion in den USA das Muster aufgreifen und erklären, der Vietnamkrieg sei an der Heimatfront verloren worden, durch die Medien.

    Im Felde ungeschlagen - daraus lässt sich eben auch die moralische Überlegenheit über den Sieger ableiten, der nur aufgrund materieller Überlegenheit die Moral, das Recht und sogar das überlegene militärische Geschick des Verlierers einfach niedergewalzt habe:

    Der große und einzige Trost aller Verlierer ist ihre Überzeugung, den Neumächtigen kulturell und moralisch überlegen zu sein.

    Der Topos vom Fluch des Sieges und der sittlichen Läuterung durch die Niederlage glaubt Schivelbusch, ist eine Verbindung von antikem Hybris- und christlichem Demutsgedanken, Katharsis und Apokalypse. Dass er seinen größten Wirkungsgrad in den Kreisen der Intelligenz hat, erklärt sich zum einen mit dem klass. Bildungshintergrund, mehr aber wohl noch mit ihrem ambivalenten Verhältnis zur Macht. Die eigenen Machthaber - oder Väter - von / Mächtigeren überwältigt zu sehen erfüllt die intellektuellen Söhne mit einer tiefen Befriedigung.

    Das ist Psycho-Historiographie eher der populären Art. Genau so gut - und genauso populär-psychologisch - könnte man argumentieren, dass sie ihre Rolle als sog. "abhängige Rebellen" (so der terminus technicus) durch den Sieg einbüßen, das heißt den Verlust dessen erleben, dem sie die Chance zu kritischer Gegnerschaft verdanken.

    Dennoch: Krisen sind Herausforderungen für Intellektuelle - und sei es nur, um rhetorische Legitimationsstrategien zu entwickeln - gewissermaßen als Kampf der Kulturen. So ging es auch den amerikanischen Nordstaatlern im Bürgerkrieg - Lincoln allen voran - durchaus nicht durchweg um die Abschaffung der Sklaverei: Die moralische Überhöhung eines politischen Feldzugs war vielmehr Teil der Propaganda, denn auch im Norden wuchs das Unbehagen an der eigenen kruden materialistischen Kultur samt der Bewunderung für die südliche, verfeinerte, quasi europäische Gentleman-Kultur. Gerne griff diese das Angebot auf:

    Weniger als absoluten Wert stellten die Pro-Sklaverei-Theoretiker ihre Sache dar denn als Alternative zum ungebändigten Ausbeuter-Kapitalismus des Nordens. [...] Solche Mythen einten auch die zerspaltenen Franzosen, die im Namen der Zivilisation den Krieg den das barbarische Deutschland führten. Unter der Fahne des ideologisch neutralen Zivilisationsbegriffs konnten Katholiken und Republikaner nicht nur eine gemeinsame Front gegen den 'Barbaren' Deutschland bilden, s. zugleich die Revanche zur Sache der gesamten zivilisierten Welt erklären.

    Zudem war, so Schivelbusch,

    für Frankreich ... der Zusbruch von 1870 kein Absturz ins Bodenlose. Er wurde aufgefangen von einem in 200 Jahren europäischer Hegemonie gewachsenen nat. Selbstbewusstsein. Den Verlierern von 1918 fehlte eine derartige Tradition. [...] So erklären sich die [deutschen] Reaktionen im Moment des Bekanntwerdens des militärischen Unterliegens. Nicht männliche Gefasstheit,, wie es das heldische Selbstverständnis erwarten ließ, bestimmte das Bild, sondern Fassungslosigkeit bis hin zum regelrechten Ohnmachtsanfall und Nervenzusbruch.

    Schivelbuschs Raster berufen sich nicht ausdrücklich auf die Methode der Psycho-Historiographie - und doch beschwören sie oft eine Art kollektiver Psyche: Die ... Forderung [Präsident Wilsons] nach Abschaffung der Militärmonarchien Mitteleuropas [war] nichts anderes als die Wiederholung der Forderung des Abolitionismus nach der Abschaffung der Sklaverei, glaubt Schivelbusch.

    Der Weltkrieg hatte in dieser Beziehung für die USA eine ähnliche Funktion wie für Deutschland der Krieg gegen Frankreich 1870/71, der mit einem Schlag das Trauma des Deutsch-Deutschen Krieges von 1866 heilte.

    Bei derartig großräumigen Vergleichen drängt sich die Frage auf, wie man denn solchen Befindlichkeiten und Motiven auf die Spur kommt. Hier wirkt das enzyklopädische Interessen-Spektrum des Autors als fruchtbarer Nährboden für Hypothesen. Bei den Süd- und Nordstaaten der USA z.B. beschwört Schivelbusch einen Mentalitätsunterschied, den er z.T. in der Manier Montesquieus auf klimatische Unterschiede zurückführt:

    Der auf Arbeit, Gelderwerb und rel. Moral fixierte Yankee wurde die Verkörperung Neuenglands, der lebens- und genußfreudige Gentleman der Repräsentant des Südens.

    Sogar der These, der Bürgerkrieg sei die Konsequenz einer bestimmten Romanlit. Gewesen, konzediert der Autor einen Kern von Wahrheit. Tatsächlich spielten ... die Werke Walter Scotts bei der Formung der Mentalität des Südens in den Vorkriegsjahrzehnten eine bedeutsame Rolle, und Harriet Beecher Stowes Onkel / Toms Hütte trug wesentlich dazu bei, die öff. Meinung im Norden gegen die Sklaverei zu mobilisieren.

    Wieweit man solche Folgerungen tatsächlich aus dem Quellenmaterial ziehen und wieweit man diese auf eine kollektive Psyche hochrechnen kann bzw. diese gar zum handelnden Subjekt gerinnen, muss offen bleiben. Sicher aber sind S hier durch seinen fachübergreifenden Ansatz manch hochoriginelle Hypothesen gelungen, die wir bei den Geschichtsphilosophen so vergeblich suchen würden wie bei den Spezialisten: Einsichten, wie ein Laudator zum 60. Geburtstag des Autors schrieb, in die Formung der Menschen durch überwältigende Erfahrungen. Die Verarbeitung der Ereignisse ist bedeutungsvoller als die Ereignisse selbs. Politische Geschichte als Kulturgeschichte, als Geschichte von Themen, Mythen und Leitmotiven. Und da es um alle Schichten (und deren Geschichten) geht, sprengt es die Grenzen der Psycho-Historie wie auch der Mentalitätsgeschichte: Das Modell sei den Historiographen ans Herz gelegt.