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"Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning"
Die Spitze einer neuartigen Protestkultur

In seinem Essay "Die Kunst der Revolte" nimmt Geoffrey de Lagasnerie das Auftreten und die Denkweise von Whistelblowern unter die Lupe. Dabei fokussiert sich der französische Philosoph und Soziologe auf Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning. Die drei zeigten eine neue Form des Widerstands gegen die Disziplinarmacht der modernen Demokratie, so de Lagasnerie.

Von Matthias Eckoldt | 19.04.2016
    Bronzeskulpturen sind aufgebaut und stehen auf drei Stühlen (Snowden, Assange, Manning). Ganz links steht der Künstler Davide Domino.
    Snowden, Assange, Manning als Bronzeskulpturen des Künstlers Davide Domino. (imago/Sven Ellger)
    Es ist sicher nicht abwegig, im Autor von "Die Kunst der Revolte" einen Wiedergänger des großen französischen Denkers Michel Foucault zu sehen. Allein die äußerlichen Parallelen sind vielfältiger Natur. Geoffroy de Lagasnerie ist wie Foucault bereits in jungen Jahren zum Professor berufen worden, setzt sich öffentlich für die Rechte von Randgruppen – wie Homosexuellen und Einwanderern – ein und gehört zu einem erlesenen Kreis kritischer Pariser Intellektueller. Auf philosophischer Ebene sind die Ähnlichkeiten noch wesentlich auffälliger. Denn im Fokus des Denkens steht bei Lagasnerie – wie einst bei Foucault – das Interesse für die nichthinterfragten Aspekte der Machtausübung. Das, was man gemeinhin als selbstverständlich nimmt, gilt ihm als suspekt. Mit geistiger Kühnheit deckt er die untergründig wirkenden Logiken des Gesellschaftszusammenhangs auf. Dabei bezieht er sich immer wieder auch explizit auf Michel Foucault. Drei Namen bilden den Untertitel von "Die Kunst der Revolte": Snowden, Assange, Manning.
    "Sie sind die Protagonisten eines Augenblicks, der die Fundamente, auf denen wir stehen, erschüttert, die Dispositive, die unsere Gegenwart bestimmen. Infolgedessen gestatten sie uns, etwas Neues zu denken und unsere traditionellen Denkweisen infrage zu stellen."
    Undemokratische Sphäre im Zentrum der demokratischen Gesellschaft
    Zu Beginn seiner Untersuchung nimmt sich Lagasnerie die Rede vom Staatsgeheimnis vor, dessen Autorität Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning auf je eigene Weise angehen. Ganz foucaultianisch fragt er danach, was eigentlich durch den Gebrauch des Wortes ‚Staatsgeheimnis‘ verborgen werden soll? Seine Antwort ist unmittelbar einleuchtend: Es geht hier um einen Akt der Enteignung. Indem bestimmte Sachverhalte zu Staatsgeheimnissen erklärt werden, verlieren sie ihren öffentlichen Charakter. Diese mehr oder minder willkürliche Art der Privatisierung der Information durch den Staat entzieht den Regierten die Fähigkeit, die Regierenden zu kontrollieren.
    Damit aber existiert im Zentrum einer demokratischen Gesellschaft eine völlig undemokratische Sphäre. Wer dieses Informationsprivileg des Staates antastet, wird als Staatsfeind behandelt. Wie Chelsea Manning, für die der Staatsanwalt 60 Jahre Haft forderte, nachdem sie Videos an WikiLeaks weitergab, in denen die Ermordung irakischer Zivilisten durch die US-Streitkräfte zu sehen ist.
    Subjektivierungsmodus lehnen Whistleblower ab
    Lagasnerie bleibt an dieser Stelle noch lange nicht stehen und mischt sich in die Theoriedebatte der politischen Philosophie ein, in der die Aktivitäten von Assange, Snowden und Manning als ziviler Ungehorsam gedeutet werden. Dass ihre Handlungen darüber weit hinausgehen, macht er durch eine elegante begriffliche Analyse deutlich. Ziviler Ungehorsam stellt demnach keine Anfechtung der Rechtsordnung dar, sondern ist eine Protestform gegen gesellschaftliche Zustände, die nach der immer gleichen Sequenz abläuft:
    "Ungehorsam sein, sich verhaften lassen, bestraft werden."
    Wer zivilen Ungehorsam leistet und sich beispielsweise an die Bahnschienen kettet, um einen Atommülltransport zu behindern, will als Rechtssubjekt wahrgenommen werden. Diesen Subjektivierungsmodus lehnen die Whistleblower gerade ab, und Julian Assange eröffnet ihnen mit Wikileaks den Raum dazu. Somit wird Öffentlichkeit und Politik entkoppelt. Man kann politisch handeln und trotzdem anonym bleiben. Für die Hackergruppe Anonymus wurde der Begriff sogar namensgebend. Hier sieht Lagasnerie einen Epochenbruch in der Art des Politischen. Denn wenn man aus dem Verborgenen heraus politisch handeln kann, wird eine weitere Frage zentral: Warum sollte politisches Handeln den Handelnden eigentlich etwas kosten? Warum soll er Geld und Freiheit riskieren, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen?
    "Warum hätte beispielsweise Chelsea Manning öffentlich erscheinen und ihre Laufbahn in der Armee aufs Spiel setzen sollen, als sie die Zunahme von illegalen Verstößen innerhalb der Armee festgestellt hat? Sie ist für diese Fehlfunktionen nicht verantwortlich."
    Dass Manning schließlich doch verhaftet wurde, geht auf eine Denunziation zurück. Bei Edward Snowden freilich liegt der Fall anders. Ihm war es sogar wichtig, nicht anonym zu bleiben. Dieser Umstand hebelt jedoch den Untersuchungsgang nicht aus, sondern befeuert eine weitere, überraschende These von Lagasnerie. Denn Snowden flüchtet aus dem US-amerikanischen Rechtsraum, bevor er sich outet. Für Lagasnerie macht diese Handlungsweise deutlich, dass die gesamte westliche Rechtsauffassung auf einer zufälligen und an sich bedeutungslosen Tatsache ruht. Denn Staatsbürger wird man nur in Ausnahmefällen aufgrund einer bewussten, politischen Entscheidung.
    Konzeption einer neuen Form des Widerstands
    In der Regel jedoch entscheidet die Geburt über die Staatszugehörigkeit. Somit liegt der Grundsatz von Recht und Politik aber außerhalb der politischen und rechtlichen Sphäre. Der Einzelne wird somit dem Normensystem einer Gesellschaft ohne seine ausdrückliche Zustimmung unterworfen. Sich seiner Nation nicht mehr zugehörig zu erklären, bedeutet für Lagasnerie einen Akt der Aufhebung der Unterwerfung. Hier findet das Buch "Die Kunst der Revolte" seinen furiosen, intellektuellen Höhepunkt. Denn der Autor entwirft eine Konzeption einer neuen Form des Widerstands gegen die Disziplinarmächte der modernen Demokratien. Lagasnerie sieht in den pluralen, flüchtigen, frei gewählten und nicht von der Geburt bestimmten Gemeinschaften, die sich im Internet bilden, eine Gegenwelt heraufdämmern. Aus dieser Perspektive sind Snowden, Assange und Manning nur die Spitze des Eisbergs einer völlig neuartigen Protestkultur, die von Menschen getragen wird, die sich von den herkömmlichen Straf- und Sozialisationsmechanismen völlig unbeeindruckt zeigen und sie gekonnt unterlaufen.
    Diese Interpretation der neuen Kunst der Revolte liest sich überzeugend. Besonders eingängig dabei ist die Dimension der Hoffnung, die der Autor möglicherweise sogar unbewusst stiftet. Denn die Internetaktivisten und Whistleblower machen durch ihre Handlungsweise deutlich, dass die digitale Welt nicht nur die technischen Möglichkeiten für die Überwachung, sondern zugleich auch für die Subversion liefert. Um Macht im Internetzeitalter so anregend, scharfsinnig und erhellend neu zu denken, muss man wahrscheinlich nicht nur ein Wiedergänger Foucaults sein, sondern wohl auch – wie Lagasnerie – einem Jahrgang oberhalb von 1980 angehören.
    Geoffroy de Lagasnerie:
    Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning
    Aus dem Französischen von Jürgen Schröder, Suhrkamp, 160 Seiten, 19,95 Euro