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Die Kunst, kein Egoist zu sein

Wir leben in Krisenzeiten: Beunruhigt und seines inneren Gleichgewichts beraubt fühlt sich der Bürger angesichts von Globalisierung, Erderwärmung oder Umweltzerstörung. Politiker aller Couleur erscheinen immer weniger glaubwürdig, mehr am eigenen Vorteil der Durchsetzung ihrer Weltsicht interessiert als am Wohl des Ganzen. Und vor allem ist da die Wirtschaftskrise. Sie machte den Industriegesellschaften plötzlich klar, dass es keinen garantierten Aufwärtstrend gibt, sondern dass da durchaus ein Abgrund lauern kann.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 10.10.2010
    Und so wundert es nicht, dass da plötzlich eine ganze Welle von Sachbüchern auf den Markt schwappt, die sich darum drehen, dass der Mensch "von Natur aus" kein Egoist auf dem Selbstverwirklichungstrip ist, sondern ein altruistisches Gemeinschaftswesen, dem es am besten geht, wenn er freigiebig ist und den anderen zugetan. In einer unsicheren Welt verspricht die Gemeinschaft Schutz und Hilfe, kein Wunder, dass das Thema boomt und volle Kassen verspricht.

    Auch Richard David Precht hat sich des Themas angenommen - und er geht der Frage nach, was denn nun eigentlich ein gutes Leben ist. Außerdem will er durchaus Anregungen geben, was wir in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik besser machen können. Den Anfangspunkt setzt er mit dem griechischen Philosophen Platon - und damit, wie er aus seinem Lehrer Sokrates posthum eine Art Talkshowmaster der Antike gemacht hat, um seine Ansichten über das, was ein gutes Leben ist, unter die Leute zu bringen. Precht folgt Platons Gedankengängen und welche Probleme sie in der real-existierenden Welt aufwerfen, geht dem Bösen nach - und schließlich zieht Precht den Schluss: Ob etwas gut ist oder böse, ist Sache der Interpretation und der sozialen, ökonomischen und politischen Umstände. So wollten wahrscheinlich alle politischen Parteien Deutschlands das Beste für das Land - aber was das Beste ist, darüber kann man streiten.

    Als nächstes tauchen wir ein in die wissenschaftliche Beweisführung, warum wir gerne nett sind. Evolution, Neurobiologe, Soziobiologie - was auf den verschiedensten Forschungsfeldern als Strömung wichtig war und was neu ist, wird mit Philosophie kombiniert, Privates fließt ein und ebenso Historisches: eine fein gewebte Beweisführung, die den Leser als Adressaten nie aus dem Fokus verliert. Folgen muss man Precht im Einzelnen nicht. So bleibt seine Sicht zum Beispiel anthropozentrisch, wenn er den evolutionären Wurzeln des sozialen Miteinanders nachgeht. Irgendwie beschleicht einen der Eindruck, dass er weder etwas vom ausgefeilten Sozialverhalten beispielsweise der Erdmännchen gehört hat, noch je ein Tier beachtet hat. Wie dem auch sei - das Buch fährt fort, uns in der Kunst zu unterrichten, kein Egoist zu sein. Und so erinnert uns Precht daran, dass Geld nicht glücklich macht:

    Schließlich präsentiert der Autor Anstöße für die Rettung der Gesellschaft: eine Konkordanzdemokratie nach Schweizer Vorbild, in der alle Parteien an der Regierung beteiligt sind, statt der "klassischen" Konkurrenzdemokratie, mehr Volksabstimmungen beispielsweise (wobei natürlich, siehe Hamburg, die Frage ist, ob das Volk auch immer so abstimmt, wie es sich die das Gute Wollenden gerade wünschen). Mehr Autonomie für Kommunen fordert er, eine höhere Besteuerung der Gewinne von Dax-Konzernen, die Nichtprivatisierung der Bahn.

    Das Buch fügt "leichthändig" eine bewundernswerte von Fülle von Informationen zusammen. Eines macht es besonders sympathisch: Es kommt erzählerisch daher, nicht wie eine Anfängervorlesung - und so braucht sich niemand weder vor den philosophischen, noch vor den natur- oder gesellschaftswissenschaftlichen Gedankengängen zu fürchten. Allerdings wirkt alles irgendwie wie weichgespült.

    Richard David Precht: Die Kunst, kein Egoist zu sein. Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält
    ISBN: 978-3-442-31218-4
    Goldmann Verlag, 544 Seiten, 19,99 Euro