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Die kurze Geschichte der deutschen Literatur

Mit seinem jüngsten und schlechtesten Buch - es trägt den Titel Die kurze Geschichte der deutschen Literatur - hat der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer bemerkenswerten Erfolg. Er trifft auf überwältigende Zustimmung: endlich sagt's mal einer! Schlaffers frühere brillante Untersuchungen Poesie und Wissen bzw. Faust II - Die Allegorie des neunzehnten Jahrhunderts sind hingegen selbst in Fachkreisen nicht in dem Maße rezipiert wurden, wie sie es verdienen. Erstaunlich ist der Erfolg des Schlechten, Gewöhnlichen und gänzlich Unspektakulären nur selten. Denn er ist psychologisch nur allzu plausibel. Jeder kennt die überwältigende Zustimmung für denjenigen, der in restgebildeten Kreisen Sätze äußert wie "Eigentlich trinke ich lieber Cola als einen teuren Wein" oder "Offen gestanden: ins Fußball-Stadion gehe ich lieber als ins Theater".

Jochen Hörisch | 21.04.2002
    Schlaffer verbreitet sich über die Geschichte der deutschen Literatur ähnlich entwaffnend und reiht eine bekannte Banalität an die andere. Das Schreckliche an Banalitäten aber ist, dass sie zumal dann, wenn sie wie bei Schlaffer mit einem gewissen Schick vorgetragen werden, einen eigentümlichen Sog entfalten - einen Sog, der die angemessene Beantwortung der schlichten Frage erschwert, ob der banale Menschenverstand irrt oder nicht. Die wirklich trivialen bzw. falschen Hauptthesen dafür allzu umfangreichen Buches sind schnell genannt:

    Viel wird geforscht, wenig gelesen. Versteht man unter Nationalliteratur die Gesamtheit der von einer Nationalphilologie herausgegebenen Texte, so ist die Geschichte der deutschen Literatur unübersehbar lang und breit. Versteht man unter Nationalliteratur jedoch den Zusammenhang der im literarischen Gedächtnis lebendigen Werke, so ist die Geschichte der deutschen Literatur überschaubar kurz und konzentriert. (...) Der von den Literaturgeschichten suggerierte Zusammenhang einer deutschen Literatur vom achten Jahrhundert bis zur Gegenwart ist eine erfundene Tradition.

    Die These ist entweder allzu banal oder falsch. Wer hätte denn je ernsthaft behauptet, dass es je anders gewesen sei: dass lesehungrige Massen sich auf mittelalterliche Weltchroniken, Barockdramen und Wezels Geheimbundromane gestürzt haben? Wie seltsam wäre es übrigens, wenn es anders wäre. Die latente Unterstellung, in Italien oder England sei das anders: dort könne man mit jedem Passanten leichthin über Petrarcas Sonette oder Shakespeares Sturm reden, ist von ausgesuchter Höflichkeit gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Wenn man die These von der kurzen Geschichte der deutschen Literatur auf die Zeitstrecke bezieht, die im kollektiven Lesergedächtnis tatsächlich präsent ist, mag sie um den Preis der Banalität angehen. Wenn man sie auf den internen Zusammenhang der deutschsprachigen Literatur bezieht, ist sie unhaltbar. Denn es ist auffallend, wie häufig und intensiv sich die jeweils neuere auf die ältere Literatur bezieht. Nicht nur Richard Wagner greift wirkungsmächtig auf die Edda, das Nibelungenlied, den Tristan- und den Parzival-Stoff sowie den Meistersang zurück. Nicht nur Gottfried Keller hält die Manessische Liederhandschrift für einen Stoff, den zu recyclen sich im 19. Jahrhundert lohnt. Nicht nur Günter Grass knüpft immer wieder an Motive und Schreibweisen der Barockliteratur an. Nicht nur Dieter Kühn interessiert sich für den Herbst des Mittelalters. Stopp: die Liste wird geradezu frappierend lang.

    Schlaffers weitere These ist nicht entweder banal oder falsch, sondern nur falsch. Anders als die Literatur der europäischen Nachbarn sei die deutsche Literatur "weltlos", weil

    dem Kommerz und der Politik entrückt. (...) Wenn nach langer Enthaltsamkeit das englische Pfarrhaus sich im 18. Jahrhundert doch noch der weltlichen Dichtung öffnet, so verhilft ihm die nähere Bekanntschaft mit Gentry, Kaufleuten und Marine zu welthaltigeren Stoffen. In Deutschland dagegen sind die Standesgrenzen des Adels weniger durchlässig, weshalb die Pfarrhäuser isoliert leben und fast nur mit ihresgleichen umgehen. (...) Die Weltlosigkeit der deutschen, dem Kommerz und der Politik entrückten Dichtung war die zuverlässigste Garantie ihrer Autonomie.

    Ähnliches sagen fast alle, die die deutsche Literatur zu kennen vorgeben; allein: es stimmt nicht. Einer der ersten neuzeitlichen und übrigens bemerkenswert weit verbreiteten Romane, der Fortunatus, handelt von nichts anderem als von Geld und Kommerz; eine der erfolgreichsten Novellen, die Geschichte von Peter Schlemihls verkauftem Schatten, greift diesen Stoff auf; um Geld und/oder Wahrheit geht es in Lessings Nathan und in Minna von Barnhelm; die Autonomie der Theaterkunst wird in Goethes Roman Wilhelm Meister einfach dadurch garantiert, dass der Titelheld ein reicher Kaufmannssohn ist; um Kommerz und garstige Politik geht es (wie ausgerechnet Schlaffers großartiges Faust-Buch eindringlich gezeigt hat) vorrangig in Goethes monumentalem Drama; seit 130 Jahren pilgert ein gut verdienendes, um Karten rangelndes Publikum Sommer für Sommer auf den grünen Hügel, um sich dort über einen großangelegten Ringkampf zwischen Sex, Macht und Kommerz anzusehen und anzuhören; die Buddenbrooks sind ein Kaufmannsroman, der seinen Autor früh reich gemacht hat; Königliche Hoheit ist ein VWL-Roman, die Dreigroschenoper ist ... Halt: Sendezeit ist ähnlich knapp wie Geld. Schlaffer irrt in Sachen "Weltlosigkeit der deutschen Literatur" definitiv - was eigenartig ist. Denn die Hauptwerke von Lessing, Goethe, Chamisso, Wagner, Thomas Mann und Brecht sind keine Geheimtipps.

    Auch literaturwissenschaftliche Streitfragen lassen sich ab und an verbindlich entscheiden: auch die deutschen Schriftsteller denken, interessanter Weise noch dann, wenn sie so innerlich abheben wie jüngst Handke in seinem Roman Der Bildverlust, zwar nicht nur, aber doch immer auch vorrangig an das Eine: an Geld und Kommerz oder an eine Finanzfürstin, die sich einen Autor kaufen kann. Die deutsche Literatur, so die erweiterte Behauptung Schlaffers, sei dunkler, schwieriger sowie stärker an kulturellen Höhenflügen und Aufschwüngen ins Transzendente interessiert als die anderen Nationalliteraturen. Dafür mangele es ihr an Unterhaltsamkeit. Originell, mit Verlaub, ist auch diese These nicht. Ein nicht ganz unbekannter Literaturkritiker braucht mit ihr nicht hausieren zu gehen, weil dem eh alle zustimmen. Ob die These stimmt: ob Thomas Mann innerlicher und kulturbeflissener schreibt als seine Zeitgenossen Joyce oder Proust; ob Kellers Prosa dunkler ist als die von Dostojewski; ob Kleists Novellen weniger unterhaltsam und spannend sind als die Texte von Byron oder Nerval - das ist nicht etwa zweifelhaft, sondern klar mit einem Wort zu beantworten: nein. Vielleicht empfiehlt es sich doch, nicht ganz so schnell Klischées zu bedienen, wie Schlaffer es seltsam enthemmt tut.

    Die deutsche Literatur um 1800, so heißt es bei Schlaffer weiter, sei durch den Protestantismus geprägt, die um 1900 sei vorrangig von katholischen bzw. deutsch-jüdischen Schriftstellern hervorgebracht: Für einen "deutschen Dichter" des 18. Jahrhunderts ist es

    typisch .... aus einem Pfarrhaus zu stammen, wie ... Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Schubart, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Hölty, Lenz, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Eine Liste ähnlich bedeutender Autoren, die zwischen 1730 und 1800 tätig, aber keine Pfarrersöhne waren, fiele kürzer aus. Aber auch sie - darunter Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin - waren alle protestantisch, also durch die von der evangelischen Kirche beaufsichtigten Schulen und Lektüren hindurchgegangen. [...] In Deutschland sind die Dichter (um 1800) fromm im doppelten Sinne: Sie reden gerne - wie Klopstock, Hölderlin, Novalis - in der Sprache der christlichen Mythologie von letzten Wahrheiten, für die eigentlich Theologen zuständig wären, und sie fügen sich, so gut es geht, fromm den Forderungen von Amt, Gemeinde und Familie.

    Um 1900 aber dominieren Katholiken und Juden die deutsche Literatur:

    Der Auftritt der modernen deutschen Literatur ... ist an eine überraschende Topographie gebunden, an zwei Städte, die bis ins 19. Jahrhundert keine größere Rolle n der deutschen Literaturgeschichte gespielt haben: Wien und Prag. Es sind katholische Städte mit einer jüdischen Minderheit. Vor dieser geographischen Verlagerung war die deutsche Literatur eine Angelegenheit des protestantischen Nordens gewesen, nun kommen die wichtigsten Autoren aus einer katholischen oder jüdischen Umgebung im Süden.

    Was daran "überraschend" sein soll, ist schwer nachzuvollziehen. Meines Wissens hat vor Schlaffer niemand behauptet, die deutschsprachige Literatur um 1800 stamme überwiegend aus der Feder von Buddhisten, die um 1900 zumeist aus den Schreibmaschinen von Schamanen. Über Wien und Prag als Orte, da die ästhetische Moderne entsteht, gibt es mehrere tausend Publikationen. Dergleichen nochmals zu betonen, ist so erhellend, wie darauf hinzuweisen, dass die Welt keine Scheibe ist. Nach der Formel vom Abstieg des Adels und vom Aufstieg des Bürgertums, die Schlaffer übrigens auch gerne so verwendet, als erhelle sie noch Unbekanntes, handelt es sich um die zweitgrößte Trivialität, die die Germanistik zu bieten hat. Als Eichendorff sie vortrug und Heine sie variierte, hatte sie noch Sprengkraft; Albrecht Schöne hat sie anspruchsvoll und detailliert durchdekliniert. Also: halbwegs einverstanden, auch Trivialitäten können wahr sein, aber diese These ist so aufregend wie die Feststellung, Literatur werde zumeist von denen geschrieben, die ein Problem mit ihrer Zeit und/oder sich selbst haben. Weiterführend als diese Feststellung könnten Problematisierungen wie diese sein: Die Erfolgsschriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nämlich Thomas Mann, Heinrich Mann und Hermann Hesse waren Protestanten (im Fall Hesses sogar militant pietistischer Prägung). Mit ihren katholisch oder deutschjüdisch geprägten zeitgenössischen Schriftstellerkollegen wie Trakl, Hofmannsthal, Musil, Broch und Kafka (um nur sie zu nennen) haben sie eine signifikante Gemeinsamkeit: sie alle stehen im Bann Nietzsches (dessen Rolle und Einfluss Schlaffer völlig unterbelichtet): gibt es so etwas wie divergente (etwa norddeutsch-protestantische, katholische und deuschjüdische) Nietzsche-Rezeption?

    Mit Reich-Ranickis populistischen bis tertiär-analphabetischen Verdikten gegen die Nachkriegsliteratur ist Schlaffer völlig einverstanden:

    Kritiker, Literaturhistoriker und sogar die Schriftsteller selbst werden kaum dem Urteil widersprechen, dass die deutsche Literatur der letzten fünfzig Jahre weder dem Vergleich mit der gleichzeitigen internationalen noch dem mit der früheren nationalen Literatur standzuhalten vermag.

    Die Formulierung gibt immerhin der Ahnung Ausdruck, dass sich der, der sie formuliert, nicht gerade durch Außenseiterthesen profiliert - auch in diesem Punkte segelt Schlaffer auffallend unprovokant im jubelnden mainstream. Allein: auch die These von der kurzen Geschichte der deutschen Literatur, die gerade mal vom Werther bis zu Thomas Manns Tod reiche, ist grundfalsch - wie der gesamte Essay. Schlaffer macht all den faulen Ungeistern ein gutes Gewissen, die die deutschsprachige Literatur des letzten halben Jahrhunderts nicht lesen. Klüger wird man durch diese Aktualitäts-Verweigerung nicht. Die Argumente (die mit ressentimentgeladener Verurteilungslust nicht verwechselt werden dürfen) möchte man nun wirklich mal erfahren - die Argumente nämlich, die nachweisen, dass die Lyrik Celans oder Grünbeins formal weniger souverän und thematisch-reflexiv weniger aufschlussreich ist als die von Hölderlin oder Mörike, dass das Marat-Drama von Peter Weiss oder ein gelungenes Botho-Strauß-Stück (es gibt auch gründlich misslungene: wir sollten Texte und nicht Autoren schätzen - ob sie Goethe oder Handke heißen) weniger zu faszinieren vermag und weniger zu denken veranlasst als der Fiesco, dass Sebalds oder Jirgls Romane (um von Homo faber, den Jahrestagen und Wunschlosem Unglück zu schweigen) das Niveau unterbieten, das mit Ahnung und Gegenwart erreicht wurde. Die Gegenwartsliteratur ist um Klassen besser als ihr Ruf. Sie hat kein Qualitäts-, sondern eher ein Quantitätsproblem: es gibt zuviel des Guten. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist überreich. Dass es des Schlechten zuviel gibt, ist eine Trivialität, die immer erneut unter lautem Beifall auszusprechen nicht sehr originell ist. Dass ein so gebildeter und gescheiter Kopf wie Heinz Schlaffer sich den populären Irrlehren und Dorfrichter-Adam-Urteilen von Reich-Ranicki und tutti quanti anschließt, hat einen Grund, der endlich einmal entschieden diskutiert werden sollte: die universitäre Literaturwissenschaft weiß offenbar nicht mehr, wozu sie eigentlich dient. Auch deshalb neigt sie häufig dazu, ihr Problem zum Problem ihres Gegenstandes (also zu dem der sogenannten schönen Literatur) zu erklären. Schlaffer argumentiert verblüffend naiv: wenn nur Spezialisten noch Literatur vor 1770 und nach 1950 rezipieren und nur noch für Spezialisten publizieren, so könne man das Geschäft der Literaturwissenschaft gleich sein lassen. Denn dieses in der Tat seltsame Fach habe nur dann einen Sinn, wenn es zumindest die Studienräte für Deutsch, besser aber noch ein Massenpublikum erreiche. Sollte Schlaffer da an die seligen Zeiten von Emil Staiger und Wolfgang Kayser denken, die große Literatur systematisch auf das Niveau des ungesunden Menschenverstandes herunterinterpretiert haben, auf dem, er, Schlaffer, sich offenbar nun auch wohlfühlt? Das wäre zu schrecklich. Wie immer auch: Schlaffers Pseudo-Argument erinnert an Auto- oder Restaurant-Tester, die darauf verzichten, sehr teure Wagen und Luxusrestaurants zu ergründen - mit dem Hinweis, die seien doch nur für sehr wenige bezahlbar. Den Stand avancierter Ingenieurs- oder Kochkunst wird man dann nicht in den Blick bekommen.

    Schlaffers Essay ist ähnlich blind - und zwar genau in dem Maße, in dem er von der Attitude lebt, etwas zu sehen, was bislang nicht gesehen wurde. In einem klugen Aufsatz hat Schlaffer einmal nachgewiesen, wie noch eine der besseren Lyrik-Interpretationen von Emil Staiger, nämlich die des Mörike-Gedichts Auf eine Lampe, Entscheidendes schlicht nicht zur Kenntnis nimmt. Mörikes erhellendes Gedicht handelt zumindest auch von einem "Lustgemach" und der Liebeskunst, die in ihm statthat. Staiger aber will dieses Faktum (um einen wienerische Wendung zu bemühen) nicht einmal ignorieren. Er interpretiert Mörikes ars-amandi-Zeilen ausschließlich als ein Gedicht, dem es um Probleme der Poetik, der Ästhetik und näherhin um den Doppelsinn im Wort "scheinen" geht. Deutlich machen konnte Schlaffers Kritik an Staigers berühmter Interpretation, wie sehr das literaturwissenschaftliche Geschäft in der Gefahr steht, die Texte, die sie anspruchsvoll zu verstehen vorgibt, gerade umgekehrt zu verdecken. So verfährt er nun selbst: aus Trivialitäten, aus der Kunst der Ignoranz und aus schlichten Falschheiten mischt er sich seine Geschichte der deutschen Literatur zusammen, die immerhin 158 Seiten zu lang ist. Auf paradoxe Weise hat Schlaffer denn doch Recht: wenn die deutsche Literatur so wäre, wie er sie sich zurechtschreibt, brauchte man seine knappe Lebenszeit nicht in Form von Lesezeit durchzubringen. Und wenn gute Literaturwissenschaft so aussähe wie die, die Schlaffer hier vorexerziert, wäre es einfach nur richtig, den sogenannten Geisteswissenschaften keine einzige Träne nachzuweinen.

    Jedoch - auch wenn es Fach-arrogant klingen mag: es gibt hochrelevante literaturwissenschafliche Forschungsfelder, die nicht von vornherein massentauglich sind, die aber durch eine geglückte Literaturwissenschaft öffentlich werden könnten. Welche Themenfelder? Eben die, über die schöne Literatur aufschlussreiches und rekonstruktionswertes Wissen bereithält. Literatur erfreut nicht bloß, sie ist auch ein dissidenter Wissensspeicher (wie Schlaffer, als er Poesie und Wissen schrieb, einmal ahnte und wie jüngst Enzensbergers Elixiere der Wissenschaft wieder herausgestellt haben). Literatur weiß sehr viel, was Fachdisziplinen wie Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Politologie, Medizin, Jurisprudenz und durchaus auch Genetik häufig genug entgeht: z.B. wie Konflikte eskalieren und möglicherweise gelöst werden können (Beispiel Nathan), wie Geld funktioniert (Faust II oder Königliche Hoheit), welche Pathogenese die Anorexie haben kann (Ottilie in den Wahlverwandtschaften ist bekanntlich magersüchtig), wie die spezifische Un-Logik von Partisanenkriegen verfasst ist (Kleists gesamtes Werk), wie es zur Implosion von Großreichen kommen kann (Jirgls Romane). Literatur kann durchaus auch bei hardcore-Wissenschaften mitreden, ohne sich zu blamieren. Sie kann z.B. ein sehr relevantes Wissen davon haben, dass der dechiffriere Gencode sowenig "das Leben" ist wie eine Partitur mit erklingender Musik verwechselt werden darf (Grünbeins Lyrik).

    Natürlich wäre es schlicht albern, schöne Literatur mit wissenschaftlicher Literatur gleichzusetzen. Belletristik beharrt ja mit charmanter Sturheit auf ihrer spezifischen Differenz: nämlich der, ihre Aussagen nicht aufgrund des wissenschaftlichen Codes richtig / falsch, sondern vielmehr aufgrund des ästhetischen Codes stimmig/unstimmig zu machen. Gerade weil sich die schöne Literatur diesem sehr exquisiten und luxuriösen Code verschrieben hat, kann sie Vertrautes alternativ beobachten und bemerkenswert verlässlich ihre genuine Erkenntnisleistung bereitstellen: alternative Realitätsversionen. Dann stellt sie Einsichten wie diese zur Diskussion: der König hat doch gar nichts an; die DDR wird - anders als von der "wissenschaftlichen" DDR-Forschung behauptet - nicht alt werden; Magersüchtige kommen mit dem Problem nicht zurecht, dass ihr Mund so viele Funktionen hat (sprechen, essen, atmen, küssen); die kultische Dimension von Technik bestimmt die Forschungslogik etc. Spannende, diskussionsbedürftige, aber eben auch diskussionswürdige Thesen zu Hauf. Eine Wissensgesellschaft, die langsam einzusehen beginnt, wie ausgerechnet ihr zentrales Gut: eben verlässliches Wissen, erodiert, kann es sich gar nicht leisten, mit dem dissidenten Wissensspeicher der schönen Literatur fahrlässig umzugehen.

    Es gibt unwichtigere Leistungen als die einer Literaturwissenschaft, deren Aufgabe es ist, die von Fachstandards und sog. gesundem Menschenverstand gleich weit entfernten "sachlich" relevanten Einsichten von schöner Literatur zu rekonstruieren und (um den unschönen, aber präzisen Begriff von Luhmann zu gebrauchen) für Sachdiskussionen "anschlussfähig" zu machen. Dass die Literaturwissenschaft nur selten auf der Höhe dieser ihrer Möglichkeiten ist, steht auf einem anderen Blatt. Literaturwissenschaft hat besseres zu tun als herauszufinden, wie Goethe sich fühlte, als er "Es schlug mein Herz" dichtete, als zu dekretieren, dass nach der Spätromantik der Realismus kam, als zu erforschen, wie Thomas Mann von Goethe beeinflusst war, als zu betrauern, dass immer weniger gelesen wird. Die Literaturwissenschaft selbst muss endlich lernen, die relevanten Fragen zu stellen. Und sie muss lesen lernen - wirklich lesen lernen. Schlaffers Essay mag süffig geschrieben sein - kluge Lektüren deutschsprachiger Literatur liegen ihm nicht zugrunde. Die Empfehlung an geneigte LeserInnen lautet: statt dessen im Faust lesen, in Nietzsches Aphorismen lesen, im Grünen Heinrich lesen, in Königlicher Hoheit lesen - und überlegen, ob das, was Schlaffer über das Wesen frommer deutscher Literatur-Innerlichkeit sagt, stimmt. Es stimmt nicht - aber die genannten Werke sind in sich von so überwältigender Stimmigkeit, das man die von Schlaffer ausgetriebene Leselust schnell wiederfindet.